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Full text of "Sämtliche Werke;"

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GOETHES 

SÄMTLICHE  WERKE 
BAND  XIV 


g,^C)C^G.»2. 


GOETHES 

LYRISCHE  UND 
EPISCHE 

DICHTUNGEN 
BANDI 


LEIPZIG 
IM  INSELVERIAG 


LYRISCHE 
DICHTUNGEN 


1756-1765  FRANKFURT 


[An  die  Grofidtera  Textor] 

Bei  dem  erfraäUhm  Anbruche 
Des  1757.  Jahres 
wollte 
Semen 
Hochgeehrtesten  und  Herzüchgeüebten 
Groß-EÜem 
Die  Gesinnungen  Kindlicher  Hoch- 
achtung und  Liebe 
durch 
Folgende  Segens- Wunsche 
XU  erkennen  geben 
Deroselben 
Treugehorsamster  Enkel 
Johann  Wolfgang  Goethe. 

ERHABNER  Groß-Papa!     Em  Neues  Jahr  erscheint, 
Dmin  muß  ich  meine  Pflicht  und  Schuldigkeit  entrichten, 
Die  ESirftircht  heißt  mich  hier  aus  reinem  Herzen  dichten, 
So  schlecht  es  aber  ist,  so  gut  ist  es  gemeint. 
Gott,  der  die  Zeit  erneut,  emenre  auch  Ihr  Glfick, 
Und  kröne  Sie  dies  Jahr  mit  stetem  Wohlergehen; 
Ihr  Wohlsein  müsse  lang  so  fest  wie  Zedern  stehen, 
Ihr  Tun  b^leite  stets  ein  günstiges  Geschick; 
Ihr  Haus  sei  wie  bisher  des  Segens  Sammelplatz, 
Und  lasse  Sie  noch  spät  Möninens  Ruder  fuhren, 
Gesundheit  müsse  Sie  bis  an  Ihr  Ende  zieren, 
Dann  diese  ist  gewiß  der  allergrößte  Schatz. 

Erhabne  Groß-Mama!  Des  Jahres  erster  Tag 

Erweckt  in  meiner  Brust  ein  zärtliches  Empfinden, 
Und  heißt  mich  ebenfialls  Sie  jetzo  anzubinden 
Mit  Versen,  die  vielleicht  kein  Kenner  lesen  mag; 
Indessen  hören  .S^  die  schlechte  Zeilen  an, 
Indem  sie  wie  mein  Wunsch  aus  wahrer  Liebe  fließen. 
Der  Segen  müsse  sich  heut  über  Sie  ergießen. 
Der  Höchste  schütze  Sie,  wie  Er  bisher  getan. 
Ejt  wolle  Ihnen  stets,  was  Sie  sich  wünschen,  geben. 
Und  lasse  Sie  noch  oft  ein  Neues  Jahr  erleben. 
Dies  sind  die  Erstlinge,  die  Sie  andient  empfangen, 
Die  Feder  wird  hinfort  mehr  Fertigkeit  erlangen. 


12  LYRISCHE  DICHTUNGEN 


(An  die  Großeltern  Textor] 

Bei 

diesem  neuen  Jahres  Wechsel 

überreichet 

Seinen 

Verehrungswürdigen 

Groß-Eltern 

dieses  Opfer 

aus  kindlicher  Hochachtung 

Joh.  Wolfg.  Goethe 

den  I.  Jenner  1^62. 

GRO SS-Eltern,  da  dies  Jahr  heut  seinen  Anfang  nimmt, 
So  nehmt  auch  dieses  an,  das  ich  vor  Euch  bestimmt, 
Und  ob  Apollo  schon  mir  nicht  geneigt  gewesen, 
So  würdiget  es  doch  nur  einmal  durchzulesen. 
Ich  wünsch  aus  kindlichem  gehorsamen  Gemüte 
Euch  alles  Glück  und  Heil  von  Gottes  Hand  und  Güte, 
Sein  guter  Engel  sei  bei  Euch  in  aller  Zeit. 
Er  geb  Euch  das  Geleit  in  Widerwärtigkeit, 
Sowohl  als  in  dem  Glück,  tmd  laß  Euch  lang  noch  leben, 
Daß  Ihr  Urenklen  noch  den  Segen  könnet  geben. 
Dies  schreibt  der  älteste  von  Eurer  Töchter  Söhnen, 
Um  sich  auch  nach  und  nach  zu  denken  angewöhnen, 
Und  zeigt  ingleichen  hier  mit  diesen  Zeilen  an. 
Was  er  dies  Jahr  hindurch  im  Schreiben  hat  getan. 
Wenn  mich  bis  übers  Jahr  die  Parzen  schonen  täten. 
Wie  gerne  wollt  ich  denn  mit  fremder  Zunge  reden. 


1756/65  FRANKFURT  13 

POETISCHE  GEDANKEN 

ÜBER  DIE 

HÖLLENFAHRT  JESU  CHRISTL 

AUF  VERLANGEN  ENTWORFEN 

VON 

J.W.  G. 

WELCH  ungewöhnliches  Getümmel! 
Ein  Jauchzen  tönet  durch  die  Himmel. 
Ein  großes  Heer  zieht  herrlich  fort. 
Gefolgt  von  tausend  Millionen, 
Steigt  Gottes  Sohn  von  seinen  Thronen 
Und  eilt  an  jenen  finstern  Ort. 
Er  eilt,  umgeben  von  Gewittern; 
Als  Richter  kommt  Er  und  als  Held. 
Er  geht,  und  alle  Sterne  zittern. 
Die  Sonne  bebt.  Es  bebt  die  Welt. 

Ich  seh  Ihn  auf  dem  Siegeswagen, 
Von  Feuerrädern  fortgetragen, 
Den,  der  für  uns  am  Kreuze  starb. 
Er  zeigt  den  Sieg  auch  jenen  Fernen, 
Weit  von  der  Welt,  weit  von  den  Sternen, 
Den  Sieg,  den  Er  für  uns  erwarb. 
Er  kommt,  die  Hölle  zu  zerstören. 
Die  schon  Sein  Tod  darniederschlug; 
Sie  soll  von  Ihm  ihr  Urteil  hören. 
Hört!  Jetzt  erfüllet  sich  der  Fluch. 

Die  Hölle  sieht  den  Sieger  kommen, 
Sie  fühlt  sich  ihre  Macht  genommen. 
Sie  bebt  und  scheut  Sein  Angesicht. 
Sie  kennet  Seines  Donners  Schrecken. 
Sie  sucht  umsonst  sich  zu  verstecken. 
Sie  sucht  zu  niehn  und  kann  es  nicht. 
Sie  eilt  vergebens,  sich  zu  retten 
Und  sich  dem  Richter  zu  entziehn. 
Der  Zorn  des  Herrn,  gleich  ehmen  Ketten, 
Hält  ihren  Fuß,  sie  kann  nicht  fliehn. 


14  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Hier  lieget  der  zertretne  Drache, 
Er  liegt  und  fühlt  des  Höchsten  Rache, 
Er  fühlet  sie  und  knirscht  vor  Wut. 
Er  fühlt  der  ganzen  Hölle  Qualen, 
Er  ächzt  und  heult  bei  tausend  Malen: 
Vernichte  mich,  o  heiße  Glut! 
Da  liegt  er  in  dem  Flammen -Meere, 
Ihn  foltern  ewig  Angst  und  Pein. 
Er  flucht,  daß  ihn  die  Qual  verzehre. 
Und  hört,  die  Qual  soll  ewig  sein. 

Auch  hier  sind  jene  große  Scharen, 

Die  mit  ihm  gleichen  Lasters  waren, 

Doch  lange  nicht  so  bös  als  er. 

Hier  liegt  die  imgezählte  Menge, 

In  schwarzem,  schröcklichen  Gedränge, 

Im  Feuer-Orkan  um  ihn  her. 

Er  sieht,  wie  sie  den  Richter  scheuen, 

Er  sieht,  wie  sie  der  Sturm  zerfrißt. 

Er  siehts  und  kann  sich  doch  nicht  freuen. 

Weil  seine  Pein  noch  größer  ist. 

Des  Menschen  Sohn  steigt  im  Triumphe 
Hinab  zum  schwarzen  Höllen -Sumpfe 
Und  zeigt  dort  Seine  Herrlichkeit. 
Die  Hölle  kann  den  Glanz  nicht  tragen, 
Seit  ihren  ersten  Schöpfungs- Tagen 
Beherrschte  sie  die  Dunkelheit. 
Sie  lag  entfernt  von  allem  Lichte, 
Erfüllt  von  Qual  im  Chaos  hier. 
Den  Strahl  von  Seinem  Angesichte 
Verwandte  Gott  auf  stets  von  ihr. 

Jetzt  siebet  sie  in  ihren  Grenzen 
Die  Herrlichkeit  des  Sohnes  glänzen. 
Die  fürchterliche  Majestät. 
Sie  sieht  mit  Donnern  Ihn  umgeben, 
Sie  sieht,  daß  alle  Felsen  beben. 
Wie  Gott  im  Grimme  vor  ihr  steht. 


1756/65  FRANKFURT 

Sie  siehts:  Er  kommet,  sie  zu  richten, 
Sie  fiihlt  den  Schmerzen,  der  sie  plagt; 
Sie  wünscht  umsonst,  sich  zu  vernichten. 
Auch  dieser  Trost  bleibt  ihr  versagt. 

Nun  denkt  sie  an  ihr  altes  Glücke, 
Voll  Pein  an  jene  Zeit  zurücke, 
Da  dieser  Glanz  ihr  Lust  gebar; 
Da  noch  ihr  Herz  im  Stand  der  Tugend, 
Ihr  froher  Geist  in  frischer  Jugend 
Und  stets  voll  neuer  Wonne  war. 
Sie  denkt  mit  Wut  an  ihr  Verbrechen, 
Wie  sie  die  Menschen  kühn  betrog. 
Sie  dachte  sich  an  Gott  zu  rächen, 
Jetzt  fühlt  sie,  was  es  nach  sich  zog. 

Gott  ward  ein  Mensch.  Er  kam  auf  Erden. 

Auch  Dieser  soll  mein  Opfer  werden, 

Sprach  Satanas  imd  freute  sich. 

Er  suchte  Christum  zu  verderben, 

Der  Welten  Schöpfer  sollte  sterben. 

Doch  weh  dir,  Satan,  ewiglich! 

Du  glaubtest.  Ihn  zu  überwinden, 

Du  freutest  dich  bei  Seiner  Not. 

Doch  siegreich  kommt  Er,  dich  zu  binden. 

Wo  ist  dein  Stachel  hin,  o!  Tod? 

Sprich,  Hölle!  Sprich,  wo  ist  dein  Siegen? 
Sieh  nur,  wie  deine  Mächte  liegen. 
Erkennst  du  bald  des  Höchsten  Macht? 
Sieh,  Satan!  Sieh  dein  Reich  zerstöret. 
Von  tausendfacher  Qual  beschweret, 
Liegst  du  in  ewig  finstrer  Nacht. 
Da  liegst  du  wie  vom  Blitz  getroffen. 
Kein  Schein  vom  Glück  erfreuet  dich. 
Es  ist  umsonst.  Du  darfst  nichts  hoffen, 
Messias  starb  allein  für  mich! 

Es  steigt  ein  Hexilen  diu-ch  die  Lüfte, 
Schnell  wanken  jene  schwarze  Grüfte, 


15 


i6  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Als  Christus  Sich  der  Hölle  zeigt. 
Sie  knirscht  aus  Wut;  doch  ihrem  Wüten 
Kann  unser  großer  Held  gebieten; 
Er  winkt,  die  ganze  Hölle  schweigt. 
Der  Donner  rollt  vor  Seiner  Stimme. 
Die  hohe  Siegesfahne  weht. 
Selbst  Engel  zittern  vor  dem  Grimme, 
Wann  Christus  zum  Gerichte  geht. 

Jetzt  spricht  Er;  Donner  ist  Sein  Sprechen, 
Er  spricht,  und  alle  Felsen  brechen. 
Sein  Atem  ist  dem  Feuer  gleich. 
So  spricht  Er:  Zittert,  ihr  Verruchte! 
Der,  der  in  Eden  euch  verfluchte, 
Kommt  und  zerstöret  euer  Reich. 
Seht  auf!  Ihr  wäret  Meine  Kinder, 
Ihr  habt  euch  wider  Mich  empört. 
Ihr  fielt  und  wurdet  freche  Sünder, 
Ihr  habt  den  Lohn,  der  euch  gehört. 

Ihr  wurdet  Meine  größten  Feinde, 
Verführtet  Meine  liebsten  Freunde. 
Die  Menschen  fielen  so  wie  ihr. 
Ihr  wolltet  ewig  sie  verderben, 
Des  Todes  sollten  alle  sterben, 
Doch,  heulet!  Ich  erwarb  sie  Mir. 
Für  sie  bin  Ich  herabgegangen, 
Ich  litt,  Ich  bat.  Ich  starb  für  sie. 
Ihr  sollt  nicht  euren  Zweck  erlangen. 
Wer  an  Mich  glaubt,  der  stirbet  nie. 

Hier  lieget  ihr  in  ewgen  Ketten, 

Nichts  kann  euch  aus  dem  Pfuhl  erretten. 

Nicht  Reue,  nicht  Verwegenheit. 

Da  liegt,  krümmt  euch  in  Schwefel-Flammen! 

Ihr  eiltet,  euch  selbst  zu  verdammen. 

Da  liegt  und  klagt  in  Ewigkeit! 

Auch  ihr,  so  Ich  Mir  auserkoren. 

Auch  ihr  verscherztet  Meine  Huld; 


1756/65  FRANKFURT  17 

Auch  ihr  seid  ewiglich  verloren. 
Ihr  murret?  Gebt  Mir  keine  Schuld. 

Ihr  solltet  ewig  mit  Mir  leben, 
Euch  ward  hierzu  Mein  Wort  gegeben, 
Dir  sündigtet  und  folgtet  nicht. 
Ihr  lebtet  in  dem  Sünden- Schlafe. 
Nun  quält  euch  die  gerechte  Strafe, 
Ihr  fühlt  Mein  schreckliches  Gericht. — 
So  sprach  Er,  und  ein  furchtbar  Wetter 
Geht  von  Ihm  aus.  Die  Blitze  glühn. 
Der  Donner  faßt  die  Übertreter 
Und  stürzt  sie  in  den  Abgrund  hin. 

Der  Gott- Mensch  schHeßt  der  Höllen  Pforten, 

Er  schwingt  Sich  aus  den  dunklen  Orten 

In  Seine  Herrlichkeit  zurück. 

Er  sitzet  an  des  Vaters  Seiten, 

Er  will  noch  immer  für  uns  streiten. 

Er  wills!  O,  Freunde!  Welches  Glück? 

Der  Engel  feierliche  Chöre, 

Die  jauchzen  vor  dem  großen  Gott, 

Daß  es  die  ganze  Schöpfung  höre: 

Groß  ist  der  Herr  Gott  Zebaothl 


[\'^on  Goethe?] 

ICH  möcht  mich,  könnt  ich  nur,  zu  einem  Stutzer  machen, 
Denn  man  gefällt  sonst  nicht.  Es  ist  nun  so  die  Zeit. 
Doch  fehlet  mir  noch  viel,  ein  bißch ön  Artigkeit, 
Ein  feiner  Witz,  ein  Scherz  imd  tausend  andre  Sachen. 
Ich  kann  das  Tändeln  nicht,  nicht  scherzen  und  nichtlachen. 
Da  sieh  nur  meinen  Rock,  ach!  der  ist  viel  zu  weit, 
Die  Weste  gar  zu  lang,  mein  Hut  erschrecklich  breit, 
Ich  kann  kein  Pharao,  nicht  damen  und  nicht  schachen. 
Das  Frauenzimmer,  Freund,  weiß  ich  nicht  recht  zu  führen. 
Nimmt  man  den  Handschuh  denn,  wie  sonst  noch  in  die 

Hand? 
Mir  fehlt  ein  kleiner  Hut,  mir  fehlt  ein  Degenband, 

GOETHE  XIV  a. 


i8  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Es  mangelt  mir  sogar  an  Flüchen  und  an  Schwüren. 
Wie  lern  ich  alles  dies?  Ist  es  dir  nicht  bekannt? 
Ein  süßer  Herr  zu  sein,  verlier  nur  den  Verstand. 

— e. 

DER  AUTOR 

[Von  Goethe?] 

WENN  in  den  ersten  Augenblicken, 
Da  kaum  ein  Jüngling  schreibt,  Kritiken 
Den  nahen  Fall  ihm  prophezein, 
Da  mag  ich  nicht  ein  Autor  sein. 
Doch,  lobt  man  ihn  nach  seinen  Jahren, 
Und  spornt  ihn  an  so  fortzufahren, 
Mischt  man  auch  gleichwohl  Tadel  ein, 
Dann  möcht  ich  gern  ein  Autor  sein. 

Wenn  mich  ein  dummer  Mensch  erhöhet. 
Der  nichts  von  meiner  Schrift  verstehet. 
Und  spricht:  ich  schreibe  witzig,  fein, 
Da  mag  ich  nicht  ein  Autor  sein. 
Wenn  aber  Kluge  sich  verbinden. 
Die  Fehler  meines  Werks  zu  finden. 
Und  macht  mich  auch  ihr  Tadel  klein, 
Da  möcht  ich  doch  ein  Autor  sein. 

Wenn  unsre  schlechte  teutsche  Bühnen 
Sich  noch  des  Lipperleins  bedienen, 
Ist  Buffon,  Harlekin  darein, 
Da  mag  ich  nicht  ein  Autor  sein. 
Doch  wenn  in  echten  Trauerspielen 
Wir  nachgeahmte  Schmerzen  fühlen, 
Nimmt  uns  die  Sara  Samson  ein, 
Da  möcht  ich  so  ein  Autor  sein. 

Wenn  S.  stolz  Epopeen  machet, 
Daß  jeder,  statt  zu  weinen,  lachet, 
Rühmt  ihn  gleich  G.  als  schön,  als  rein, 
Da  mag  ich  nicht  ein  Autor  sein. 


1756/65  FRANKFURT 

Doch  wenn  ich  im  Virgil  gelesen, 

Und  sehe,  daß  er  groß  gewesen. 

Dann  denkt  mein  Geist  voll  Gram  und  Pein: 

Ach!  so  kein  Autor  kannst  du  sein. 


19 


Wenn  junge  Herren,  die  nichts  denken, 

Mir  ihren  ganzen  Beifall  schenken. 

Und  immer  "Artig,  artig"  schrein, 

Da  mag  ich  doch  kein  Autor  sein. 

Doch  wenn  mich  kluge  Mädchen  preisen 

Und  meine  Schriften  rührend  heißen, 

Da  nimmt  mich  schnell  die  Schreibsucht  ein. 

Da  möcht  ich  gleich  ein  Autor  sein. 

e. 


[In  das  Stammbuch  von  Friedrich  Maximilian  Moors] 

DIESES  ist  das  Bild  der  Welt, 
Die  man  für  die  beste  hält: 
Fast  wie  eine  Mördergrube, 
Fast  wie  eines  Bmschen  Stube, 
Fast  so  wie  ein  Opernhaus, 
Fast  wie  ein  Magisterschmaus, 
Fast  wie  Köpfe  von  Poeten, 
Fast  wie  schöne  Raritäten, 
Fast  wie  abgesetztes  Geld 
Sieht  sie  aus,  die  beste  Welt. 

(Risum  teneatis  amicil  Horatius.) 


Es  hat  der  Autor,  wenn  er  schreibt, 
So  was  Gewisses,  das  ihn  treibt. 
Der  Trieb  zog  auch  den  Alexander 
Und  alle  Helden  miteinander. 
Drum  schreib  ich  auch  allhier  mich  ein: 
Ich  möcht  nicht  gern  vergessen  sein. 
Frankfurt  am  Main  Goethe 

den  28.  August  1765.  d.  s.  W.  Liebhaber. 


Di 


LYRISCHE  DICHTUNGEN 

[In  das  güldne  Schatzkästlein  der  Mutter] 

|AS  ist  mein  Leib,  nehmt  hin  und  esset. 
Das  ist  mein  Blut,  nehmt  hin  und  trinkt. 
Auf  daß  ihr  meiner  nicht  vergesset, 
Auf  daß  nicht  euer  Glaube  sinkt. 
Bei  diesem  Wein,  bei  diesem  Brot 
Erinnert  euch  an  meinen  Tod. 

Zum  Zeichen  der  Hochachtung 
und  Ehrfurcht  setzte  dieses 
seiner  gehebtesten  Mutter 
Frankfurt 
den  30.  September  1765.  J.  W.  Goethe. 


1765-1768  LEIPZIG 


[Aus  einem  Briefe  an  Riese] 

Ich  lebe  hier  wie — wie — ich  weiß  selbst  nicht  recht  wie.  Doch  so 
ohn  gefähr 

SO  wie  ein  Vogel,  der  auf  einem  Ast 
Im  schönsten  Wald  sich,  Freiheit  atmend,  wiegt, 
Der  ungestört  die  sanfte  Lust  genießt, 
Mit  seinen  Fittichen  von  Baum  zu  Baum, 
Von  Busch  auf  Busch  sich  singend  hinzuschwingen. 


[Aus  einem  Briefe  an  Riese] 

DIE  Versart,  die  dem  Mädchen  wohl  gefiel. 
Der  ich  allein,  Freund!  zu  gefallen  wünschte, 
Die  Versart,  die  der  große  Schlegel  selbst 
Und  meist  die  Kritiker  fürs  Trauerspiel 
Die  schicklichste  und  die  bequemste  halten, 
Die  Versart,  die  den  meisten  nicht  gefällt, 
Den  meisten,  deren  Ohr  sechsfüßige 
Alexandriner  noch  gewohnt,  Freund!  die, 
Die  ists,  die  ich  erwählt,  mein  Trauerspiel 
Zu  enden.  Doch  was  schreib  ich  viel  davon! 
Die  Ohren  gellten  dir  gar  manchesmal 
Von  meinen  Versen  wider;  drum,  mein  Freund, 
Erzähl  ich  dir  was  Angenehmeres. 
Ich  schaute  Gelierten,  Gottscheden  auch, 
Und  eile  jetzt  sie  treu  dir  zu  beschreiben. 

Gottsched,  ein  Mann,  so  groß,  als  war  er  vom  alten  Ge- 
schlechte 

Jenes,  der,  zu  Gad  im  Land  der  Philister  geboren. 

Zu  der  Kinder  Israels  Schrecken  zum  Eichgrund  hinabkam. 

Ja,  so  sieht  er  aus,  und  seines  Körperbaus  Größe 

Ist,  er  sprach  es  selbst,  sechs  ganze  Parisische  Schuhe. 

Wollt  ich  recht  ihn  beschreiben,  so  müßt  ich  mit  einem 

Exempel 

Seine  Gestalt  dir  vergleichen;  doch  dieses  wäre  vergebens. 

Wandeltest  du,  Geliebter,  auch  gleich  durch  Länder  und 

Länder, 

Von  dem  Aufgang  herauf  bis  zu  dem  Untergang  nieder, 


2  4  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Würdest  du  dennoch  nicht  einen,  der  Gottscheden  ähn- 

lichte,  finden. 
Lange  hab  ich  gedacht  und  endlich  Mittel  gefunden, 
Dir  ihn  zu  beschreiben;  doch  lache  nicht  meiner,  Geliebter. 
Humano  capiti  cervicem  jungens  equinam 
Derisus  a  Flacco  non  sine  jure  ßiit. 
Hinc  ego  Koelbeliis  imponens  pedibus  magnis, 
Itnmane  corpus  crassasque  scapulas  Augsti 
Et  magna  magni  brachiaque  manusque  Rolandi, 
Addensque  tumidum  morosi  Rostii  Caput. 
Ridebor  forsan?  Ne  rideatis  amici. 
Dies  ist  das  wahre  Bild  von  diesem  großen  Mann, 
So  gut,  als  ich  es  nur  durchs  Beispiel  geben  kann. 
Nun  nimm,  geliebter  Freund,  die  jetzt  beschri ebnen  Stücke, 
So  zeiget,  glaub  es  mir,  sich  Gottsched  deinem  Blicke. 
Ich  sah  den  großen  Mann  auf  dem  Katheder  stehn, 
Ich  hörte,  was  er  sprach,  und  muß  es  dir  gestehn. 
Es  ist  sein  Fürtrag  gut,  imd  seine  Reden  fließen 
So  wie  ein  klarer  Bach.  Doch  steht  er  gleich  den  Riesen 
Auf  dem  erhabnen  Stuhl.  Und  kennte  man  ihn  nicht. 
So  wüßte  man  es  gleich,  weil  er  stets  prahlend  spricht. 
Genug,  er  sagte  viel  von  seinem  Kabinette, 
Wie  vieles  Geld  ihn  das  imd  Jens  gekostet  hätte. 

Und  andre  Dinge  mehr,  genug  mein  Freund — 

* 

Apropos.    Hast  Du  nicht  gehört?   Der  Hofrat  [Ludwig  Moors]  be- 
klagt sich  über  den  Mangel  der  Mädchen  zu  Göttingen. 

Zu  was  will  er  ein  Mädchen? 
Um  die  rhetorischen  Figuren  auszuüben 
Und  nach  der  neusten  Art  recht  Hübnerisch  zu  lieben, 
Zu  sehn,  ob  die  Protase  ein  hartes  Herz  erweicht, 
Zu  sehn,  ob  man  durch  Regien  der  Liebe  Zweck  erreicht. 
Zu  sehn,  ob  Mimesis,  die  Ploke,  die  Sarkasmen 
So  voller  Reizung  sind  wie  Neukirchs  Pleonasmen, 
Und  ob  er  in  dem  Tone,  wie  er  den  Ulfo  singt, 
Mit  des  Corvinus  Versen  das  Herz  der  Schönen  zwingt. 
Und  ob — mein  Blatt  ist  voll,  ich  werde  schließen  müssen. 
Die  Mädchen  eurer  Stadt  und  Kehren  sollt  ihr  grüßen. 


¥ 


W! 


1765/8  LEIPZIG  25 

[Ans  eineni  foiefe  an  seine  Schwester] 

ENN  man  sie  in  ein  Kloster  steckte 
Und  ihr  Gesicht  mit  einem  ScUeier  deckte. 
Dies  könnte  wohl  zu  ihrem  Vorteil  sein. 
Den  Reiz,  der  ihr  jetzt  fehlt,  kann  neue  Tracht  ihr  geben. 
Da  kann  sie  immer  einsam  leben, 
Sie  ist  ja  gern  allein. 

* 

Das  Ende  krönt  jetzt  die  vergangne  Zeiten, 
Wer  einmal  glitt,  wird  leichte  zweimal  Reiten. 
Kind,  die  Exeqmen,  die  waren  würklich  schön, 
Wer  wird  nicht  den  Verstand  der  klugen  Domherrn  sehn: 
Er,  der  ans  Sparsamkeit  <^  was  er  war,  vergaß, 
Der  Wasser  trank  und  harte  Eier  aß, 
Der,  dessen  Lehre 
Wan  daß  der  Fürsten  Ehre 
AUein  im  vollen  Beutel  wäre. 
Er,  der  gesparet  statt  gekriegt, 
Ei,  den  kein  leerer  Pracht  vergnügt. 
Der  würde  sich  im  Grabe  wenden, 
WoUt  man  nach  seinem  Tod  so  ohne  Not  verschwenden. 

* 

Ich  schreibe  jetzt  ygh  meinem  Belsazer. 
Fast  ist  der  letzte  Aufzug  auch  so  weit, 
Als  wie  die  andern  sind.  Doch  wiss  du  das: 
In  Versen,  wie  hier  die,  verfertigt  ich 
Die  fünfte  Handlung.  Dieses,  Schwester,  ist 
Das  Versmaß,  das  der  Brite  braucht,  wenn  er 
Auf  dem  Kothurn  im  Trauerspiele  geht. 
Jetzt  steh  ich  still  und  denk  den  Fehlem  nach, 
Den  Fehlem,  die  so  häufig  sind,  wie  hier 
Studenten  sind.  Da  denk  ich  nach,  und  die 
Verbeßr  ich.  Dir  schick  ich  vielleicht  einmal 
Etwas  davon,  wie  auch  von  dem,  was  idi 
Sonst  noch  in  Versen  schrieb.  Jetzt  lebe  wohl. 
Grüß  mir  die  Mutter,  sprich,  sie  soll  verzeihn. 
Daß  ich  sie  niemals  grüßen  ließ,  sag  ihr 
Das,  was  sie  weiß, — daß  ich  sie  ehre.  Sags, 


2  6  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Daß  nie  mein  kindlich  Herz,  von  Liebe  voll, 
Die  Schuldigkeit  vergißt.  Und  ehe  soll 
Die  Liebe  nicht  erkalten,  eh  ich  selbst 
Erkalte. 

[Aus  einem  Briefe  an  Riese] 

ES  ist  mein  einziges  Vergnügen, 
Wenn  ich,  entfernt  von  jedermann, 
Am  Bache,  bei  den  Büschen  liegen, 
An  meine  Lieben  denken  kann. 

So  vergnügt  ich  aber  auch  da  bin,  .  .ich  seufze  nach  meinen  Freunden 
undmeinemMädchen,  und  wenn  ich  fühle,  daß  ich  vergebens  seufze, 

Da  wird  mein  Herz  von  Jammer  voll. 
Mein  Aug  wird  trüber, 
Der  Bach  rauscht  jetzt  im  Stimn  vorüber, 
Der  mir  vorher  so  sanft  erscholl. 
Kein  Vogel  singt  in  den  Gebüschen, 
Der  grüne  Baum  verdorrt. 
Der  Zephir,  der,  mich  zu  erfrischen, 
Sonst  wehte,  stürmt  und  wird  zum  Nord 
Und  trägt  entrißne  Blüten  fort. 
Voll  Zittern  flieh  ich  dann  den  Ort, 
Ich  flieh  xmd  such  in  öden  Mauern 
Einsames  Trauern. 

.  .  .  Hom  .  .  .  wundert  sich,  daß  ich  so  verändert  bin. 

Er  sucht  die  Ursach  zu  ergründen. 

Denkt  lächlend  nach  und  sieht  mir  ins  Gesicht. 

Doch  wie  kann  er  die  Ursach  finden, 

Ich  weiß  sie  Selbsten  nicht. 

* 
Ganz  andre  Wünsche  steigen  jetzt  als  sonst, 
Geliebter  Freund,  in  meiner  Brust  herauf. 
Du  weißt,  wie  sehr  ich  mich  zur  Dichtkunst  neigte, 
Wie  großer  Haß  in  meinem  Busen  schlug. 
Mit  dem  ich  die  verfolgte,  die  sich  nur 
Dem  Recht  und  seinem  Heiligtume  weihten 
Und  nicht  der  Musen  sanften  Lockungen 


1765/8  LEIPZIG  27 

Ein  ofißaes  Ohr  und  ausgestreckte  Hände 

Voll  Sehnsucht  reichten.  Ach  du  weißt,  mein  Freund, 

Wie  sehr  ich  (und  gewiß  mit  Unrecht)  glaubte, 

Die  Muse  liebte  mich  und  gab  mir  oft 

Ein  Lied.  Es  klang  von  meiner  Leier  zwar 

Manch  stolzes  Lied,  das  aber  nicht  die  Musen 

Und  nicht  Apollo  reihten.  Zwar  mein  Stolz, 

Der  glaubt'  es,  daß  so  tief  zu  mir  herab 

Sich  Götter  niederließen,  glaubte,  daß 

Aus  Meisterhänden  nichts  VoUkommners  käme, 

Als  es  aus  meiner  Hand  gekommen  war. 

Ich  fühlte  nicht,  daß  keine  Schwingen  mir 

Gegeben  waren,  um  emporzurudern, 

Und  auch  vielleicht  mir  von  der  Götter  Hand 

Niemals  gegeben  werden  würden.  Doch 

Glaubt  ich,  ich  hab  sie  schon  und  könnte  fliegen. 

Allein  kaum  kam  ich  her,  als  schnell  der  Nebel 

Von  meinen  Augen  sank,  als  ich  den  Ruhm 

Der  großen  Männer  sah  und  erst  vernahm, 

Wie  viel  dazu  gehörte,  Ruhm  verdienen. 

Da  sah  ich  erst,  daß  mein  erhabner  Flug, 

Wie  er  mir  schien,  nichts  war  als  das  Bemühn 

Des  Wurms  im  Staube,  der  den  Adler  sieht 

Zur  Sonn  sich  schwingen  und  wie  der  hinauf 

Sich  sehnt.  Er  sträubt  empor  und  windet  sich, 

Und  ängstlich  spannt  er  aÜe  Nerven  an 

Und  bleibt  am  Staub.   Doch  schnell  entsteht  ein  Wind, 

Der  hebt  den  Staub  in  Wirbeln  auf,  den  Wurm 

Erhebt  er  in  den  Wirbeln  auch.  Der  glaubt 

Sich  groß,  dem  Adler  gleich,  und  jauchzet  schon 

Im  Taumel.  Doch  auf  einmal  zieht  der  Wind 

Den  Odem  ein.  Es  sinkt  der  Staub  hinab, 

Mit  ihm  der  Wurm.  Jetzt  kriecht  er  wie  zuvor. 


28  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

ASONG 

OVER 

THE  UNCONFIDENCE 

TOWARD  MYSELF 

TO  Dr.  SCHLOSSER 

THOU  knowst  how  happily  thy  friend 
Walks  upon  florid  ways; 
Thou  knowst  how  heavens  bounteous  band 
Leads  him  to  golden  days. 

But  hah!  a  cruel  enemy 

Destroies  all  that  bless; 
In  moments  of  melancholy 

Flies  all  my  happiness. 

Then  fogs  of  doubt  do  fill  my  mind 

With  deep  obscurity; 
I  search  my  seif,  and  cannot  find 

A  spark  of  worth  in  me. 

When  tender  friends,  to  tender  kiss, 

Run  up  with  open  arms, 
I  think  I  merit  not  that  bliss, 

That  like  a  kiss  me  warmeth. 

Hah!  when  my  child  "I  love  thee"  sayd 

And  gave  the  kiss  I  sought, 
Then  I — forgive  me,  tender  maid — 

She  is  a  false  one,  thought. 

She  cannot  love  a  peevish  boy, 
She  with  her  godlike  face. 

0  could  I,  friend,  that  thought  destroy, 
It  leads  the  golden  days. 

And  other  thought  is  misfortune, 
Is  death  and  night  to  me: 

1  hum  no  supportable  tune, 

I  can  no  poet  be. 


1765/8  LEIPZIG 

When  to  the  Altar  of  the  Niae 

A  triste  incense  I  bring, 
I  beg  let  poetry  be  mine, 

0  sistres,  let  me  sing. 

But  when  they  then  my  prayer  not  heai, 

1  break  my  whispring  lyre, 

TTien  firom  my  eycs  rans  down  a  tear, 
Extinguish  th'  incensed  fire. 

Then  curse  I,  friend,  the  fated  sky, 

And  from  th'  Altar  I  fly; 
And  to  my  friends  alond  I  cry: 

Be  happier  than  I. 


*9 


[Ans  einem  Briefe  an  Trapp] 

MULLER!  je  suis  fäch^  de  ce  malicieux. 
Ce  n'est  pltis  cet  ami  si  tendre  en  ses  adieox, 
Qui  m'aimant  autrefois,  relevoit  ma  foiblesse, 
Se  joignit  ä  ma  joie  et  chassa  ma  tristesse. 
Aujourd'hui  tont  changd,  11  rit  de  mes  sonpirs, 
Et  dans  un  noir  chagrin  fait  cfaanger  mes  plaisirs. 
Jamais  il  ne  m'^crit  des  nonvelles  agrdables, 
Sans  qu'il  y  fasse  entrer  an  r^it  qui  m'accable, 
Et  qui  d'un  coup  m^chant,  adroitement  port6, 
N'e  m'öte  le  bonhetir  que  lui-m^me  a  donnd. 
Le  cruel!  H  connoit  mon  coeur  sensible  et  tendre, 
H  connoit  le  repos  qu'il  y  pourroit  rdpandre, 
II  scait  bien  qu'un  ami  s'il  ne  peut  nous  aider. 
Devroit  en  nous  plaignant  pourtant  nous  soulager. 
Le  fait-il?  Oh  que  non!  ma  douleur  est  extreme; 
Je  suis  faible,  il  est  vrai.  Est-on  fort  quand  on  aime: 
Mais  il  ne  cherche  rien  que  de  combler  mes  maus, 
Et  me  dit  en  riant:  Ha,  tu  as  des  rivaux. 
Je  ne  le  scais  que  trop,  sans  qu'il  le  dise  encore. 
Tout  qui  la  vit  l'admire,  qui  la  connoit  l'adore. 
Mais  faut-il  ^veiller  l'idee  pleine  d'eflBroi, 
Un  rival  est  plus  digne  de  cet  enfant  que  moir 
Soit!  Si  je  ne  le  suis,  je  vais  chercher  de  l'^tre. 


30  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Chassons  le  vil  honneur!  Que  l'amour  soit  mon  maitre! 
J'dcouterai  lui  seul,  lui  seul  doit  me  guider, 
Au  sommet  du  bonheur  par  lui  je  vais  monter. 
Au  sommet  de  la  science  montd  par  l'industrie, 
Je  reviens,  eher  ami,  pour  revoir  ma  patrie, 
Et  viens  voir,  en  ddpit  de  tout  altier  censeur, 
Si  eile  est  en  ^tat  d'achever  mon  bonheur. — 
Mais  il  faut  jusque-lä  que  votre  main  m'assiste. 
Laissez  parier  toujours  ce  docte  moraliste. 
Ecrivez-moi!  Que  fait  l'enfant  autant  aim^? 
Se  souvient-il  de  moi?  ou  m'a-t-il  oubli^? 
Ah,  ne  me  cachez  rien,  qu'il  m'^l^ve  ou  m'accable. 
Un  poignard  de  sa  main  me  seroit  agröable. 
Ecrivez,  c'est  alors  que  de  mon  coeur  ch^ri, 
Comme  eile  est  mon  amante,  vous  serez  mon  ami. 


ANNETTE  AN  IHREN  GELIEBTEN 

ICH  sah,  wie  Doris  bei  Damöten  stand, 
Er  nahm  sie  zärtlich  bei  der  Hand; 
Lang  sahen  sie  einander  an. 
Und  sahn  sich  um,  ob  nicht  die  Eltern  wachen. 
Und  da  sie  niemand  sahn. 
Geschwind — Genug,  sie  machtens,  wie  wirs  machen. 


VAUDEVILLE  A  MR.  PFEIL 

OTEZ-moi  la  grammaire! 
Dit  autrefois  Monsieur  le  Set. 
Si  le  Poitevin  et  son  fr^re 
Le  Peplier  veulent  me  plaire, 

II  faut  qu'ils  me  laissent  en  repos. 

Les  r^gles  de  ces  dröles 
Si  sottement  barbouilldes 

Sont  bonnes  dans  les  dcoles, 

Pour  exercer  les  dpaules 

Et  la  t^te  des  pauvres  dcoliers. 


I 


1765/8  LEIPZIG 

Madame  Deesse  grammaire 
En  entendant  ces  discours, 

Me  dicta  dans  sa  colere 

L'arret,  l'arrSt  si  sdvdre, 

Que  j'aurai  ä  pleurer  toujours: 

Que  ta  prose  de  fautes  fertile, 
Que  Sans  attraits  soient  tes  vers 

Et  que  ton  maigre  style 

Te  rende  ridicule 

A  la  belle  ä  laquelle  tu  sers. 

Grandpr€tre  de  cette  Deesse, 

Pfeil!  viens  me  pr^ter  ton  secours, 

Afin  que  ma  msdtresse 

En  vengeant  ta  Ddesse 

Ne  me  fasse  finir  mes  jours. 

Va  t'en  porter  ä  la  Dame 

Avec  des  dus  encens 
Le  repentir  de  mon  äme. 
Dis-lui  que  je  me  bläme 

De  l'avoir  haie  ceans. 

Et  lorsqu'elle  me  pardonne, 
Va  demander  en  mon  nom, 

Qu'elle  soit  la  fa^on  la  plus  bonne, 

De  firmer  de  ma  personne 
Avec  eile  la  plus  forte  union. 


3» 


L^ 


A  MONSIEUR  LE  MAJOR  GfiNfiRAL  DE  HOFFMANN 

Au  sojet  de  la  mort  de  Madame  son  epoose 

A  mort,  en  sortant  du  Tartare, 
Voulant  que  l'univers  sentit 
La  pesanteur  de  son  courroux  barbare, 

Se  mit 
A  ddpeupler  du  fldau  de  la  guerre 
La  terre, 
Et  Vit 


32  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Avec  plaisir  tous  les  champs  inondds 
De  sang,  et  dans  le  sang  baignes 

Les  malheureux, 
Frondes  par  le  tonnerre 
Dans  la  poussiere. 
Les  feux 
Du  meurtre  et  du  camage 

Eteints  enfin, 
La  mort  frdmit  de  rage, 
Voyant  le  genre  humain 

En  süretö 
De  n'etre  pas  fauchd 
Comme  autrefois  par  millions. 

Otons, 
Dit-elle,  ötons  leur 

Ce  bonheur. 
Si  autrefois  je  frappois  mille, 
Frappons  ä  l'avenir  un  seul  qui  vaudra  mille. 
Elle  le  dit, 
On  Vit 
Bientöt  familles  d^sol^es 
Pleurer  autour  d'un  mausolde 

D'un  p^re  vertueux, 

D'un  fils  l'espoir  de  sa  patrie 
Et  d'autres  dont  la  vie 
Ne  dut  que  tard  etre  finie. 

Combien  vit-on  de  malheureux! 

Et  ce  spectre  hideux, 
Tout  content  de  sa  proie, 

Va  dedans  les  enfers 

Aux  ennemis  de  l'univers 
Porter  sa  joie. 
D'un  tel  coup  ton  Epouse  tomba, 

Et  ce  trepas 

Ddsola  Sa  famille. 
Mais  Elle  n'en  eut  point  d'effroi: 
Car  en  perdant  ici  le  monde  et  toi 
Elle  trouve  lä-haut  et  le  Ciel  et  Sa  Fille. 


1765/8  LEIPZIG  33 

[Ans  einem  Briefe  an  Bchiisch] 

A 'Y'/HAT  pleasme,  God!  of  like  a  flamc  to  bom, 
W  A  viiteons  fire,  Üiat  ne'er  to  vice  kan  tanu 
What  volapty!  when  trembliiig  in  mj  anns, 
The  bosom  of  vaj  maid,  saj  bosom  wanneth! 
Perpetua!  kisses  of  her  Ups  o'eiflow, 
Ib  holy  embrace  mig^ty  viitae  shew. 
When  l  then,  rapt.  in  never  feit  extase, 
My  maid!  I  say,  and  she,  my  deaiest!  says. 
When  then,  my  heart,  of  love  and  viitae  hot, 
Cries:  come  ye  angels!  Come!  See  and  cnvy  me  not. 


COKTHS  XIV 


AN  DEN  SCHLAF 

DER  du  mit  deinem  M<^me 
Selbst  Götteiangen  zwingst. 
Und  Beider  <rft  zum  Throne, 
Zum  Mädchen  Schäfer  bringst. 
Vernimm:  Kein  Tranmgespinste 
Verlang  ich  hent  von  dir, 
Den  graten  deiner  Dienste, 
Geliebter,  leiste  mir. 

An  meines  Mädchens  Seite 
Sitz  ich,  ihr  Ang  s{»icht  Lost, 
Und  miter  neidsdier  Seide 
Steigt  fahlbar  ihre  Brost; 
Oft  hatte  meinen  Küssen 
Sie  Amor  zogebracht, 
Dies  Glöck  nrafi  ich  vermissen. 
Die  strenge  Mtitter  wadit. 

Am  Abend  tn&t  da  wieder 
Mich  dort,.o  tritt  herein, 
Sprah  Mohn  von  dem  Gefieder, 
Da  schlaf  die  Matter  ein: 
Bei  blassem  Lichterscheinen 
V<m  Lieb  Annette  wann 
Sinlt,  wie  Mama  in  deinen, 
In  meinen  giergen  Aim. 


k 


34  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

DIE  LIEBHABER 

MEIN  Mädchen  im  Schatten  der  Laube, 
Umhangen  von  purpurner  Traube, 
Bekränzte  mit  Rebenlaub  sich 
Und  wartete  schmachtend  auf  mich. 
Da  wallte  der  Herrscher  der  Träume 
Durch  zitternde  Wipfel  der  Bäume, 
Erblickte  das  liebliche  Kind, 
Sank  nieder,  umarmt  es  geschwind. 

Sie  schlummert,  er  küßte  die  Wangen, 
Sie  glühten  von  heißem  Verlangen, 
Erhitzet,  o  Gottheit,  von  dir. 
Nach  sterblichen  Küssen  von  mir. 
Da  saugte  mit  atmenden  Zügen 
Annette  das  größte  Vergnügen 
Der  Träume,  die  Mädchen  erfreun, 
Vom  Munde  des  Göttlichen  ein. 

Schnell  war  sie  von  Leuten  umgeben. 
Die  schmachteten  seufzend  nach  Leben, 
Und  harreten  zitternd  aufs  Glück 
Von  einem  beseelenden  Blick. 
Da  lag  nun  auf  Knien  die  Menge, 
Mein  Mädchen  erblickt  das  Gedränge, 
Und  hörte  der  bittenden  Schrein, 
Und  dünkte  sich  Venus  zu  sein. 

Erst  sah  sie  den  schrecklichen  Sieger, 
Da  lag  er  gebückt,  wie  ein  Krieger, 
Den  stärkerer  Streitenden  Macht 
In  schimpfliche  Fesseln  gebracht. 
So  sprach  er:  "Die  mächtigen  Waffen, 
Den  Ruhm  zu  erobern  geschaflfen, 
Erheben,  erwählest  du  mich. 
Auf  deine  Befehle  nur  sich. 

Da  furcht  ich  nicht  Wäll  nicht  Kanonen, 
Nicht  Tonnen,  die  Minen  bewohnen. 
Nicht  Feinde,  die  scharenweis  ziehn, 


1765/8  LEIPZIG 

Du  sprichst  niir:  Entflieht! — sie  entfliehn. 
Doch  mußt  du  für  Eisen  nicht  beben, 
Mein  Arm,  den  jetzt  Waffen  umgeben, 
Schließt  sich  in  entwaSheter  Ruh 
Auch  sanften  Umarmungen  zu." 

Der  Kaufmann  mit  Putzwerk  und  Stoflfen, 
Was  eitele  Mädchen  nur  hoffen. 
Trat  näher  und  beugte  sein  Knie, 
Verbreitet  es  hoffend  vor  sie; — 
"Erhöre  mich,  werde  die  Meine", 
So  sprach  er,  "dies  alles  ist  deine. 
Dich  kleid  ich  in  herrlicher  Pracht 
Dann,  wenn  du  mich  glücklich  gemacht." 

Der  Stutzer  im  scheckigen  Kleide 
Von  Samt  imd  von  Gold  imd  von  Seide 
Kam  summend,  wie  Käfer  im  Mai, 
Mit  künstlichen  Sprüngen  herbei — 
"Du  glänzest  bei  Ball  und  Konzerten, 
Du  herrschest  beim  Spiel  imd  in  Gärten, 
Mein  Dressenrock  schimmert  auf  dich, 
Geliebteste,  wähle  du  mich." 

Noch  andere  kamen.   Geschwinde 
Wies  da  mich  dem  göttlichen  Kinde 
Der  Traumgott,  Sie  schaute  mich  kaum: 
"Den  lieb  ich" — so  rief  sie  im  Traum, 
"Komm,  eile!  o  komm  mich  zu  küssen" — 
Ich  eilte  sie  fest  zu  umschließen; 
Denn  ich  war  ihr  wachend  schon  nah, 
Und  küssend  erwachte  sie  da. 

Kein  Pinsel  malt  unser  Entzücken, 
Da  sank  sie  mit  sterbenden  Blicken, 
O  welche  unsterbliche  Lust! 
An  meine  hochfliegende  Brust. 
So  lag  einst  Vertumn  und  Pomone. 
Als  er  auf  dem  grünenden  Throne 
Das  sprödeste  Mädchen  bekehrt. 
Zuerst  sie  die  Liebe  gelehrt. 


35 


36  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

ZIBLIS, 
EINE  ERZÄHLUNG 

MÄDCHEN,  setzt  euch  zu  mir  niedet, 
Niemand  stört  hier  unsre  Ruh, 
Seht,  es  kommt  der  Frühling  wieder, 
Weckt  die  Blumen  und  die  Lieder, 
Ihn  zu  ehren,  hört  mir  zu. 

Weise,  strenge  Mütter  lehren: 
Mädchen,  flieht  der  Männer  List. 
Und  doch  laßt  ihr  euch  betören! 
Hört,  ihr  sollt  ein  Beispiel  hören, 
Wer  am  meisten  furchtbar  ist. 

Ziblis  jung  und  schön,  zur  Liebe, 
Zu  der  Zärtlichkeit  gemacht. 
Floh  aus  rauhem  wilden  Triebe. 
Nicht  aus  Tugend  alle  Liebe, 
Ihre  Freude  war  die  Jagd. 

Als  sie  einst  tief  im  Gesträuche 
Sorglos  froh  ein  Liedchen  sang, 
Ward  sie  blaß  wie  eine  Leiche,    • 
Da  aus  einer  alten  Eiche 
Ein  gehörnter  Waldgott  sprang. 

Zärtlich  lacht  das  Ungeheuer, 
Ziblis  wendet  ihr  Gesicht, 
Läuft,  doch  der  gehörnte  Freier 
Springt  ihr  wie  ein  hüpfend  Feuer 
Nach,  und  ruft:  O  flieh  mich  nicht. 

Schrein  kann  niemals  überwinden. 
Sie  lief  schneller,  er  ihr  nach. 
Endlich  kam  sie  zu  den  Gründen, 
Da,  wo  unter  jungen  Linden 
Emiren  am  Wasser  lag. 

Hilf  mir!  rief  sie.  Er  voll  Freude, 
Daß  er  so  die  Nymphe  sah. 


1765/8  LEIPZIG  37 

Stand  bewafiöiet  zu  dem  Streite 
Mit  dem  Ast  der  nächsten  Weide, 
Als  der  Waldgott  kam,  schon  da. 

Der  trat  näher,  ihn  zu  höhnen, 

Und  ging  schnell  den  Zweikampf  ein. 

Sie  erbebt  für  Emirenen. 

Immer  wird  das  Herz  der  Schönen 

Auf  des  Schönen  Seite  sein. 

Seinen  Feind  im  Sand  zu  höhnen, 
Regt  sich  Fuß,  und  Arm,  und  Hand, 
Bald  mit  Stoßen,  bald  mit  Dehnen. 
Liebe  stärkt  die  Kraft  der  Sehnen, 
Beide  waren  gleich  entbrannt. 

Endlich  sinkt  der  Faun  zur  Erden, 
Denn  ihn  traf  ein  harter  Streich. 
Gräßlich  zerrt  er  die  Gebärden; 
Emiren,  ihn  los  zu  werden. 
Wirft  ihn  in  den  nächsten  Teich. 

Ziblis  lag  mit  matten  Blicken, 
Da  der  Sieger  kam,  im  Gras. 
Wirds  ihm  ihr  zu  helfen  glücken? 
Leicht  sind  Mädchen  zu  erquicken, 
Oft  ist  ihre  Krankheit  Spaß. 

Sie  erhebt  sich.  Neues  Leben 
Gibt  ein  heißer  Kuß  ihr  gleich. 
Doch,  der  einen  schon  gegeben, 
Sollte  nicht  nach  mehrern  streben? 
Das  sieht  einem  Märchen  gleich. 

Wartet  niu-.  Es  folgten  Küsse 
Himdertweis;  sie  schmeckten  ihr. 
Ja  die  Mäulchen  schmecken  süße. 
Und  bei  Ziblis  waren  diese 
Gar  die  ersten.  Glaubt  es  mir. 


38  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Darum  sog  mit  langen  Zügen 
Sie  begierig  immer  mehr. 
Endlich  trunken  von  Vergnügen, 
Ward  dem  Emiren  das  Siegen, 
Wie  ihr  denken  könnt,  nicht  schwer, 

Mädchen,  fürchtet  rauher  Leute 
Buhlerische  Wollust  nie. 
Die  im  ehrfurchtsvollen  Kleide 
Viel  von  imschuldsvoller  Freude 
Reden,  Mädchen,  fürchtet  die. 

Wacht,  denn  da  ist  nichts  zu  scherzen. 
Seid  viel  lieber  klug  als  kalt. 
Zittert  stets  für  eure  Herzen. 
Hat  man  einmal  diese  Herzen, 
Ha!  Das  andre  hat  man  bald. 


LYDE 

EINE  ERZÄHLUNG 

EUER  Beifall  macht  mich  freier, 
Mädchen,  hört  ein  neues  Lied. 
Doch  verzeiht,  wenn  meine  Leier 
Nicht. von  jenem  heiigen  Feuer 
Der  geweihten  Dichter  glüht. 

Hört  von  mir,  was  wenig  wissen, 
Horts,  und  denket  nach  dabei: 
Daß,  wenn  zwei  sich  zärtlich  küssen, 
Gern  sich  sehn,  imd  ungern  missen, 
Es  nicht  stets  aus  Liebe  sei. 

Lyde  brannt  von  einem  Blicke 
Für  Aminen,  er  für  sie; 
Doch  ein  widriges  Geschicke 
Hinderte  noch  beider  Glücke, 
Ihre  Eltern  schliefen  nie. 


1765/8  LEIPZIG 

Wachsamkeit  wird  euch  nichts  taugen, 
Wenn  die  Töchter  unser  sind; 
Eltern,  habet  hundert  Augen, 
Mädchen,  wenn  sie  List  gebrauchen, 
Machen  hundert  Augen  blind. 

Listig  hofft  sie,  eine  Stunde 
Ihre  Wächter  los  zu  sein. 
Endlich  kommt  die  Schäferstunde^ 
Und  von  ihrem  heißen  Munde 
Saugt  Amin  die  Wollust  ein. 

So  genoß  entfernt  vom  Neide 
Er  noch  manchen  süßen  Kuß. 
Doch  er  ward  so  vieler  Beute 
Überdrüssig.  Jede  Freude 
Endigt  sich  mit  dem  Genuß. 

Ist  wohl  bei  des  Blutes  Wallen, 
Denkt  er,  immer  Liebe  da? 
Liebt  sie  mich  denn  wohl  vor  allen? 
Oder  hab  ich  ihr  gefallen, 
Weil  sie  mich  am  ersten  sah? 

Einst  spricht  er,  dies  auszuspüren: 
Ach,  wie  quält  mein  Vater  mich! 
Fem  soll  ich  die  Herde  fuhren — 
Himmel!  Dich  soll  ich  verlieren! 
Ha!  Das  Leben  ehr  als  dich. 

Liebste,  nein,  ich  konune  wieder, 
Doch,  der  beste  Freund  von  mir 
(Hier  sah  sie  zur  Erde  nieder) 
Singet  angenehme  Lieder, 
Diesen  Freund,  den  laß  ich  dir. 

Lyde  denkt  an  keine  Tücke, 
Weint,  und  geht  es  weinend  ein. 
Ungern  flieht  Amin  sein  Glücke, 
Listig  bleibt  der  Freund  zurücke. 
Oft  ist  er  mit  ihr  allein. 


39 


40  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Viel  singt  er  von  Glut  und  Liebe, 
Sie  wird  feurig,  er  wird  kühn. 
Sie  empfindet  neue  Triebe, 
Und  Gelegenheit  macht  Diebe. 
Endlich— Gute  Nacht,  Amin. 

Kinder,  seht,  da  müßt  ihr  wachen. 
Euch  vom  Irrtum  zu  befrein. 
Glaubet  nie  den  Schein  der  Sachen, 
Sucht  euch  ja  gewiß  zu  machen, 
Eh  ihr  glaubt  geliebt  zu  sein. 

PYGMALION 

EINE  ROMANZE 

ES  war  einmal  ein  Hagenstolz, 
Der  hieß  Pygmalion; 
Er  machte  manches  Bild  von  Holz, 
Von  Marmor  und  von  Ton. 

Und  dieses  war  sein  Zeitvertreib 
Und  alle  seine  Lust. 
Kein  junges,  schönes,  sanftes  Weib 
Erwärmte  seine  Brust. 

Denn  er  war  klug  und  furchte  sehr 
Der  Hörner  schwer  Gewicht; 
Denn  schon  seit  vielen  Jahren  her 
Traut  man  den  Weibern  nicht. 

Doch  es  sei  einer  noch  so  wild, 
Gern  wird  er  Mädchen  sehn. 
Drum  macht'  er  sich  gar  manches  Bild 
Von  Mädchen  jung  und  schön. 

Einst  hatt  er  sich  ein  Bild  gemacht, 
Es  staunte,  wer  es  sah; 
Es  stand  in  aller  Schönheit  Pracht 
Ein  junges  Mädchen  da. 


1765/8  LEIPZIG  41 

Sie  schien  belebt,  und  weich,  und  warm, 
War  nur  von  kaltem  Stein; 
Die  hohe  Brust,  der  weiße  Arm 
Lud  zur  Umarmung  ein. 

Das  Auge  war  emporgewandt, 
Halb  auf  zum  Kuß  der  Mund. 
Er  sah  das  Werk  von  seiner  Hand, 
Und  Amor  schoß  ihn  wund. 

Er  war  von  Liebe  ganz  erfüllt, 
Und  was  die  Liebe  tut! 
Er  geht,  umarmt  das  kalte  Bild, 
Umarmet  es  mit  Glut. 

Da  trat  ein  guter  Freund  herein. 
Und  sah  dem  Narren  zu, 
Sprach:  Du  umarmest  harten  Stein, 
O  welch  ein  Tor  bist  du! 

Ich  kauft  ein  schönes  Mädchen  mir 
Willst  du,  ich  geb  dir  sie? 
Und  sie  gefällt  gewißlich  dir 
Weit  besser,  als  wie  die. 

Sag,  ob  du  es  zufrieden  bist — 
Er  sah  es  nvm  wohl  ein. 
Ein  Mädchen,  das  lebendig  ist. 
Sei  besser  als  von  Stein. 

Er  spricht  zu  seinem  Freunde:  Ja. 
Der  geht  tmd  holt  sie  her. 
Er  glühte  schon,  eh  er  sie  sah. 
Jetzt  glüht  er  zweimal  mehr. 

Er  atmet  tief,  sein  Herze  schlug 
Er  eilt,  und  ohne  Trau 
Nimmt  er — man  ist  nicht  immer  klug- 
Nimmt  er  sie  sich  zur  Frau. 


4a  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Flieht,  Freunde,  ja  die  Liebe  nicht, 
Denn  niemand  flieht  ihr  Reich: 
Und  wenn  euch  Amor  einmal  kriegt, 
Dann  ist  es  aus  mit  euch. 

Wer  wild  ist,  alle  Mädchen  flieht. 
Sich  unempfindlich  glaubt. 
Dem  ist,  wenn  er  ein  Mädchen  sieht. 
Das  Herze  gleich  geraubt. 

Drum  seht  oft  Mädchen,  küsset  sie, 
Und  liebt  sie  auch  wohl  gar. 
Gewöhnt  euch  dran,  und  werdet  nie 
Ein  Tor,  wie  jener  war. 

Nun,  lieben  Freunde,  merkt  euch  dies, 
Und  folget  mir  genau; 
Sonst  straft  euch  Amor  ganz  gewiß, 
Und  gibt  euch  eine  Frau. 


V 


KUNST,  DIE  SPRÖDEN  ZU  FANGEN 
Erste  Erzählung 

ERZWEIFELT  nicht,  ihr  Jünglinge,  wenn  eure  Mäd- 
chen spröde  sind.  Niemals  hat  noch  die  Kälte  der 
mütterlichen  Lehren  ein  weibliches  Herze  so  zu  Eise  ge- 
härtet, daß  es  der  alles  erwärmende  Hauch  der  Liebe  nicht 
hätte  zerschmelzen  sollen. 

Hört,  was  mir  mein  Freund  erzählte,  dem  ich  sonst  viel 
glaube. 

Ich  liebte  ein  Mädchen  recht  feurig,  recht  zärtlich;  aber 
sie  floh  die  Jünglinge  und  die  Liebe,  weil  ihr  die  Mutter 
die  Jünglinge  und  die  Liebe  sehr  fürchterlich  gemalt  hatte. 
Das  schreckte  mich  nicht  ab,  es  machte  mich  nur  behutsam. 

Ich  sehs,  du  kennst  sie  nicht,  die  Liebe, 
dacht  ich, 

Denn  wer  sie  kennt,  der  flieht  sie  nicht. 
Wie  leicht  wirds  sein,  dich  zu  entzünden, 


1765/8  LEIPZIG  43 

Da  du  so  unerfahren  bist? 

Die  Liebe  sollst  du  bald  empfinden, 

Und  sollst  nicht  wissen,  daß  sies  ist. 

Wenn  ich  sie  im  Haine  antraf,  redete  ich  sie  ganz  trocken 
an.  Meine  Kälte  betrog  sie,  daß  sie  nicht  floh  und  mit 
sich  reden  ließ.  Ich  sagte  ihr  viel  von  erhabnen  Empfin- 
dungen, die  ich  Freundschaft  nannte;  leicht  gewann  ich 
da  ihre  Vertraulichkeit. 

Dem  Mädchen  ward  nebst  andern  Gaben 
Viel  feuriges  Gefühl  geschenkt. 
Da  meints,  es  denke  gleich  erhaben. 
Da  es  doch  nichts  als  feurig  denkt. 

Ich  ward  ihr  Freund,  sie  meine  Freundin.  Mein  Umgang 
fing  an  ihr  täglich  weniger  gleichgültig  zu  werden.  Sie 
freuete  sich,  wenn  ich  kam,  und  betrübte  sich,  wenn  ich 

ging- 

Was  bei  des  Jünglings  Blicken 
Ein  jedes  Mädchen  fühlt, 
War  das,  was  mit  Entzücken 
Sie  nur  für  Freundschaft  hielt. 

Ich  war  oft  mit  ihr  alleine  gewesen,  doch  hatte  ich  es 
nicht  wagen  dürfen,  die  Lehren  der  Mutter  mit  Gewalt 
anzugreifen.  Nach  imd  nach  suchte  ich  sie  mit  List  zu 
untergraben.  Seit  einiger  Zeit  war  ich  ihr  Lehrer  gewor- 
den, hatte  sie  viel  Gutes  gelehrt;  imd  dem  Liebhaber  glaubt 
ein  Mädchen  immer  mehr,  als  der  Mutter.  Da  fing  sie  an 
zu  zweifeln,  ob  auch  die  Mutter  immer  möchte  wahr  ge- 
redet haben.  Das  merkte  ich,  imd  wußte  ihre  Zweifel  zu 
nähren. 

Einst  saß  sie  meinen  Lehren 

Aufmerksam  zuzuhören; 

Da  sprach  ich:  Du  mußt  wissen, 

Daß  auch  die  Freunde  küssen, 

Die  Freunde  so  wie  ich  und  du— 

Ich  wagt  es — und  sie  ließ  es  zu. 

Da  ich  den  ersten  so  leicht  erhalten  hatte,  konnte  ich  noch 
eher  auf  den  zweeten  hofifen. 


44  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Nie  schmeckt  ein  Mädchen  einen  Kuß, 

Die  sich  nicht  nach  dem  zweeten  sehnte. 

Oft  wiederholt  ich  meinen  Kuß, 

Daß  sie  sich  bald  daran  gewöhnte. 

Wenn  ich  sie  sah  und  sie  nicht  küßte, 

Sprach  gleich  ihr  Blick,  daß  sie  etwas  vermißte. 

Der  glückliche  Fortgang  meiner  Eroberungen  machte  mich 
stolz,  und  wer  stolz  ist,  ist  kühn. 

So  schwer  ists  nicht,  wie  ich  geglaubt, 
Dem  Mädchen  eine  Gunst  zu  rauben; 
Hat  sie  uns  nur  erst  eins  erlaubt. 
Das  andre  wird  sie  schon  erlauben. 

Sobald  ich  sie  wiedersah,  redete  ich  feuriger,  küßte  ich 
sie  feuriger  als  sonst.  Ich  sah,  daß  sie  bewegt  ward. 

Da  wagt's  mein  Arm,  sie  zu  umschließen. 
Sie  ließ  es  zu. 

Da  wagt's  mein  Mund,  die  weiße  Brust  zu  küssen. 
•  Sie  ließ  es  zu. 
Doch  eilends  sprang  sie  auf.  Dich  werd  ich  fliehen 

müssen, 
Gefährlicher!  rief  sie,  und  ließ  nichts  weiter  zu, 
Und  floh.  So  weit  gelang  mir  mein  Bemühen. 
Ich  folg  ihr  langsam,  da  sie  flieht; 
Denn  eher  wird  sie  bei  dem  Fliehen, 
Als  ich  bei  dem  Verfolgen  müd. 

Zwote  Erzählung 

ES  ist  kein  Mädchen  so  listig,  so  vorsichtig,  das  nicht  von 
einem  listigen  Jünglinge  könnte  gefangen  werden.  Hört, 
wie  es  Charlotten  erging.  Charlotte,  ein  weises  Mädchen, 
die  wohl  wußte,  warum  die  Jünglinge  zu  fürchten  waren, 
liebte  mich  recht  zärtlich,  aber  mehr  noch  sich  selbst. 
Drum  war  sie  immer  zurückhaltend,  immer  streng  gegen 
mich,  wie  es  meine  Annette  jetzt  ist,  wenn  sie  ihre  Mutter 
beobachtet.  Wäre  sie  ganz  klug  gewesen,  so  hätte  sie 
mich  ganz  gemieden;  doch  sie  war  zu  dieser  Tat  zu  sehr 
Mädchen. 


1765/8  LEIPZIG  45 

Oft  fuhrt  ich  sie  zum  Haine, 
Und  war  mit  ihr  alleine, 
O  wie  war  ich  erfreut! 
Ist  je  ein  Paar  alleine, 
Ist  Amor  niemals  weit. 

Einst  saßen  wir  unter  dem  Schatten  einer  überhangenden 
Myrte,  ein  Becher  mit  Weine  und  ein  Körbchen  mit 
Obst  stand  vor  uns;  wir  redeten  von  Freundschaft.  Schnell 
flog  Amor  aus  einer  jungen  Rose  heraus,  die,  halb  auf- 
geblüht, wie  ein  Mädchen  von  fünfzehn  Jahren,  sich  die 
Myrte  hinau^eschlungen  hatte.  Ich  sah  ihn,  das  Mäd- 
chen nicht.  Wie  freuete  ich  mich,  da  ich  seinen  Bogen 
gespannt  und  seinen  Köcher  gefüllt  sah.  Nun  wird  er  mir 
helfen  und  einen  Pfeil  auf  ihre  Brust  schicken;  er  wird 
nicht  abspringen,  der  spitzige  Pfeil! 

Du  brauchst  nicht  scharf  zu  zielen, 
Die  Brust  ist  ohnbewehrt. 
Ich  hab  ihr,  wie  im  Spielen, 
Gar  manches  schon  gelehrt, 
Was,  ohne  sich  zu  fühlen, 
Kein  junges  Mädchen  hört. 

Aber  er  bleibt  doch  immer  ein  Kind,  Amor.  Kaum  sah 
er  die  Trauben,  als  er  schnell  hinflog,  eine  Beerenach 
der  andern  mit  einem  Pfeile  aufstach  und  aussog,  wie  die 
Bienen  ihren  Stachel  in  die  Blumen  stechen  und  Honig 
saugen.  Da  er  sich  satt  gesogen  hatte,  ward  er  mutwillig, 
flog  auf  den  Becher  und  schaukelte  auf  dem  Rande.  Aber 
einmal  versah  ers,  der  gute  Amor,  und  fiel  mit  einem  lau- 
ten Schrei  in  den  Wein.  Possierlich  schwamm  er  auf  dem 
goldnen  Meere,  plätscherte  mit  den  Flügeln,  ruderte  mit 
Händen  imd  Füßen,  und  schrie  inuner.  Da  jammerte  er 
mich,  daß  ich  ihn  heraushub.  Was  machst  du,  ftagte  das 
Mädchen — Eine  Biene  war  in  den  Wein  gefallen,  sagt  ich. 
Freudig  dankte  mir  Amor,  und  hüpfte  in  den  Sonnenschein, 
da  schüttelte  er  seine  Flügel  und  trocknete  sich.  Ich  sah 
ihm  zu,  und  bemerkte,  daß  sein  Köcher  von  Pfeilen  leer 
war.  Wo  sind  sie?  dacht  ich — Indem  fielen  meine  Blicke 


46  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

auf  den  Becher;  da  zogen  sich  Bläschen  vom  Boden  her- 
auf, wie  sie  der  Wein  aus  dem  Zucker  zieht.  Amor  hatte 
die  Pfeile  im  Schwimmen  verloren,  und  nun  sog  der  Wein 
das  Gift  aus  den  Spitzen.  Ich  habe  deiner  Hülfe  nicht  mehr 
nötig,  Amor! — ^jauchzete  ich,  und  reichte  ihr  den  Becher, 
und  sah  starr  auf  sie.  Sie  trank,  und  sah  mich  an,  und 
trank  mit  starken  Zügen.  Wie  süße!  seufzete  sie  tief,  da 
sie  den  Becher  niedersetzte.  Ich  beobachtete  sie  genau;  eine 
sanfte  Mattigkeit  schlich  durch  alle  ihre  Glieder. 

Und  kraftlos  sank  ihr  Haupt  zurücke. 

Erst  irrten  unbestimmt  die  Blicke 

Umher,  und  fielen  dann  auf  mich, 

Und  eilten  weg,  und  kamen  wieder. 

Sie  lächelte  und  schlug  die  Augen  nieder^ 

Ihr  fühlbar  Herz  empörte  sich, 

Und  schickte  brennendes  Verlangen 

In  ihren  Busen,  auf  die  Wangen, 

Die  Wangen  glühten,  und  der  Busen  stieg. 

Da  rief  ich:  Sieg!  Sieg,  Amor,  Sieg! 

Und  der  kleine  getrocknete  Prahler,  als  wenn  er  noch  so 
viel  bei  der  Sache  getan  hätte, 

Rief,  als  er  in  die  Lüfte  stieg: 
Sieg!  Sieg! 

TRIUMPH  DER  TUGEND 

Erste  Erzählung 

VON  stiller  Wollust  eingeladen 
Drang  in  den  Tempel  der  Dryaden 
Mit  seinem  Mädchen  Daphnis  ein, 
Um  zärtlich  ohnbemerkt  zu  sein. 
Des  Taxus  Nacht  umgab  den  Fuß  der  Eichen, 
Nur  Vögel  hüpften  auf  den  Zweigen, 
Rings  um  sie  her  lag  feierliches  Schweigen, 
Als  wären  sie  auf  dieser  Welt  allein. 

Sie  saßen  tändelnd  in  dem  Kühlen. 

Allein,  dem  Herzen  nah,  das  uns  so  zärtlich  liebt — 


1765/8  LEIPZIG  47 

Wem  Amor  solch  ein  Glücke  gibt, 
Wird  der  nicht  mehr  als  sonsten  fühlen? 
Und  unser  Paar  fing  bald  an  mehr  zu  fühlen. 

Des  Mädchens  zärtlich  Herz  lag  ganz  in  ihrem  Blicke, 
Halblächelnd  nennt  sie  ihn  ihr  bestes  größtes  Glücke. 
Sein  Herz,  von  heißem  Blut  erfüllt, 
Drückt  sich  an  ihrs,  läßt  nach,  drückt  wieder; 
Und  wenn  das  Blut  einmal  von  Liebe  schwillt, 
Reißt  es  gar  leicht  der  Ehrfurcht  Grenzen  nieder. 

Könnt  Daphnis  wohl  dem  Reiz  des  Busens  widerstehn? 

Bei  jedem  Kuß  durchglüht  ihn  neues  Feuer, 

Bei  jedem  Kusse  ward  er  fi-eier. 

Und  sie — und  sie — ließ  es  geschehn. 

Der  Schäfer  fühlt  ein  taumelndes  Elntzücken, 

Und  da  sie  schweigt,  da  jetzt  in  ihren  Blicken 

Anstatt  der  Munterkeit  ein  sanfter  Kummer  liegt, 

Glaubt  er  sie  auf  dem  Grad  von  feurigem  Entzücken, 

Wo  man  die  Mädchen  leicht  besiegt. 

Sie  war  an  seine  Brust  gesunken, 
Und  er,  zuletzt  von  WoUust  trunken, 
Erbat  sich,  Amor,  Sieg  von  dir. 
Doch  schnell  entriß  sie  sich  den  Armen, 
Die  sie  umfaßten:  Aus  Erbarmen, 
Rief  sie,  komm,  eile  weg  von  hier. 
Bestürzt  und  zitternd  folgt  er  ihr. 

Da  sprach  sie  zärtlich:  Laß  nicht  mehr 
Dich  die  Gelegenheit  verfuhren; 
O  Freund,  ich  liebe  dich  zu  sehr, 
Um  dich  unwürdig  zu  verlieren. 


Zwott  Erzählung 

ICH  fand  mein  Mädchen  einst  allein 
Am  Abend  so,  wie  ich  sie  selten  finde. 
Entkleidet  sah  ich  sie;  dem  guten  Kinde 
Fiel  es  nicht  ein, 


48  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Daß  ich  so  nahe  bei  ihr  sein, 

Neugierig  sie  betrachten  könnte. 

Was  sie  mir  nie  zu  sehn  vergönnte, 

Des  Busens  volle  Blüten  wies 

Sie  dem  verschwiegnen  kalten  Spiegel,  ließ 

Das  Haar  geteilt  von  ihrem  Scheitel  fallen, 

Wie  Rosenzweig'  um  Klnospen,  um  den  Busen  wallen. 

Ganz  außer  mir  vom  niegefundnen  Glück 

Sprang  ich  hervor.  Jedoch  wie  schmollte 

Sie,  da  ich  sie  umarmen  wollte. 

Zorn  sprach  ihr  furchtsam  wilder  Blick, 

Die  eine  Hand  stieß  mich  zurück, 

Die  andre  deckte  das,  was  ich  nicht  sehen  sollte. 

Geh,  rief  sie,  soll  ich  deine  Kühnheit  dir 

Verzeihen;  eile  weg  von  hier. 

Ich,  fliehn?  Von  heißer  Glut  durchdrungen— 

Ohnmöglich — Diese  schöne  Zeit 

Von  sich  zu  stoßen!  Die  Gelegenheit 

Kömmt  nicht  so  leicht  zurück.  Voll  Zärtlichkeit 

Den  Arm  vmi  ihren  Hals  gezwungen,  stand 

Ich  neben  ihrem  Sessel,  meine  warme  Hand 

Auf  ihrem  heißen  Busen,  den  zuvor 

Sie  nie  berühret.  Hoch  empor 

Stieg  er  und  trug  die  Hand  mit  sich  empor. 

Dann  sank  mit  einem  tiefen  Atemzug  er  wieder, 

Und  zog  die  Hand  mit  sich  hernieder. 

So  stand  Dianens  Jäger  mutig  da, 

Triumph  gen  Himmel  hauchend,  als  er  sah, 

Was  ungestraft  kein  Sterblicher  noch  sah. 

Mein  Mädchen  schwieg,  tmd  sah  mich  an;  ein  Zeichen, 

Die  Grausamkeit  fing'  an  sich  zu  erweichen. 

Geschmolzen  durch  die  Fühlbarkeit. 

O  Mädchen,  soll  mit  listgen  Streichen 

Kein  Jüngling  seinen  Zweck  erreichen. 

So  müßt  ihr  niemals  ruhig  schweigen. 

Wenn  ihr  mit  ihm  alleine  seid. 


1765/8  LEIPZIG  49 

Mein  Arm  umschlang  mit  angestrengten  Sehnen 
Die  weiche  Hüfte.  Fast — fast — doch  des  Sieges  Lauf 
Hielt  schnell  ein  glühnder  Strom  von  Tränen 
Unwiderstehlich  auf. 

Sie  stürzt  mir  um  den  Hals,  rief  schluchzend:  Rette 

Mich  Unglückselige,  die  niemand  retten  kann 

Als  du,  Geliebter.  Gott!  ach  hätte 

Dir  nie  dies  Herz  gebrannt!  Ich  sah  dich,  da  begann 

Mein  Elend;  bald,  bald  ists  vollendet. 

O  Mutter,  welchen  Lohn 

Gab  ich  den  treuen  Lehren,  die  du  mir  verschwendet, 

Dies  Herz  zu  bilden!  Miißte  sich  dein  Drohn 

So  fürchterlich  erfüllen: 

Würd  ich  eine  Tat 

Vor  dir  verhüllen, 

Deinen  Rat 

Verachten,  selbst  mich  weise  dünken, 

Würd  ich  versinken. 

Ich  sinke  schon;  o  rette  mich! — 

Sei  stark^mein  Freund,  o  rette  dich! 

Wir  beide  sind  verloren — Freund,  Erbarmenl 

Noch  hielt  ich  sie  in  meinen  Armen. 

Sie  sah  voll  Angst  rings  um  sich  her. 

Wie  Wellen  auf  dem  Meer, 

Dess  Grund  erbebte,  schlug  die  Brust,  dem  Mimde 

Entrauscht'  ein  Sturm.  Sie  seufzte:  Unschuld— ach  wie  klang 

Dies  Wort  so  lieblich,  wenn  in  mittemächtger  Stunde 

An  meinem  Haupt  es  mir  mein  Engel  sang. 

Jetzt  rauschts  wie  ein  Gewitterton  vorüber, 

Sie  riefs.  Es  ward  ihr  Auge  trüber, 

Sah  stemenan.  Sie  betet:  Sieh 

Aus  deiner  Unschuldswohnung,  Herr,  auf  mich  herüber. 

Erbarme  dich!  Entzieh 

Der  reißenden  Gefahr  mich.  Du 

Vermagsts  allein;  der  ist  zu  schwach  dazu. 

Der  Mensch,  zu  dem  ich  vor  dir  betete. 

GOETHE  XIV  4. 


50  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Naht  euch,  Verführer,  deren  Wange  nie 

Von  heiigem  Graun  errötete. 

Wenn  eure  Hand  gefühllos,  wie 

Die  Schnitter  Blumen,  Unschuld  tötete, 

Und  euer  Siegerfuß,  darüber  tretend,  sie 

Durch  Hohn  zum  zweiten  Male  tötete, 

Naht  euch.  Betrachtet  hie 

Der  Vielgeliebten  Tränen  rollen; 

Hört  ihre  Seufzer,  hört  die  feuervollen 

Gebete.  Wehe  dem,  der  dann 

Noch  einen  Wunsch  zu  ihrem  Elend  wollen. 

Noch  einen  Schritt  zum  Raube  wagen  kann! 

Es  sank  mein  Arm,  aus  ihm  zur  Erd  sie  nieder. 
Ich  betet,  weint,  und  riß  mich  los  und  floh. 

Den  nächsten  Tag  fand  ich  sie  wieder 
Bei  ihrer  Mutter,  als  sie  froh 
Der  freudbetränten  Mutter  Unschuldslieder 
Mit  Engelstimmen  sang. 

O  Gott,  wie  drang  ein  Wonnestrahl  durchs  Herz  mir!  Nieder 

Zur  Erde  blickend  stand 

Ich  da.  Sie  faßt'  mich  bei  der  Hand, 

Führt'  mich  vertraulich  auf  die  Seite, 

Und  sprach:  Dank  es  dem  harten  Streite, 

Daß  du  zur  Sonn  unschuldig  blickst. 

Beim  Anblick  jener  Heilgen  nicht  erschrickst, 

Mich  nicht  verachtend  von  dir  schickst, 

Freimd,  dieses  ist  der  Tugend  Lohn; 

O,  wärst  du  gestern  tränend  nicht  entflohn, 

Du  sähst  mich  heute 

Und  ewig  nie  mit  Freude. 

AN  EINEN  JUNGEN  PRAHLER 

DIR  hat,  wie  du  mir  selbst  erzählt, 
Es  nie  an  Phillis  Gunst  gefehlt. 
Du  sprichst,  dir  hab  sie  viel  erlaubt. 
Und  du  ihr  noch  weit  mehr  geraubt. 
Doch  jetzt  kommt  sie,  es  wird  sehr  viel  davon  gesprochen, 


1765/8  LEIPZIG  51 

In  wenig  Tagen  in  die  Wochen. 

Was  könnte  nun  vom  Argwohn  dich  befrein, 

Der  Vater  dieses  Kinds  zu  sein? 

Wärst  du  nicht  gar  zu  klein! 

MADRIGAL 

MEIN  Mädchen  sagte  mir:  Wie  schön 
Ist  nicht  Olind!  ich  hab  ihn  heut  gesehn, 
Lang  sah  ich  ihn  bewundernd  an; 
Wer  hätt  ihn  nicht  bewundern  sollen? 
Geliebter,  du  wirst  doch  nicht  schmollen, 
Daß  ichs  getan? 

Ich  sprach:  Mein  Herz  fühlt  nichts  vom  Neide, 
Was  auch  dein  Mund  für  Lob  der  Schönheit  gibt; 
Denn  liebtest  du  die  schönen  Leute, 
Sprich,  hättest  du  mich  je  geliebt? 

ELEGIE 

AUF  DEN  TOD  DES  BRUDERS  MEINES  FREUNDES 

IM  düstem  Wald,  auf  der  gespaltnen  Eiche, 
Die  einst  der  Donner  hingestreckt. 
Sing  ich  um  deines  Bruders  Leiche, 
Die  fem  von  uns  ein  fremdes  Grab  bedeckt. 

Nah  schon  dem  Herbste  seiner  Jahre, 
Hofft'  er  getrost  der  Taten  Lohn; 
Doch  vmaufhaltsam  trug  die  Bahre 
Ihn  schnell  davon. 

Du  weinest  nicht? — Dir  nahm  ein  langes  Scheiden 
Die  Hoffnung,  ihn  hier  noch  einmal  zu  sehn. 
Gott  ließ  vor  dir  ihn  zu  dem  Himmel  gehn; 
Du  sahsts,  und  konntest  nichts  als  ihn  beneiden. 

Doch  horch— welch  eine  Stimm  voll  Schmerz 
Tönt  in  mein  Ohr  von  seinem  Grabe? 
Ich  eil,  ich  seh,  sie  ists!  Ihr  Herz 
Liegt  mit  in  seinem  Grabe. 

Verlassen,  ohne  Trost  liegt  hie, 
Mit  ängstlicher  Gebärde 


52  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Zu  Gott  gekehrt,  als  hoffte  sie, 
Das  schönste  Mädchen  an  der  Erde. 

Nie  hat  ein  Herz  so  viel  gelitten, 
Herr,  sieh  herab  auf  ihre  Not, 
Und  schenke  gnädig  ihren  Bitten 
Sein  Leben,  oder  ihren  Tod. 

O  Gott,  bestrafest  du  die  Liebe, 
Du  Wesen  voller  Lieb  und  Huld? 
Denn  nichts  als  eine  heiige  Liebe 
War  dieser  Unglückseigen  Schuld. 

Sie  hofft  im  hochzeitlichen  Kleide 
Bald  mit  ihm  zum  Altar  zu  ziehn; 
Da  riß  sein  Fürst  von  ihrer  Seite 
Tyrannisch  ihn. 

O  Fürst,  du  kannst  die  Menschen  zwingen, 
Für  dich  allein  ihr  Leben  zuzubringen, 
Das  wird  man  deinem  Stolz  verzeihn; 
Doch  willst  du  ihre  Seelen  binden, 
Durch  dich  zu  denken,  zu  empfinden, 
Das  muß  zu  Gott  um  Rache  schrein. 

Wie  ward  sein  großes  Herz  durchstochen, 
Als  er,  der  nie  sein  Wort  gebrochen, 
Sein  Wort  zum  ersten  Male  brach. 
Zum  erstenmal  es  der  Geliebten  brach, 
Der,  eh  es  noch  sein  Mund  versprach, 
Sein  Herz  ein  ewig  Band  versprochen. 

Als  Bürger  der  bedrängten  Erde, 

Sprach  er,  kann  ich  nie  deine  sein; 

Doch  von  der  Furcht,  daß  ich  dir  untreu  werde, 

Soll  dich  mein  Tod  befrein. 

Leb  wohl,  es  wein  bei  meinem  Grabe 

Jed  zärtlich  Herz  gerührt  von  meiner  Treu, 

Dann  eil  die  stolze  Tyrannei, 

Der  ich  schon  längst  vergeben  habe, 

Daß  sie  des  Grabes  Ursach  sei. 

Unwillig  fühlend,  schnell  vorbei. 


I 


1765/8  LEIPZIG  53 

ODE  AN  HERRN  PROFESSOR  ZACHARIAE 


SCHON  wälzen  schnelle  Räder  rasselnd  sich  und  tragen 
Dich  von  dem  unbedaurten  Ort, 
Und  angekettet  fest  an  deinem  Wagen 
Die  Freude  mit  dir  fort. 

Du  bist  uns  kaum  entwichen,  und  schwermütig  ziehen 
Aus  dumpfen  Höhlen  (denn  dahin 
Flohn  sie  bei  deiner  Ankunft,  wie  für'm  Glühen 
Der  Sonne  Nebel  fliehn) 

Verdruß  und  Langeweile.  Wie  die  Stymphaliden 
Umschwärmen  sie  den  Tisch,  imd  sprühn 
Von  ihren  Fittichen  Gift  unserm  Frieden 
Auf  alle  Speisen  hin. 

Wo  ist  sie  zu  verscheuchen  unser  gütger  Retter, 
Der  Venus  vielgeliebter  Sohn, 
Apollos  Liebling,  Liebling  aller  Götter? 
Bebt!  Er  ist  uns  entflohn. 

O  gab  er  mir  die  Stärke,  seine  mächtge  Leier 
Zu  schlagen,  die  Apoll  ihm  gab; 
Ich  rührte  sie,  dann  flöhn  die  Ungeheuer 
Erschröckt  zur  HöU  hinab. 

O  leih  mir,  Sohn  der  Maja,  deiner  Ferse  Schwingen, 

Die  du  sonst  Sterblichen  geliehn; 

Sie  reißen  mich  aus  diesem  Elend,  bringen 

Mich  nach  der  Ocker  hin. 

Dann  folg  ich  ohnerwartet  einstens  ihm  am  Flusse; 

Jedoch  so  wenig  staunet  er. 

Als  ging'  ihm,  angeheftet  seinem  Fuße, 

Sein  Schatten  hinterher. 

Von  ihm  dann  unzertrennlich  wärmt  den  jungen  Busen 

Der  Glanz,  der  glorreich  ihn  imigibt. 

Er  liebet  mich,  dann  lieben  mich  die  Musen, 

Weil  mich  ihr  Liebling  liebt. 


54  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

[An  Caroline  $chulze] 
[Von  Goethe?] 

Odu,  die  in  dem  Heiligtum  .pj 

Der  Grazien  verdient  zu  glänzen,  ^ 

Auch  ohngebeten  krönt  der  Ruhm 
Dich  mit  den  besten  Kränzen; 
Doch  soll  des  Lobes  Melodie 
Dir  immer  gleich  erschallen, 
So  gib  dir  nicht  vergebne  Müh, 
Durch  Tanzen  zu  gefallen. 


[Aus  einem  Briefe  an  seine  Schwester] 

VON  kalten  Weisen  rings  umgeben 
Sing  ich,  was  heiße  Liebe  sei; 
Ich  sing  vom  süßen  Saft  der  Reben, 
Und  Wasser  trink  ich  oft  dabei. 
* 

EN  fait  d'amour  un  favori  des  Muses 
Est  un  astre,  vers  qui  le  sentiment  humain 
Dresseroit  d'ici  bas  son  tdlescope  en  vain. 
Sa  Sphäre  est  au-dessus  de  toute  intelligence, 
L'illusion  nous  frappe  autant  que  l'existence,    . 
Et  par  le  sentiment  suffisamment  heureux. 
De  l'amour  seulement  nous  sommes  amoureux. 
Ainsi  le  fantastique  a  droit  sur  notre  hommage, 
Et  nos  feux  pour  objet  ne  veulent  qu'une  image. 

Oui,  nous  l'aimons  avec  autant  de  voluptd, 

Que  le  vulgaire  en  trouve  ä  la  rdalitd, 

La  rdalitd  m^me  est  moins  satisfaisante. 

Sous  une  m^me  forme  eile  se  reprdsente. 

Mais  une  Iris  en  l'air  en  prend  mille  en  un  jour, 

Et  la  mienne  est  bergere  et  Nymphe  tour  ä  tour. 

Brune  ou  blonde,  coqu?tte  ou  prüde,  fiUe  ou  veuve, 

Et,  comme  tu  crois  bien,  fid^le  ä  toute  dpreuve. 


1765/8  LEIPZIG  55 

An  meine  Mutter 

Obgleich  kein  Gruß,  obgleich  kein  Brief  von  mir 
So  lang  dir  kömmt,  laß  keinen  Zweifel  doch 
Ins  Herz,  als  war  die  Zärtlichkeit  des  Sohns, 
Die  ich  dir  schuldig  bin,  aus  meiner  Brust 
Entwichen.  Nein,  so  wenig  als  der  Fels, 
Der  tief  im  Fluß  vor  ewgem  Anker  liegt, 
Aus  seiner  Stätte  weicht,  obwohl  die  Flut 
Mit  stürmschen  Wellen  bald,  mit  sanften  bald 
Darüber  fließt  und  ihn  dem  Aug  entreißt. 
So  wenig  weicht  die  Zärtlichkeit  für  dich 
Aus  meiner  Brust,  obgleich  des  Lebens  Strom, 
Vom  Schmerz  gepeitscht,  bald  stürmend  drüber  fließt, 
Und  von  der  Freude  bald  gestreichelt,  still 
Sie  deckt,  tmd  sie  verhindert,  daß  sie  nicht 
Ihr  Haupt  der  Sonne  zeigt  und  ringsumher 
Zurückgeworfne  Strahlen  trägt  und  dir 
Bei  jedem  Blicke  zeigt,  wie  dich  dein  Sohn  verehrt. 


AN  ANNETTEN 

ES  nannten  ihre  Bücher 
Die  Alten  sonst  nach  Göttern, 
Nach  Musen  und  nach  Freunden, 
Doch  keiner  nach  der  Liebsten; 
Warum  sollt  ich,  Annette, 
Die  du  mir  Gottheit,  Muse 
Und  Freund  mir  bist  und  alles, 
Dies  Buch  nicht  auch  nach  deinem 
Geliebten  Namen  nennen? 


AN  MEINE  LIEDER 

SEID,  geliebte  kleine  Lieder, 
Zeugen  meiner  Fröhlichkeit; 
Ach,  sie  kömmt  gewiß  nicht  wieder, 
Dieser  Tage  Frühlingszeit. 


56  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Bald  entflieht  der  Freund  der  Scherze, 
Er,  dem  ich  euch  sang,  mein  Freund. 
Ach,  daß  auch  vielleicht  dies  Herze 
Bald  um  meine  Liebste  weint! 

Doch,  wenn  nach  der  Trennung  Leiden 
Einst  auf  euch  ihr  Auge  blickt, 
Dann  erinnert  sie  der  Freuden, 
Die  uns  sonst  vereint  erquickt. 

AN  DEN  KUCHENBÄCKER  HÄNDEL 

O  Händel,  dessen  Ruhm  vom  Süd  zum  Norden  reicht, 
Vernimm  den  Päan,  der  zu  deinen  Ohren  steigt! 
Du  bäckst,  was  Gallier  und  Briten  emsig  suchen, 
Mit  schöpfrischem  Genie,  originelle  Kuchen. 
Des  Kaffees  Ozean,  der  sich  vor  dir  ergießt, 
Ist  süßer  als  der  Saft,  der  vom  Hymettus  fließt. 
Dein  Haus,  ein  Monument,  wie  wir  den  Künsten  lohnen, 
Umhangen  mit  Trophän,  erzählt  den  Nationen: 
Auch  ohne  Diadem  fand  Händel  hier  sein  Glück, 
Und  raubte  dem  Kothurn  gar  manch  Achtgroschenstück. 
Glänzt  deine  Um  dereinst  in  majestätschem  Pompe, 
Dann  weint  der  Patriot  an  deiner  Katakombe. 
Doch  leb!  dein  Toms  sei  von  edler  Bmt  ein  Nest. 
Steh  hoch  wie  der  Olymp,  wie  der  Pamassus  fest! 
Kein  Phalanx  Griechenlands  mit  römischen  Ballisten 
Vermög  Germanien  und  Händeln  zu  verwüsten. 
Dein  Wohl  ist  unser  Stolz,  dein  Leiden  imser  Schmerz, 
Und  Händeis  Tempel  ist  der  Musensöhne  Herz. 

BRAUTNACHT 

IM  Schlafgemach,  entfemt  vom  Feste, 
Sitzt  Amor  dir  getreu  und  bebt. 
Daß  nicht  die  List  mutwillger  Gäste 
Des  Brautbetts  Frieden  untergräbt. 
Es  blinkt  mit  mystisch  heiigem  Schimmer 
Vor  ihm  der  Flammen  blasses  Gold, 
Ein  Weihrauchswirbel  füllt  das  Zimmer, 
Damit  ihr  recht  genießen  sollt. 


1765/8  LEIPZIG  57 

Wie  schlägt  dein  Herz  beim  Schlag  der  Stunde, 

Der  deiner  Gäste  Lärm  verjagt, 

Wie  glühst  du  nach  dem  schönen  Munde, 

Der  bald  verstummt  und  nichts  versagt. 

Du  eilst,  um  alles  zu  vollenden, 

Mit  ihr  ins  Heiligtum  hinein; 

Das  Feuer  in  des  Wächters  Händen 

Wird  wie  ein  Nachtlicht  still  und  klein. 

Wie  bebt  vor  deiner  Küsse  Menge 
Ihr  Busen  und  ihr  voll  Gesicht; 
Zum  Zittern  wird  nun  ihre  Strenge, 
Denn  deine  Kühnheit  wird  ztu:  Pflicht. 
Schnell  hilft  dir  Amor  sie  entkleiden 
Und  ist  nicht  halb  so  schnell  als  du; 
Dann  hält  er  schalkhaft  imd  bescheiden 
Sich  fest  die  beiden  Augen  zu. 


LE  VfiRITABLE  AMI 

VA  te  sdvrer  des  baisers  de  ta  belle, 
Me  dit  un  jour  l'ami;  par  son  air  s^duisant, 
Ses  yeux  persans,  par  son  teint  eclatant, 
Sa  taille  mince,  son  langage  amüsant 
Elle  te  pourroit  bien  deranger  la  cervelle; 
Fuis  de  cette  beaute  le  dangereux  amourl 
Mais  pour  te  faire  voir  ä  quel  degrd  je  t'aime, 
Je  veux  t'öter  tout  espoir  du  retour 
En  m'en  faisant  aimer  moi-meme. 


DREI  ODEN  AN  MEINEN  FREUND  BEHRISCH 

Erste  Ode 
"ERPFLANZE  den  schönen  Baum. 


v; 


Gärtner,  er  jammert  mich. 
Glücklicheres  Erdreich 
Verdiente  der  Stamm. 


58  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Noch  hat  seiner  Natur  Kraft 
Der  Erde  aussaugendem  Geize, 
Der  Luft  verderbender  Fäulnis, 
Ein  Gegengift,  widerstanden. 

Sieh,  wie  er  im  Frühling 
Lichtgrüne  Blätter  schlägt, 
Ihr  Orangenduft 
Ist  dem  Geschmeiße  Gift. 

Der  Raupen  tückischer  Zahn 
Wird  stumpf  an  ihnen, 
Es  blinkt  ihr  Silberglanz 
Im  Sonnenscheine. 

Von  seinen  Zweigen 
Wünscht  das  Mädchen 
Im  Brautkranze, 
Früchte  hoffen  Jünglinge. 

Aber  sieh,  der  Herbst  kömmt, 
Da  geht  die  Raupe, 
Klagt  der  listigen  Spinne 
Des  Baums  Unverwelklichkeit. 

Schwebend  zieht  sich 
Von  ihrer  Taxuswohnung 
Die  Prachtfeindin  herüber 
Zum  wohltätigen  Baume 

Und  kann  nicht  schaden. 
Aber  die  Vielkünstliche 
Überzieht  mit  grauem  Ekel 
Die  Silberblätter, 

Sieht  triumphierend, 

Wie  das  Mädchen  schaurend, 

Der  Jüngling  jammernd 

Vorübergeht. 


1765/8  LEIPZIG  59 

Verpflanze  den  schönen  Baum, 
Gärtner,  er  jammert  mich. 
Baum,  danke  dem  Gärtner, 
Der  dich  verpflanzt! 

Zwote  Ode 

DU  gehst!  Ich  murre. 
Geh!  Laß  mich  murren. 
Ehrlicher  Mann, 
Fliehe  dieses  Land. 

Tote  Sümpfe, 
Dampfende  Oktobernebel 
Verweben  ihre  Ausflüsse 
Hier  unzertrennlich. 

Gebärort 

Schädlicher  Insekten, 
Mördeihülle 
Ihrer  Bosheit. 

Am  schilfichten  Ufer 
Liegt  die  wollüstige, 
Flammengezüngte  Schlange, 
Gestreichelt  vom  Sonnenstrahl. 

Fliehe  sanfte  Nachtgänge 
In  der  Mondendämmerung, 
Dort  halten  zuckende  Kröten 
Zusammenkünfte  auf  Kreuzwegen. 

Schaden  sie  nicht, 
Werden  sie  schrecken. 
Ehrlicher  Mann, 
Fliehe  dieses  Land! 

Dritte  Ode 

SEI  gefühllos! 
Ein  leichtbewegtes  Herz 
Ist  ein  elend  Gut 
Auf  der  wankenden  Erde. 


6o  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Behrisch,  des  Frühlings  Lächeln 
Erheitre  deine  Stime  nie; 
Nie  trübt  sie  dann  mit  Verdruß 
Des  Winters  stürmischer  Ernst. 

Lehne  dich  nie  an  des  Mädchens 
Sorgenverwiegende  Brust, 
Nie  auf  des  Freundes 
Elendtragenden  Arm. 

Schon  versammelt 

Von  seiner  Klippenwarte 

Der  Neid  auf  dich 

Den  ganzen  luchsgleichen  Blick, 

Dehnt  die  Klauen, 
Stürzt  und  schlägt 
Hinterlistig  sie 
Dir  in  die  Schultern. 

Stark  sind  die  magern  Arme, 
Wie  Pantherarme; 
Er  schüttelt  dich 
Und  reißt  dich  los. 

Tod  ist  Trennung, 
Dreifacher  Tod 
Trennung  ohne  Hoffnung, 
Wiederzusehn. 

Gerne  verließest  du 
Dieses  gehaßte  Land, 
Hielte  dich  nicht  Freundschaft 
Mit  Blumenfesseln  an  mir. 

Zerreiß  sie!  Ich  klage  nicht. 
Kein  edler  Freimd 
Hält  den  Mitgefangnen, 
Der  fliehn  kann,  zurück. 

Der  Gedanke 

Von  des  Freundes  Freiheit 

Ist  ihm  Freiheit 

Im  Kerker. 


1765/8  LEIPZIG  61 

Du  gehst,  ich  bleibe. 

Aber  schon  drehen 

Des  letzten  Jahrs  Flügelspeichen 

Sich  lim  die  rauchende  Achse. 

Ich  zähle  die  Schläge 

Des  donnernden  Rads, 

Segne  den  letzten, 

Da  springen  die  Riegel,  frei  bin  ich  wie  du. 


DER  WAHRE  GENUSS 

UMSONST,  daß  du,  ein  Herz  zu  lenken, 
Des  Mädchens  Schoß  mit  Golde  füllst. 
O  Fürst,  laß  dir  die  Wollust  schenken, 
Wenn  du  sie  wahr  empfinden  willst. 
Gold  kauft  die  Zimge  ganzer  Haufen, 
Kein  einzig  Herz  erwirbt  es  dir; 
Doch  willst  du  eine  Tugend  kaufen, 
So  geh  und  gib  dein  Herz  dafür. 

Was  ist  die  I.ust,  die  in  den  Armen 
Der  Buhlerin  die  Wollust  schafft? 
Du  wärst  ein  Vorwiu-f  zum  Erbarmen, 
Ein  Tor,  wärst  du  nicht  lasterhaft. 
Sie  küsset  dich  aus  feilem  Triebe, 
Und  Glut  nach  Gold  füllt  ihr  Gesicht. 
Unglücklicher!  Du  fühlst  nicht  Liebe, 
Sogar  die  Wollust  fühlst  du  nicht. 

Sei  ohne  Tugend,  doch  verliere 
Den  Vorzug  eines  Menschen  nie! 
Denn  Wollust  fühlen  alle  Tiere, 
Der  Mensch  allein  verfeinert  sie. 
Laß  dich  die  Lehren  nicht  verdrießen, 
Sie  hindern  dich  nicht  am  Genuß, 
Sie  lehren  dich,  wie  man  genießen 
Und  Wollust  würdig  fühlen  muß. 


62  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Soll  dich  kein  heilig  Band  umgeben, 
O  Jüngling,  schränke  selbst  dich  ein. 
Man  kann  in  wahrer  Freiheit  leben, 
Und  doch  nicht  ungebunden  sein. 
Laß  nur  für  Eine  dich  entzünden, 
Und  ist  ihr  Herz  von  Liebe  voll, 
So  laß  die  Zärtlichkeit  dich  binden. 
Wenn  dich  die  Pflicht  nicht  binden  soll. 

Empfinde,  Jüngling,  und  dann  wähle 
Ein  Mädchen  dir,  sie  wähle  dich. 
Von  Körper  schön  imd  schön  von  Seele, 
Und  dann  bist  du  beglückt  wie  ich! 
Ich,  der  ich  diese  Kunst  verstehe. 
Ich  habe  mir  ein  Kind  gewählt, 
Daß  uns  zum  Glück  der  schönsten  Ehe 
Allein  des  Priesters  Segen  fehlt. 

Für  nichts  besorgt  als  meine  Freude, 
Für  mich  nur  schön  zu  sein  bemüht, 
Wollüstig  nur  an  meiner  Seite, 
Und  sittsam,  wenn  die  Welt  sie  sieht. 
Daß  unsrer  Glut  die  Zeit  nicht  schade, 
Räumt  sie  kein  Recht  aus  Schwachheit  ein, 
Und  ihre  Gunst  bleibt  immer  Gnade, 
Und  ich  muß  immer  dankbar  sein. 

Ich  bin  genügsam  tmd  genieße 
Schon  da,  wenn  sie  mir  zärtlich  lacht. 
Wenn  sie  beim  Tisch  des  Liebsten  Füße 
Ziun  Schemel  ihrer  Füße  macht, 
Den  Apfel,  den  sie  angebissen. 
Das  Glas,  woraus  sie  trank,  mir  reicht 
Und  mir,  bei  halbgeraubten  Küssen, 
Den  sonst  verdeckten  Busen  zeigt. 

Wenn  in  gesellschaftlicher  Stunde 
Sie  einst  mit  mir  von  Liebe  spricht, 
Wünsch  ich  nur  Worte  von  dem  Munde, 
Nur  Worte,  Küsse  wünsch  ich  nicht. 


1765/8  LEIPZIG  63 

Welch  ein  Verstand,  der  sie  beseelet, 
Mit  immer  neuem  Reiz  umgibt! 
Sie  ist  vollkommen,  imd  sie  fehlet 
Darin  allein,  daß  sie  mich  liebt. 

Die  Ehrfurcht  wirft  mich  ihr  zu  Füßen, 
Die  Wollust  mich  an  ihre  Brust. 
Sieh,  Jünghng,  dieses  heißt  genießen! 
Sei  klug  imd  suche  diese  Lust. 
Der  Tod  führt  einst  von  ihrer  Seite 
Dich  auf  zmn  englischen  Gesang, 
Dich  zu  des  Paradieses  Freude, 
Und  du  fühlst  keinen  Übergang. 

[An  Corona  Schröter] 
[Von  Goethe?] 

UNWIDERSTEHLICH  muß  die  Schöne  uns  entzücken, 
Die  frommer  Andacht  Reize  schmücken. 
Wenn  jemand  diesen  Satz  durch  Zweifeln  noch  entehrt, 
So  hat  er  dich  niemals  als  Helena  gehört. 

DIE  SCHÖNE  NACHT 

NUN  verlass  ich  diese  Hütte, 
Meiner  Liebsten  Aufenthalt, 
Wandle  mit  verhülltem  Schritte 
Durch  den  öden  finstern  Wald. 
Luna  bricht  durch  Busch  und  Eichen, 
Zephir  meldet  ihren  Lauf, 
Und  die  Birken  streim  mit  Neigen 
Ihr  den  süßten  Weihrauch  auf. 

Wie  ergötz  ich  mich  im  Kühlen 
Dieser  schönen  Sommernacht! 
O  wie  still  ist  hier  zu  fühlen, 
Was  die  Seele  glücklich  macht! 
Läßt  sich  kaum  die  Wonne  fassen! 
Und  doch  wollt  ich,  Himmel,  dir 
Tausend  solcher  Nächte  lassen, 
Gab  mein  Mädchen  Eine  mir. 


64        LYRISCHE  DICHTUNGEN 
SCHADENFREUDE 

IN  des  Papillons  Gestalt 
Flattr  ich,  nach  den  letzten  Zügen, 
Zu  den  vielgeliebten  Stellen, 
Zeugen  himmlischer  Vergnügen, 
Über  Wiesen,  an  die  Quellen, 
Um  den  Hügel,  durch  den  Wald. 

Ich  belausch  ein  zärtlich  Paar, 
Von  des  schönen  Mädchens  Haupte 
Aus  den  Kränzen  schau  ich  nieder. 
Alles,  was  der  Tod  mir  raubte. 
Seh  ich  hier  im  Bilde  wieder, 
Bin  so  glücklich,  wie  ich  war. 

Sie  umarmt  ihn  lächelnd  stumm, 
Und  sein  Mund  genießt  der  Stunde, 
Die  ihm  gütge  Götter  senden. 
Hüpft  vom  Busen  zu  dem  Mimde, 
Von  dem  Munde  zu  den  Händen, 
Und  ich  hüpf  um  ihn  herum. 

Und  sie  sieht  mich  Schmetterling. 
Zitternd  vor  des  Freunds  Verlangen, 
Springt  sie  auf,  da  flieg  ich  ferne. 
''Liebster,  komm,  ihn  einzufangen! 
Komm!  ich  hätt  es  gar  zu  gerne, 
Gern  das  kleine  bunte  Ding." 

AN  VENUS 

GROSSE  Venus,  mächtge  Göttin! 
Schöne  Venus,  hör  mein  Flehn. 
Nie  hast  du  mich 
Über  Krügen  vor  dem  Bacchus 
Auf  der  Erden  liegen  sehn. 

Keinen  Wein  hab  ich  getrunken, 
Den  mein  Mädchen  nicht  gereicht, 
Nie  getrunken. 

Daß  ich  nicht  voll  gütger  Sorge 
Deine  Rosen  erst  gesäugt. 


1765/8  LEIPZIG 

Und  dann  goß  ich  auf  dies  Herze, 
Das  schon  längst  dein  Altar  ist, 
Von  dem  Becher 
Güldne  Flammen,  und  ich  glühte, 
Und  mein  Madchen  ward  geküßt. 

Dir  allein  empfand  dies  Herze, 
Göttin,  gib  mir  einen  Lohn. 
Aus  dem  Lethe 

Soll  ich  trinken,  wenn  ich  sterbe. 
Ach,  befreie  mich  davon. 

Laß  mir,  Gütige — dem  Minos 
Seis  an  meinem  Tod  genung — 
Mein  Gedächtnis! 
Denn  es  ist  ein  zweites  Glücke 
Eines  Glücks  Eriimermig. 

GLÜCK  UND  TRAUM 

DU  hast  uns  oft  im  Tratmi  gesehen 
Zusammen  zum  Altare  gehen, 
Und  dich  als  Frau,  imd  mich  als  Mann. 
Oft  nahm  ich  wachend  deinem  Munde 
In  einer  unbewachten  Stunde, 
So  viel  man  Küsse  nehmen  kann. 

Das  reinste  Glück,  das  wir  empfunden 
Die  Wollust  mancher  reichen  Stunden 
Floh  wie  die  Zeit  mit  dem  Genuß. 
Was  hilft  es  mir,  daß  ich  genieße? 
Wie  Träume  fliehn  die  wärmsten  Küsse, 
Und  alle  Freude  wie  ein  Kuß. 


65 


WUNSCH  EINES  JUNGEN  MÄDaiENS 

fände  für  mich 
Ein  Bräutigam  sich! 

Wie  schön  ists  nicht  da, 

Man  nennt  uns  Mama. 


o 


GOETHE  XIV  s- 


66  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Da  braucht  man  zum  Nähen, 
Zur  Schul  nicht  zu  gehen; 
Da  kann  man  befehlen, 
Hat  Mägde,  darf  schmälen, 
Man  wählt  sich  die  Kleider, 
Nach  Gusto  den  Schneider; 
Da  läßt  man  spazieren, 
Auf  Bälle  sich  führen, 
Und  fragt  nicht  erst  lange 
Papa  imd  Mama. 

DIE  FREUDEN 

ES  flattert  um  die  Quelle 
Die  wechselnde  Libelle, 
Mich  freut  sie  lange  schon; 
Bald  dunkel  und  bald  helle. 
Wie  der  Chamäleon, 
Bald  rot,  bald  blau, 
Bald  blau,  bald  grün. 
O  daß  ich  in  der  Nähe 
Doch  ihre  Farben  sähe! 

Sie  schwirrt  und  schwebet,  rastet  nie! 
Doch  still,  sie  setzt  sich  an  die  Weiden. 
Da  hab  ich  sie!  Da  hab  ich  sie! 
Und  nun  betracht  ich  sie  genau. 
Und  seh  ein  tramrig  dunkles  Blau — 

So  geht  es  dir,  Zergliedrer  deiner  Freuden! 

LIEBE  UND  TUGEND 

WENN  einem  Mädchen,  das  uns  liebt, 
Die  Mutter  strenge  Lehren  gibt 
Von  Tugend,  Keuschheit  und  von  Pflicht, 
Und  unser  Mädchen  folgt  ihr  nicht 
Und  fliegt  mit  neu  verstärktem  Triebe 
Zu  unsem  heißen  Küssen  hin, 
Da  hat  daran  der  Eigensinn 
So  vielen  Anteil  als  die  Liebe. 


1765/8  LEIPZIG  67 

Doch  wenn  die  Matter  es  erreidit. 
Daß  sie  das  gute  Herz  erweicht, 
Voll  Stolz  anf  ihre  Lehren  sieht. 
Daß  ans  das  Mädchen  spröde  flieht, 
So  kennt  sie  nicht  das  Herz  der  Jagend; 
Denn  wenn  das  je  ein  Mädchen  tut. 
So  hat  daran  der  Wankelmut 
Gewiß  mehr  Anteil  als  die  Tugend. 

WECHSEL 

AUF  Eäeseln  im  Badie  da  lieg  ich,  wie  helle! 
Verbreite  die  Arme  der  kommenden  WeUe, 
Und  buhlerisch  drückt  sie  die  sehnende  Brust; 
Dann  fuhrt  sie  der  Leichtsinn  im  Strome  danieder, 
Es  naht  sich  die  zweite,  sie  streichelt  mich  wieden 
So  fühl  ich  die  Freuden  der  wechselnden  Lust. 

Und  doch,  und  so  traurig,  verschleiß  du  vergebens 

Die  köstlichen  Stunden  des  eilenden  Lebens, 

Weil  dich  das  geliebteste  Mädchen  vergißt! 

O  ruf  sie  zurücke,  die  vorigen  Zeiten! 

Es  küßt  sich  so  süße  die  Lippe  der  Zweiten, 

Als  kaum  sich  die  Lippe  der  Ersten  geküßt. 

KINDERVERSTAND 

IN  großen  Städten  lemoi  früh 
Die  jüngsten  Knaben  was; 
Denn  manche  Bücher  lesen  sie 
Und  hören  dies  und  das 
Vom  Lieben  und  vom  Küssen, 
Sie  brauchtens  m'cht  zu  wissen. 
Und  mancher  ist  im  zwölften  Jahr 
Fast  kliiger,  als  sein  Vater  war, 
Da  er  die  Mutter  nahm. 

Das  Mädchen  wünscht  von  Jugend  auf 
Sich  hochgeehrt  zu  sehn, 
Sie  zieit  sich  klein  und  wächst  herauf 
In  Pracht  und  Assembleen. 


68  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Der  Stolz  verjagt  die  Triebe 

Der  Wollust  und  der  Liebe; 

Sie  sinnt  nur  drauf,  wie  sie  sich  ziert, 

Ein  Aug  entzückt,  ein  Herze  rührt, 

Und  denkt  ans  andre  nicht. 

Auf  Dörfern  siehts  ganz  anders  aus, 

Da  treibt  die  liebe  Not 

Die  Jungen  auf  das  Feld  hinaus 

Nach  Arbeit  und  nach  Brot. 

Wer  von  der  Arbeit  müde, 

Läßt  gern  den  Mädchen  Friede, 

Und  wer  noch  obendrein  nichts  weiß. 

Der  denkt  an  nichts,  den  macht  nichts  heiß; 

So  gehts  den  Bauern  meist. 

Die  Bauermädchen  aber  sind 

In  Ruhe  mehr  genährt, 

Und  darum  wünschen  sie  geschwind, 

Was  jede  Mutter  wehrt. 

Oft  stoßen  schäkernd  Bräute 

Den  Bräutgam  in  die  Seite; 

Denn  von  der  Arbeit,  die  sie  tun, 

Sich  zu  erholen,  auszuruhn, 

Das  können  sie  dabei. 

DER  MISANTHROP 

A. 

ERST  sitzt  er  eine  Weile, 
Die  Stirn  von  Wolken  frei; 
Auf  einmal  kömmt  in  Eile 
Sein  ganz  Gesicht  der  Eule 
Verzerrtem  Ernste  bei. 

B. 

Sie  fragen,  was  das  sei? 
Lieb  oder  lange  Weile? 

C. 

Ach,  sie  sinds  alle  zwei. 


1768-1770  FRANKFURT 


DIE  LIEBE  WIDER  WILLEN 

ICH  weiß  es  wohl  und  spotte  viel: 
Ihr  Mädchen  seid  voll  Wankelmut! 
Ihr  liebet,  wie  im  Kartenspiel, 
Den  David  und  den  Alexander; 
Sie  sind  ja  Forcen  miteinander, 
Und  die  sind  miteinander  gut. 

Doch  bin  ich  elend  wie  zuvor, 

Mit  misanthropischem  Gesicht, 

Der  Liebe  Sklav,  ein  armer  Tor! 

Wie  gern  war  ich  sie  los,  die  Schmerzen! 

Allein  es  sitzt  zu  tief  im  Herzen, 

Und  Spott  vertreibt  die  Liebe  nicht. 


LEBENDIGES  ANDENKEN 

DER  Liebsten  Band  imd  Schleife  rauben^ 
Halb  mag  sie  zürnen,  halb  erlauben. 
Euch  ist  es  viel,  ich  will  es  glauben 
Und  gönn  euch  solchen  Selbstbetrug: 
Ein  Schleier,  Halstuch,  Strumpfband,  Ringe 
Sind  wahrlich  keine  kleinen  Dinge; 
Allein  mir  sind  sie  nicht  genug. 

Lebendgen  Teil  von  ihrem  Leben, 
Ihn  hat  nach  leisem  Widerstreben 
Die  Allerliebste  mir  gegeben. 
Und  jene  Herrlichkeit  wird  nichts. 
Wie  lach  ich  all  der  Trödelware! 
Sie  schenkte  mir  die  schönen  Haare, 
Den  Schmuck  des  schönsten  Angesichts. 

Soll  ich  dich  gleich,  Geliebte,  missen, 
Wirst  du  mir  doch  nicht  ganz  entrissen: 
Zu  schaun,  zu  tändeln  und  zu  küssen 
Bleibt  die  Reliquie  von  dir. — 
Gleich  ist  des  Haars  und  mein  Geschicke: 
Sonst  buhlten  wir  mit  Einem  Glücke 
Um  sie,  jetzt  sind  wir  fern  von  ihr. 


72  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Fest  waren  wir  an  sie  gehangen; 
Wir  streichelten  die  runden  Wangen, 
Uns  lockt'  und  zog  ein  süß  Verlangen, 
Wir  gleiteten  zur  vollem  Brust. 
O  Nebenbuhler,  frei  von  Neide, 
Du  süß  Geschenk,  du  schöne  Beute, 
Erinnre  mich  an  Glück  und  Lust! 


GLÜCK  DER  ENTFERNUNG 

TRINK,  o  Jüngling!  heiiges  Glücke 
Taglang  aus  der  Liebsten  Blicke; 
Abends  gaukl  ihr  Bild  dich  ein. 
Kein  Verliebter  hab  es  besser; 
Doch  das  Glück  bleibt  immer  größer, 
Fern  von  der  Geliebten  sein. 

Ewge  Kräfte,  Zeit  und  Ferne, 
Heimlich  wie  die  Kraft  der  Sterne, 
Wiegen  dieses  Blut  zur  Ruh. 
Mein  Gefühl  wird  stets  erweichter; 
Doch  mein  Herz  wird  täglich  leichter, 
Und  mein  Glück  nimmt  immer  zu. 

Nirgends  kann  ich  sie  vergessen. 
Und  doch  kann  ich  ruhig  essen, 
Heiter  ist  mein  Geist  und  frei; 
Und  immerkliche  Betörung 
Macht  die  Liebe  zur  Verehrung, 
Die  Begier  zur  Schwärmerei. 

•Aufgezogen  durch  die  Sonne 
Schwimmt  im  Hauch  ätherscher  Wonne 
So  das  leichtste  Wölkchen  nie, 
Wie  mein  Herz  in  Ruh  und  Freude. 
Frei  von  Furcht,  zu  groß  zum  Neide, 
Lieb  ich,  ewig  lieb  ich  sie! 


1768/70  FRANKFURT 

ANLUNA 

SCHWESTER  von  dem  ersten  Licht, 
Bild  der  Zärtlichkeit  in  Trauer! 
Nebel  schwimmt  mit  Silberschauer 
Um  dein  reizendes  Gesicht; 
Deines  leisen  Fußes  Lauf 
Weckt  aus  tagverschloßnen  Höhlen 
Traurig  abgeschiedne  Seelen, 
Mich  und  nächtge  Vögel  auf. 

Forschend  übersieht  dein  Blick 
Eine  großgemeßne  Weite. 
Hebe  mich  an  deine  Seite! 
Gib  der  Schwärmerei  dies  Glück, 
Und  in  wollustvoller  Ruh 
Sah  der  weitverschlagne  Ritter 
Durch  das  gläserne  Gegitter 
Seines  Mädchens  Nächten  zn. 

Des  Beschauens  holdes  Glück 
Mildert  solcher  Feme  Qualen, 
Und  ich  sammle  deine  Strahlen, 
Und  ich  schärfe  meinen  Blick; 
Hell  und  heller  wird  es  schon 
Um  die  unverhüllten  Glieder, 
Und  nun  zieht  sie  mich  hernieder. 
Wie  dich  einst  Endymion. 


73 


M 


AN  MADEMOISELLE  OESER  ZU  LEIPZIG 
AMSELL, 


So  laimisch  wie  ein  Kind,  das  zahnt, 
Bald  schüchtern  wie  ein  Kaufinann,  den  man  mahnt, 
Bald  still  wie  ein  Hypochondrist, 
Und  sittig  wie  ein  Mennonist, 
Und  folgsam  wie  ein  gutes  Lamm, 
Bald  lustig  wie  ein  Bräutigam, 
Leb  ich  und  bin  halb  krank  und  halb  gesimd, 
Am  ganzen  Leibe  wohl,  nur  in  dem  Halse  wund; 


74  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Sehr  mißvergnügt,  daß  meine  Lunge 

Nicht  so  viel  Atem  reicht,  als  meine  Zunge 

Zu  manchen  Zeiten  braucht,  wenn  sie  mit  Stolz  erzählt, 

Was  ich  bei  euch  gehabt,  und  was  mir  jetzt  hier  fehlt. 

Da  sucht  man  nun  mit  Macht  mir  neues  Leben 
Und  neuen  Mut  und  neue  Kraft  zu  geben; 
Drum  reichet  mir  mein  Doktor  Medicinä 
Extrakte  aus  der  Cortex  China, 
Die  junger  Herrn  erschlaffte  Nerven 
An  Augen,  Fuß  imd  Hand 
Aufs  neue  stärken,  den  Verstand 
Und  das  Gedächtnis  schärfen. 

Besonders  ist  er  drauf  bedacht, 
Durch  Ordnung  wieder  einzubringen, 
Was  Unordnung  so  schlimm  gemacht. 
Und  heißt  mich  meinen  Willen  zwingen. 

"Bei  Tag,  und  sonderUch  bei  Nacht, 

Nur  an  nichts  Reizendes  gedacht!" 

Welch  ein  Befehl  für  einen  Zeichnergeist, 

Den  jeder  Reiz  bis  zum  Entzücken  reißt! 

Des  Bouchers  Mädchen  nimmt  er  mir 

Aus  meiner  Stube,  hängt  dafür 

Mir  eine  abgelebte  Frau, 

Mit  riefigem  Gesicht,  mit  halbzerbrochnem  Zahne, 

Vom  fleißig  kalten  Gerhard  Dow 

An  meine  Wand;  langweilige  Tisane 

Setzt  er  mir  statt  des  Weins  dazu. 

O  sage  du, 

Kann  man  was  Traurigers  erfahren? 

Am  Körper  alt  und  jung  an  Jahren, 

Halb  siech  und  halb  gesund  zu  sein? 

Das  gibt  so  melancholsche  Laune, 

Und  ihre  Pein 

Würd  ich  nicht  los,  und  hätt  ich  sechs  Alraune. 

Was  nützte  mir  der  ganzen  Erde  Geld? 

Kein  kranker  Mensch  genießt  die  Welt. 


1768/70  FRANKFURT  75 

Und  dennoch  wollt  ich  gar  nicht  klagen, 
Denn  ich  bin  schon  im  Leiden  sehr  geübt, 
Hätt  ich  nur  das,  was  uns,  die  Plagen, 
Die  Last  der  Krankheit  zu  ertragen, 
Mehr  Kraft  als  selbst  die  Tugend  gibt, 
Verkürzung  grauer  Regenstunden, 
Balsamsches  Pflaster  aller  Wunden: 
Gesellschaftsgeister,  die  man  liebt. 

Zwar  hab  ich  hier  an  meiner  Seite 

Beständig  rechte  gute  Leute, 

Die  mit  mir  leiden,  wenn  ich  leide; 

Sie  sorgen  mir  für  manche  Freude, 

Es  fehlt  mir  nur  an  mir,  um  recht  beglückt  zu  sein. 

Und  dennoch  kenn  ich  niemand,  der  die  Pein 

Des  Schmerzens  so  behende  stillt,  die  Ruh 

Mit  Einem  Bhck  der  Seele  schenkt,  wie  du. 

Ich  kam  zu  dir,  ein  Toter  aus  dem  Grabe, 

Den  bald  ein  zweiter  Tod  zum  zweitenmal  begräbt; 

Und  wem  er  nur  einmal  recht  nah  ums  Haupt  geschwebt, 

Der  bebt 

Bei  der  Erinnerung  gewiß,  solang  er  lebt. 

Ich  weiß,  wie  ich  gezittert  habe; 

Doch  machtest  du  mit  deiner  süßen  Gabe 

Ein  Blumenbeet  mir  aus  dem  Grabe, 

Erzähltest  mir,  wie  schön,  wie  kummerfrei, 

Wie  gut,  wie  süß  dein  selig  Leben  sei. 

Mit  einem  Ton  von  solcher  Schmeichelei, 

Daß  ich,  was  mir  das  Elend  jemals  raubte. 

Weil  dus  besaßst,  selbst  zu  besitzen  glaubte. 

Zufrieden  reist  ich  fort  und,  was  noch  mehr  ist,  froh, 

Und  ganz  war  meine  Reise  so. 

Ich  kam  hierher  und  fand  das  Frauenzimmer 

Ein  bißchen— ja  man  sagts  nicht  gern— wie  immer; 

Gnug,  bis  hierher  hat  keine  mich  gerührt. 

Zwar  sag  ich  nicht,  was  einst  Herr  Schübler 

Von  Hamburgs  Schönen  prädiziert, 

Doch  bin  ich  auch  ein  starker  Grübler, 


76  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Seitdem  ihr  Mädchen  mich  verführt, 

Die  ich  wohl  schwerlich  je  vergesse; 

Und  da  begreifst  du  wohl,  daß  jede  leicht  verliert, 

Die  ich  nach  eurem  Maßstab  messe. 

Du  lieber  Gott!  an  Munterkeit  ist  hie, 

An  Einsicht  und  an  Witz  dir  keine  einzge  gleich; 

Und  deiner  Stimme  Harmonie, 

Wie  käme  die  heraus  ins  Reich. 

So  ein  Gespräch,  wie  unsers  war,  im  Garten, 
Und  in  der  Loge  noch,  mit  diesem  seltnen  Zug, 
So  aufgeweckt  und  doch  so  klug. 
Ja,  darauf  kann  ich  warten. 

Bin  ich  bei  Mädchen  launisch  froh. 

So  sehn  sie  sittenrichtrisch  sträflich; 

Da  heißts:  Der  Herr  ist  wohl  aus  Bergamo? 

Sie  sagens  nicht  einmal  so  höflich. 

Zeigt  man  Verstand,  so  ist  auch  das  nicht  recht. 

Denn  will  sich  einer  nicht  bequemen, 

Des  Grandisons  ergebner  Knecht 

Zu  sein  und  alles  blindlings  anzunehmen. 

Was  der  Diktator  spricht. 

Den  lacht  man  aus,  den  hört  man  nicht. 

Wie  seid  ihr  nicht  so  gut,  so  euch  zu  bessern  willig, 

Auf  eigne  Fehler  streng,  und  gegen  fremde  billig, 

Und  zum  Gefallen  ohnbemüht, 

Ist  niemand,  den  ihr  nicht  gewönnet. 

Ah,  man  ist  euer  Freund,  so  wenig  man  euch  kennet, 

Man  liebt  euch,  eh  mans  sich  versieht. 

Mit  einem  Mädchen  hier  zu  Lande 

Ists  aber  ein  langweilig  Spiel, 

Zur  Freundschaft  fehlts  ihr  am  Verstände, 

Zur  Liebe  fehlts  ihr  am  Gefühl. 

Drauf  ging'  ich  ganz  gewiß,  hätt  ich  nicht  so  viel  Laune, 
Brach  ich  mir  nicht  gar  manche  Lust  vom  Zaune, 
Lacht  ich  nicht  da,  wo  keine  Seele  lacht; 
Und  dächt  ich  nicht,  daß  ihr  schon  oft  an  mich  gedacht. 


1768/70  FRANKFURT  77 

Ja,  denken  müßt  ihr  oft  an  mich,  das  sage 
Ich  euch,  besonders  an  dem  Tage, 
Wenn  ihr  auf  euerm  Landgut  seid, 
Dem  Ort,  der  mir  so  manche  Plage 
Gemacht,  dem  Ort,  der  mich  so  sehr  erfreut. 

Doch  du  verstehst  mich  nicht;  ich  will  es  dir  erklären, 

Ich  weiß  doch,  du  verzeihst  es  mir. 

Die  Lieder,  die  ich  dir  gegeben,  die  gehören 

Als  wahres  Eigentum  dem  schönen  Ort  und  dir. 

Wenn  mich  mein  böses  Mädchen  plagte. 
Wenn  der  Verdruß  mich  aus  den  Mauern  jagte, 
War  ich  verwegen  gnug  und  wagte 
Dich  aufzusuchen,  eh  es  tagte, 
Auf  deinen  Feldern,  die  du  liebst, 
Die  du  mir  oft  so  schön  beschriebst. 

Da  ging  ich  nun  in  deinem  Paradiese, 
In  jedem  Holz,  auf  jeder  Wiese, 
Am  Fluß,  am  Bach,  das  hoffende  Gesicht 
Vom  Morgenstrahl  geschminkt,  imd  sucht  und — fand  dich 

nicht. 

Dann  schlug  ich,  angereizt  von  launischem  Verdrusse, 
Den  armen  Frosch  am  sonnbestrahlten  Flusse, 
Dann  jagt  ich  ringsumher  und  fing 
Bald  einen  Reim,  bald  einen  Schmetterling. 

Und  mancher  Reim  und  mancher  Schmetterling 

Entging 

Der  ausgestreckten  Hand,  die  mitten 

In  ihrem  Haschen  stille  stand, 

Wenn  aus  dem  Wald  von  Stimmen  oder  Tritten 

Den  Schall  mein  lauschend  Ohr  empfand. 

Am  Tage  sang  ich  diese  Lieder, 
Am  Abend  ging  ich  wieder  heim, 
Nahm  meine  Feder,  schrieb  sie  nieder, 
Den  guten  vmd  den  schlechten  Reim. 


78  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Oft  kehrt  ich  noch  mit  immer  schlechterm  Glücke 

Auf  die  fatale  Flur  zurücke, 

Bis  mir  zuletzt  das  günstige  Geschicke 

Noch  einen  Tag,  den  ich  nicht  hofifte,  gab. 

Doch  ich  genoß  sie  kaum,  die  süßen  letzten  Stunden, 

Sie  waren  gar  zu  nah  am  Grab. 

Ich  sage  nicht,  was  ich  empfunden, 

Denn  mein  prosaisches  Gedicht 

Stimmt  dieses  Mal  sehr  zur  Empfindung  nicht. 

Du  hast  die  Lieder  nun,  und  zur  Belohnung 

Für  alles,  was  ich  für  dich  litt: 

Besuchst  du  deine  selge  Wohnung, 

So  nimm  sie  mit 

Und  sing  sie  manchmal  an  den  Orten 

Mit  Lust,  wo  ich  aus  Schmerz  sie  sang; 

Dann  denk  an  mich  und  sage:  Dorten 

Am  Flusse  wartete  er  lang, 

Der  Arme,  der  so  oft  mit  ungewognem  Glücke 

Die  schönen  Felder  fühllos  sah! 

Kam  er  in  diesem  Augenblicke, 

Eh  nun,  jetzt  war  ich  da. 

Jetzt,  dächt  ich  mm,  wärs  hohe  Zeit  zum  SchUeßen; 

Denn  wenn  man  so  zwei  Bogen  Reime  schreibt, 

Da  wollen  sie  zuletzt  nicht  fließen. 

Doch  warte  nur,  wenn  mich  die  Laune  treibt, 

Und  deine  Gunst  mir  sonst  versichert  bleibt, 

So  schreib  ich  dir  noch  manchen  Brief  wie  diesen. 

Willst  du  mir  die  Geschwister  grüßen. 

So  schließe  Richtern  auch  mit  ein. 

Leb  wohl!  Und  wird  das  Glück  dein  Freund  beständig  sein 

Wie  ich,  so  wirst  du  stets  des  schönsten  Glücks  genießen. 


1768/70  FRANKFURT  79 

NEUJAHRSLIED 

WER  kömmt!  Wer  kauft  von  meiner  War! 
Devisen  auf  das  neue  Jahr, 
Für  alle  Stände. 

Und  fehlt  auch  einer  hie  und  da, 
Ein  einzger  Handschuh  paßt  sich  ja 
An  zwanzig  Hände. 

Du  Jugend,  die  du  tändelnd  liebst, 
Ein  Küßchen  vun  ein  Küßchen  gibst, 
Unschuldig  heiter, 

Jetzt  lebst  du  noch  ein  wenig  dumm; 
Geh  nur  erst  dieses  Jahr  herum, 
So  bist  du  weiter. 

Die  ihr  schon  Amors  Wege  kennt 
Und  schon  ein  bißchen  lichter  brennt, 
Ihr  macht  mir  bange. 
Zum  Ernst,  ihr  Kinder,  von  dem  Spaß! 
Das  Jahr!  ziu:  höchsten  Not  noch  das, 
Sonst  währts  zu  lange. 

Du  jtmger  Mann,  du  junge  Frau, 
Lebt  nicht  zu  treu,  nicht  zu  genau 
In  enger  Ehe. 

Die  Eifersucht  quält  manches  Haus, 
Und  trägt  am  Ende  doch  nichts  aus 
Als  doppelt  Wehe. 

Der  Witwer  wünscht  in  seiner  Not, 
Zur  selgen  Frau  durch  schnellen  Tod 
Gefuhrt  zu  werden. 
Du  guter  Mann,  nicht  so  verzagt! 
Das,  was  dir  fehlt,  das,  was  dich  plagt, 
Findst  du  auf  Erden. 

Ihr,  die  ihr  Misogyne  heißt. 

Der  Wein  heb  euem  großen  Geist 

Beständig  höher. 


8o  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Zwar  Wein  beschweret  oft  den  Kopf, 
Doch  der  tut  manchem  Ehetropf 
Wohl  zehnmal  weher. 

Der  Himmel  geb  zur  Frühlingszeit 

Mir  manches  Lied  voll  Munterkeit, 

Und  euch  gefall  es. 

Ihr  lieben  Mädchen  singt  sie  mit, 

Dann  ist  mein  Wimsch  am  letzten  Schritt, 

Dann  hab  ich  alles. 


UNSCHULD 

SCHÖNSTE  Tugend  einer  Seele, 
Reinster  Quell  der  Zärtlichkeit! 
Mehr  als  Byron,  als  Pamele 
Ideal  tmd  Seltenheit! 
Wenn  ein  andres  Feuer  brennet, 
Flieht  dein  zärtlich  schwaches  Licht; 
Dich  fühlt  nur,  wer  dich  nicht  kennet. 
Wer  dich  kennt,  der  fühlt  dich  nicht. 

Göttin,  in  dem  Paradiese 
Lebtest  du  mit  uns  vereint; 
Noch  erscheinst  du  mancher  Wiese 
Morgens,  eh  die  Sonne  scheint. 
Nur  der  sanfte  Dichter  siehet 
Dich  im  Nebelkleide  ziehn; 
Phöbus  kommt,  der  Nebel  fliehet, 
Und  im  Nebel  bist  du  hin. 


ZUEIGNUNG 

DA  sind  sie  nun!  Da  habt  ihr  sie! 
Die  Lieder,  ohne  Kunst  und  Müh 
Am  Rand  des  Bachs  entsprungen. 
Verliebt  und  jung  und  voll  Gefühl 
Trieb  ich  der  Jugend  altes  Spiel, 
Und  hab  sie  so  gesungen. 


1768/70  FRANKFURT 

Sie  singe,  wer  sie  singen  mag! 
An  einem  hübschen  Frühlingstag 
Kann  sie  der  Jüngling  brauchen. 
Der  Dichter  blinzt  von  ferne  zu, 
Jetzt  drückt  ihm  diätetsche  Ruh 
Den  Daumen  auf  die  Augen. 

Halb  scheel,  halb  weise  sieht  sein  Blick 
Ein  bißchen  naß  auf  euer  Glück 
Und  jammert  in  Sentenzen. 
Hört  seine  letzten  Lehren  an! 
Er  hats  so  gut  wie  ihr  getan 
Und  kennt  des  Glückes  Grenzen. 

Ihr  seufzt  und  singt  und  schmelzt  und  küßt, 

Und  jauchzet,  ohne  daß  ihrs  wißt, 

Dem  Abgnmd  in  der  Nähe. 

Flieht  Wiese,  Bach  und  Sonnenschein, 

Schleicht,  solls  euch  wohl  im  Winter  sein, 

Bald  zu  dem  Herd  der  Ehe. 

Ihr  lacht  mich  aus  und  ruft:  Der  Tor! 
Der  Fuchs,  der  seinen  Schwanz  verlor, 
Verschnitt'  jetzt  gern  uns  alle. 
Doch  hier  paßt  nicht  die  Fabel  ganz. 
Das  treue  Füchslein  ohne  Schwanz 
Das  warnt  euch  für  der  Falle. 


81 


AM  FLUSSE 

VERFLIESSET,  vielgeliebte  Lieder, 
Zum  Meere  der. Vergessenheit! 
Kein  Knabe  sing  entzückt  euch  wieder, 
Kein  Mädchen  in  der  Blütenzeit. 


Ihr  sänget  nur  von  meiner  Lieben; 
Nun  spricht  sie  meiner  Treue  Hohn. 
Ihr  wart  ins  Wasser  eingeschrieben. 
So  fließt  denn  auch  mit  ihm  davon. 

GOETHE  XIV  6. 


\2  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

MIT  EINEM  COLONEN  HALSKETTCHEN 

DIR  darf  dies  Blatt  ein  Kettchen  bringen, 
Das,  ganz  zur  Biegsamkeit  gewöhnt, 
Sich  mit  viel  hmidert  kleinen  Schlingen 
Um  deinen  Hals  zu  schmiegen  sehnt. 

Gewähr  dem  Närrchen  die  Begierde, 
Sie  ist  voll  Unschuld,  ist  nicht  kühn; 
Am  Tag  ists  eine  kleine  Zierde, 
Am  Abend  wirfst  dus  wieder  hin. 

Doch  bringt  dir  einer  jene  Kette, 
Die  schwerer  drückt  und  ernster  faßt, 
Verdenk  ich  dir  es  nicht,  Lisette, 
Wenn  du  ein  klein  Bedenken  hast. 

DER  ABSCHIED 

LASS  mein  Aug  den  Abschied  sagen, 
Den  mein  Mund  nicht  nehmen  kaim! 
Schwer,  wie  schwer  ist  er  zu  tragen! 
Und  ich  bin  doch  sonst  ein  Mann. 

Traurig  wird  in  dieser  Stunde 
Selbst  der  Liebe  süßtes  Pfand, 
Kalt  der  Kuß  von  deinem  Munde, 
Matt  der  Druck  von  deiner  Hand. 

Sonst,  ein  leicht  gestohlnes  Mäulchen, 
O  wie  hat  es  mich  entzückt! 
So  erfreuet  uns  ein  Veilchen, 
Das  man  früh  im  März  gepflückt. 

Doch  ich  pflücke  nun  kein  Kränzchen, 
Keine  Rose  mehr  für  dich. 
Frühling  ist  es,  liebes  Fränzchen, 
Aber  leider  Herbst  für  mich! 


I770-I77I  STRASSBURG 


SITRBT  DER  FUCHS,  SO  GILT  DER  BALG 

[ACH  Mittage  saßen  wir 
I  Junges  Volk  im  Kühlen; 

Amor  kam,  und  Stirbt  der  Fuchs 

Wollt  er  mit  uns  spielen. 


Nl 


Jeder  meiner  Freunde  saß 
Froh  bei  seinem  Herzchen; 
Amor  blies  die  Fackel  aus, 
Sprach:  Hier  ist  das  Kerzchen! 

Und  die  Fackel,  wie  sie  glomm, 
Ließ  man  eilig  wandern. 
Jeder  drückte  sie  geschwind 
In  die  Hand  des  andern. 

Und  mir  reichte  Dorilis 
Sie  mit  Spott  und  Scherze; 
Kaum  berührt  mein  Finger  sie, 
Hell  entflammt  die  Kerze, 

Sengt  mir  Augen  und  Gesicht, 
Setzt  die  Brust  in  Flammen, 
Über  meinem  Haupte  schlug 
Fast  die  Glut  zusammen. 

Löschen  wollt  ich,  patschte  zu, 
Doch  es  brennt  beständig; 
Statt  zu  sterben,  ward  der  Fuchs 
Recht  bei  mir  lebendig. 

BLINDE  KUH 

O  liebliche  Therese! 
Wie  wandelt  gleich  ins  Böse 
Dein  ofifaes  Auge  sich! 
Die  Augen  zugebunden, 
Hast  du  mich  schnell  gefunden. 
Und  warum  fingst  du  eben  mich? 

Du  faßtest  mich  aufs  beste 
Und  hieltest  mich  so  feste, 
Ich  sank  in  deinen  Schoß. 


86  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Kaum  warst  du  aufgebunden, 
War  alle  Lust  verschwunden, 
Du  ließest  kalt  den  Blinden  los. 

Er  tappte  hin  und  wider, 
Verrenkte  fast  die  Gheder, 
Und  alle  foppten  ihn. 
Und  willst  du  mich  nicht  lieben, 
So  geh  ich  stets  im  Trüben, 
Wie  mit  verbundnen  Augen,  hin. 

[Von  Goethe?] 

OB  ich  dich  liebe,  weiß  ich  nicht. 
Seh  ich  nur  einmal  dein  Gesicht, 
Seh  dir  ins  Auge  nur  einmal. 
Frei  wird  mein  Herz  von  aller  Qual. 
Gott  weiß,  wie  mir  so  wohl  geschieht! 
Ob  ich  dich  liebe,  weiß  ich  nicht. 

EIN  grauer,  trüber  Morgen 
Bedeckt  mein  liebes  Feld, 
Im  Nebel  tief  verborgen 
Liegt  um  mich  her  die  Welt. 
O  liebliche  Friedricke, 
Dürft  ich  nach  dir  zurück! 
In  einem  deiner  Blicke 
Liegt  Sonnenschein  vuid  Glück. 

Der  Baum,  in  dessen  Rinde 
Mein  Nam  bei  deinem  steht, 
Wird  bleich  vom  rauhen  Winde, 
Der  jede  Lust  verweht. 
Der  Wiesen  grüner  Schimmer 
Wird  trüb  wie  mein  Gesicht, 
Sie  sehen  die  Sonne  nimmer, 
Und  ich  Friedricken  nicht. 

Bald  geh  ich  in  die  Reben 
Und  herbste  Trauben  ein; 


1770/1  STRASSBURG  87 

Umher  ist  alles  Leben, 
Es  strudelt  neuer  Wein. 
Doch  in  der  öden  Laube, 
Ach,  denk  ich,  war  sie  hier! 
Ich  brächt  ihr  diese  Traube, 
Und  sie — was  gab  sie  mir? 


ICH  komme  bald,  ihr  goldnen  Kinder, 
Vergebens  sperret  ims  der  Winter 
In  imsre  warmen  Stuben  ein. 
Wir  wollen  uns  zum  Feuer  setzen 
Und  tausendfältig  uns  ergötzen, 
Uns  lieben  wie  die  Engelein. 
Wir  wollen  kleine  Kränzchen  winden, 
Wir  wollen  kleine  Sträußchen  binden 
Und  wie  die  kleinen  Kinder  sein. 


NUN  sitzt  der  Ritter  an  dem  Ort, 
Den  ihr  ihm  nanntet,  liebe  Kinder; 
Sein  Pferd  ging  ziemlich  langsam  fort, 
Und  seine  Seele  nicht  geschwinder. 
Da  sitz  ich  nun  vergnügt  bei  Tisch 
Und  endige  mein  Abenteuer 
Mit  einem  Paar  gesottener  Eier 
Und  einem  Stück  gebacknem  Fisch. 
Die  Nacht  war  wahrlich  ziemlich  düster, 
Mein  Falke  stolperte  wie  blind ; 

Und  doch  fand  ich  den  Weg  so  gut,  als  ihn  der  Küster 
Des  Sonntags  früh  zur  Kirche  findt. 


JETZT  fühlt  der  Engel,  was  ich  fühle. 
Ihr  Herz  gewann  ich  mir  beim  Spiele, 
Und  sie  ist  nun  von  Herzen  mein. 
Du  gabst  mir,  Schicksal,  diese  Freude, 
Nun  laß  auch  Morgen  sein  wie  Heute 
Und  lehr  mich  ihrer  würdig  sein. 


88  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

WILLKOMMEN  UND  ABSCHIED 

ES  schlug  mein  Herz,  geschwind  zu  Pferde! 
Es  war  getan  fast  eh  gedacht. 
Der  Abend  wiegte  schon  die  Erde, 
Und  an  den  Bergen  hing  die  Nacht; 
Schon  stand  im  Nebelkleid  die  Eiche, 
Ein  aufgetürmter  Riese,  da, 
Wo  Finsternis  aus  dem  Gesträuche 
Mit  hundert  schwarzen  Augen  sah. 

Der  Mond  von  einem  Wolkenhügel 
Sah  kläglich  aus  dem  Duft  hervor, 
Die  Winde  schwangen  leise  Flügel, 
Umsausten  schauerlich  mein  Ohr; 
Die  Nacht  schuf  tausend  Ungeheuer, 
Doch  frisch  und  fröhlich  war  mein  Mut: 
In  meinen  Adern  welches  Feuer! 
In  meinem  Herzen  welche  Glut! 

Dich  sah  ich,  und  die  milde  Freude 
Floß  von  dem  süßen  Blick  auf  mich; 
Ganz  war  mein  Herz  an  deiner  Seite 
Und  jeder  Atemzug  für  dich. 
Ein  rosenfarbnes  Frühlingswetter 
Umgab  das  liebliche  Gesicht, 
Und  Zärtlichkeit  für  mich— ihr  Götter! 
Ich  hofft  es,  ich  verdient  es  nicht! 

Doch  ach,  schon  mit  der  Morgensonne 
Verengt  der  Abschied  mir  das  Herz: 
In  deinen  Küssen  welche  Wonne! 
In  deinem  Auge  welcher  Schmerz! 
Ich  ging,  du  standst  und  sahst  zur  Erden, 
Und  sahst  mir  nach  mit  nassem  Blick: 
Und  doch,  welch  Glück,  geliebt  zu  werden! 
Und  lieben,  Götter,  welch  ein  Glück! 


1770/1  STRASSBURG  89 

MIT  EINEM  GEMALTEN  BAND 

KLEINE  Blumen,  kleine  Blätter 
Streuen  mir  mit  leichter  Hand 
Gute  junge  Frühlings- Götter 
Tändelnd  auf  ein  luitdg  Band. 

Zephir,  nimms  auf  deine  Flügel, 
Schlings  um  meiner  Liebsten  Kleid; 
Und  so  tritt  sie  vor  den  Spiegel 
AU  in  ihrer  Munterkeit. 

Sieht  mit  Rosen  sich  umgeben, 
Selbst  wie  eine  Rose  jung. 
Einen  Blick,  geliebtes  Leben! 
Und  ich  bin  belohnt  genung. 

Fühle,  was  dies  Herz  empfindet, 
Reiche  fi^i  mir  deine  Hand, 
Und  das  Band,  das  uns  verbindet, 
Sei  kein  schwaches  Rosenband! 


BÄLDE  seh  ich  Rickchen  wieder, 
Bälde  bald  umarm  ich  sie, 
Munter  tanzen  meine  Lieder 
Nach  der  süßten  Melodie. 

Ach,  wie  schön  hats  mir  geklungen. 
Wenn  sie  meine  Lieder  sang! 
Lange  hab  ich  nicht  gestmgen. 
Lange,  liebe  Liebe,  lang. 

Denn  mich  ängsten  tiefe  Schmerzen, 
Wenn  mein  Mädchen  mir  entflieht, 
Und  der  wahre  Gram  im  Herzen 
Geht  nicht  über  in  ein  Lied. 

Doch  jetzt  sing  ich,  und  ich  habe 
Volle  Freude  süß  und  rein. 
Ja,  ich  gäbe  diese  Gabe 
Nicht  fiir  aller  Klöster  Wein. 


90  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

MAILIED 

WIE  herrlich  leuchtet 
Mir  die  Natur! 
Wie  glänzt  die  Sonne! 
Wie  lacht  die  Flur! 

Es  dringen  Blüten 
Aus  jedem  Zweig 
Und  tausend  Stimmen 
Aus  dem  Gesträuch, 

Und  Freud  und  Wonne 
Aus  jeder  Brust. 
O  Erd,  o  Sonne! 
O  Glück,  o  Lust! 

O  Lieb,  o  Liebe! 
So  golden  schön, 
Wie  Morgen  wölken 
Auf  jenen  Höhn! 

Du  segnest  herrlich 
Das  frische  Feld, 
Im  Blütendampfe 
Die  volle  Welt. 

O  Mädchen,  Mädchen, 
Wie  lieb  ich  dich! 
Wie  blickt  dein  Auge! 
Wie  hebst  du  mich! 

So  liebt  die  Lerche 
Gesang  und  Luft, 
Und  Morgenblumen 
Den  "Himmelsduft, 

Wie  ich  dich  Hebe 
Mit  warmem  Blut, 
Die  du  mir  Jugend 
Und  Freud  und  Mut 


1770/1  STR  ASSBURG  91 

Zu  neuen  Liedern 
Und  Tänzen  gibst. 
Sei  ewig  glücklich, 
Wie  du  mich  liebst! 


ERWACHE,  Friedericke, 
Vertreib  die  Nacht, 
Die  einer  deiner  Blicke 
Zum  Tage  macht. 
Der  Vögel  sanft  Geflüster 
Ruft  liebevoll, 

Daß  mein  geliebt  Geschwister 
Erwachen  soll. 

Es  zittert  Morgenschimmer 
Mit  blödem  Licht 
Errötend  durch  dein  Zimmer 
Und  weckt  dich  nicht. 
Am  Busen  deiner  Schwester, 
Der  für  dich  schlagt, 
Entschläfst  du  immer  fester. 
Je  mehr  es  tagt. 

Die  Nachtigall  im  Schlafe 

Hast  du  versäumt; 

So  höre  nun  zur  Strafe, 

Was  ich  gereimt. 

Schwer  lag  auf  meinem  Busen 

Des  Reimes  Joch; 

Die  schönste  meiner  Musen, 

Du — schliefst  ja  noch. 


92  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

DEM  Himmel  wachs  entgegen 
Der  Baum,  der  Erde  Stolz. 
Ihr  Wetter,  Stürm  und  Regen, 
Verschont  das  heiige  Holz! 
Und  soll  ein  Name  verderben, 
So  nehmt  die  obern  in  acht! 
Es  mag  der  Dichter  sterben, 
Der  diesen  Reim  gemacht. 


' 


I 


1771-1772  FRANKFURT 


[Von  Goethe?] 

ACH,  wie  sehn  ich  mich  nach  dir, 
Kleiner  Engel!  Nur  im  Traom, 
Nur  im  Traum  erscheine  mir! 
Ob  ich  da  gleich  viel  erleide, 
Bang  mn  dich  mit  Geistern  streite 
Und  ervrachend  atme  kaum. 
Ach,  ¥rie  sehn  ich  mich  nach  dir, 
Ach,  wie  teuer  bist  du  mir 
Selbst  in  einem  schweren  Traum. 

WANDERERS  STÜRMLTED 

WEN  da  nicht  veiiässest,  Genius, 
Nicht  der  Regen,  nicht  der  Sturm 
Haucht  ihm  Schauer  übers  Herz. 
Wen  du  nicht  verlassest,  Genius, 
Wird  dem  Regengewölk, 
Wird  dem  Schloßensturm 
Entgegensingen, 
Wie  die  Lerche, 
Du  da  droben. 

Den  du  nicht  verlassest,  Genius, 
\^ist  ihn  heben  fibem  Schlammpfad 
Ifit  den  Feuerflägeln. 
Wandeln  wird  er 
Wie  mit  Blumenfußen 
Über  Deukalions  Flutschlamm, 
Python  tötend,  leicht,  groß, 
Pytfains  Apollo. 

Den  du  nicht  verlassest,  Genius, 
Wirst  die  wollnen  Flügel  unterspreiten. 
Wenn  er  auf  dem  Felsen  schläft, 
Wirst  mit  Hüterfittichen  ihn  decken 
In  des  Haines  Mittemacht. 

Wen  da  nidit  verlassest,  Genius, 
Wirst  im  Sdme^estober 

Wärmumhüllen; 


96  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Nach  der  Wärme  ziehn  sich  Musen, 
Nach  der  Wärme  Charitinnen. 

Umschwebet  mich,  ihr  Musen, 

Ihr  Charitinnen! 

Das  ist  Wasser,  das  ist  Erde, 

Und  der  Sohn  des  Wassers  und  der  Erde, 

Über  den  ich  wandle  i 

Göttergleich. 

Ihr  seid  rein,  wie  das  Herz  der  Wasser, 
Ihr  seid  rein,  wie  das  Mark  der  Erde, 
Ihr  umschwebt  mich,  und  ich  schwebe 
Über  Wasser,  über  Erde, 
Göttergleich. 

Soll  der  zurückkehren. 

Der  kleine,  schwarze,  feurige  Bauer? 

Soll  der  zurückkehren,  erwartend 

Nur  deine  Gaben,  Vater  Bromius, 

Und  hellleuchtend  umwärmend  Feuer? 

Der  kehren  mutig? 

Und  ich,  den  ihr  begleitet, 

Musen  vaid  Charitinnen  alle, 

Den  alles  erwartet,  was  ihr, 

Musen  und  Charitinnen, 

Umkränzende  Seligkeit, 

Rings  ums  Leben  verherrlicht  habt, 

Soll  mutlos  kehren? 

Vater  Bromius! 
Du  bist  Genius, 
Jahrhunderts  Genius, 
Bist,  was  innre  Glut 
Pindam  war, 
Was  der  Welt 
Phöbus  Apoll  ist. 

Weh!  Weh!  Innre  Wärme, 
Seelenwärme, 


1 771/2   FRANKFURT 

Mittelp^ankt! 

Glüh  entgegen 

Phöb  Apollen; 

Kalt  wird  sonst 

Sein  Fürstenblick 

Über  dich  vorübergleiten, 

Neidgetroffen 

Auf  der  Zeder  Kraft  verweilen, 

Die  zu  grünen 

Sein  nicht  harrt. 

Warum  nennt  mein  Lied  dich  zuletzt? 

Dich,  von  dem  es  begann, 

Dich,  in  dem  es  endet, 

Dich,  aus  dem  es  quillt, 

Jupiter  Pluvius! 

Dich,  dich  strömt  mein  Lied, 

Und  kastalischer  Quell 

Rinnt  ein  Nebenbach, 

Rinnet  Müßigen, 

Sterblich  Glücklichen 

Abseits  von  dir, 

Der  du  mich  fassend  deckst, 

Jupiter  Pluvius! 

Nicht  am  Ulmenbaum 

Hast  du  ihn  besucht, 

Mit  dem  Taubenpaar 

In  dem  zärtlichen  Arm. 

Mit  der  freundlichen  Res  umkränzt, 

Tändelnden  ihn,  blumenglücklichen 

Anakreon, 

Stturmatmende  Gottheit! 

Nicht  im  Pappelwald 
An  des  Sybaris  Strand, 
An  des  Gebirgs 
Sonnebeglänzter  Stirn  nicht 
Faßtest  du  ihn. 
Den  Blumen-singenden, 

GOETHE  XIV  7. 


97 


98  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Honig- lallenden, 
Freundlich  winkenden 
Theokrit. 

Wenn  die  Räder  rasselten, 
Rad  an  Rad  rasch  ums  Ziel  weg, 
Hoch  flog 
Siegdurchglühter 
Jünglinge  Peitschenknall, 
Und  sich  Staub  wälzt', 
Wie  vom  Gebirg  herab 
Kieselwetter  ins  Tal, 
'  Glühte  deine  Seel  Gefahren,  Pindar, 

Mut.— Glühte?— 
Armes  Herz! 
Dort  auf  dem  Hügel, 
Himmlische  Macht! 
Nur  so  viel  Glut, 
Dort  meine  Hütte, 
Dorthin  zu  waten! 


ADLER  UND  TAUBE 

EIN  Adlersjüngling  hob  die  Flügel 
Nach  Raub  aus; 
Ihn  traf  des  Jägers  Pfeil  und  schnitt 
Der  rechten  Schwinge  Sennkraft  ab. 
Er  stürzt'  hinab  in  einen  Myrtenhain, 
Fraß  seinen  Schmerz  drei  Tage  lang, 
Und  zuckt'  an  Qual 
Drei  lange,  lange  Nächte  lang; 
Zuletzt  heilt'  ihn 
AUgegenwärtger  Balsam 
Allheilender  Natur. 
Er  schleicht  aus  dem  Gebüsch  hervor 
Und  reckt  die  Flügel— ach! 
Die  Schwingkraft  weggeschnitten— 
Hebt  sich  mühsam  kaum 
Am  Boden  weg 


1 771/2  FRANKFURT 

Unwürdgem  Raubbedürfnis  nach, 

Und  ruht  tieftrauemd 

Auf  dem  niedem  Fels  am  Bach; 

Er  blickt  zur  Eich  hinauf, 

Hinauf  zum  Himmel, 

Und  eine  Träne  füllt  sein  hohes  Aug. 

Da  kommt  mutwillig  durch  die  Myrtenäste 

Dahergerauscht  ein  Taubenpaar, 

Läßt  sich  herab  und  wandelt  nickend 

Über  goldnen  Sand  am  Bach, 

Und  nikt  einander  an; 

Ihr  rötlich  Auge  buhlt  umher, 

Erblickt  den  Innigtrauernden. 

Der  Tauber  schwingt  neugiergesellig  sich 

Zum  nahen  Busch  und  blickt 

Mit  Selbstgefälligkeit  ihn  freundlich  an. 

Du  trauerst,  liebelt  er; 

Sei  gutes  Mutes,  Freund! 

Hast  du  zur  ruhigen  Glückseligkeit 

Nicht  alles  hier: 

Kannst  du  dich  nicht  des  goldnen  Zweiges  freun, 

Der  vor  des  Tages  Glut  dich  schützt? 

Kannst  du  der  Abendsonne  Schein 

Auf  weichem  Moos  am  Bache  nicht 

Die  Brust  entgegenheben? 

Du  wandelst  durch  der  Blumen  frischen  Tau, 

Pflückst  aus  dem  Überfluß 

Des  Waldgebüsches  dir 

Gelegne  Speise,  letzest 

Den  leichten  Durst  am  Silberquell — 

O  Freimd,  das  wahre  Glück 

Ist  die  Genügsamkeit, 

Und  die  Genügsamkeit 

Hat  überall  genug. 

O  Weise!  sprach  der  Adler,  und  tief  ernst 

Versinkt  er  tiefer  in  sich  selbst, 

O  Weisheit!  Du  redst  wie  eine  Taube! 


99 


loo  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

ZIGEUNERLIED 

IM  Neb'elgeriesel,  im  tiefen  Schnee, 
Im  wilden  Wald,  in  der  Wintemacht, 
Ich  hörte  der  Wölfe  Hungergeheul, 
Ich  hörte  der  Eulen  Geschrei. 
Wille  wau  wau  wau! 
Wille  wo  wo  wo! 
Wito  hu! 

Ich  schoß  einmal  eine  Katz  am  Zaun, 
Der  Anne,  der  Hex,  ihre  schwarze  liebe  Katz. 
Da  kamen  des  Nachts  sieben  Werwölf  zu  mir, 
Waren  sieben  sieben  Weiber  vom  Dorf. 
Wille  wau  wau  wau! 
Wille  wo  wo  wo! 
Wito  hu! 

Ich  kannte  sie  all,  ich  kannte  sie  wohl, 
Die  Anne,  die  Ursel,  die  Käth, 
Die  Liese,  die  Barbe,  die  Ev,  die  Beth, 
Sie  heulten  im  Kreise  mich  an. 
Wille  wau  wau  wau! 
Wille  wo  wo  wo! 
Wito  hu! 

Da  nannt  ich  sie  alle  bei  Namen  laut: 
Was  willst  du,  Anne?  was  willst  du,  Beth? 
Da  rüttelten  sie  sich,  da  schüttelten  sie  sich, 
Und  liefen  und  heulten  davon. 
Wille  wau  wau  wau! 
Wille  wo  wo  wol 
Wito  hu! 


"  177 1/2  FRANKFURT  loi 

EIN  zärtlich  jugendlicher  Kummer 
Führt  mich  ins  öde  Feld;  es  liegt 
In  einem  stillen  Moigenschlmmner 
Die  Mutter  Erde.  Rauschend  wiegt 
Ein  kalter  Wind  die  starren  Äste.  Schauernd 
Tönt  er  die  Melodie  zu  meinem  Lied  voll  Schmerz. 
Und  die  Natur  ist  ängstlich  still  und  trauernd, 
Doch  hoflhungsvoller  als  mein  Herz. 

Denn  sieh,  bald  gaukelt  dir,  mit  Rosenkränzen 
^-  -Inder  Hand,  du  Sonnengott,  das  Zwillingspaar 

ofibem  blauen  Aug,  mit  krausem  goldnen  Haar 

einer  Laufbahn  dir  en^^en.  Und  zu  Tänzen 

neuen  Wiesen  schickt 
Der  Jüngling  sich  und  schmückt 
Den  Hut  mit  Bändern,  und  das  Mädchen  pflückt 
Die  Veilchen  aus  dem  jungen  Gras,  und  bückend  sieht 
^     heimlich  nach  dem  Busen,  sieht  mit  Seelenfreude 

ilteter  und  reizender  ihn  heute, 
A  ;  er  vorm  Jahr  am  Maienfest  geblüht; 
Uzd  fühlt  und  hoflft 

Gott  segne  mir  den  Mann 

einem  Garten  dort!  Wie  zeitig  fangt  er  an, 

lockres  Bett  dem  Samen  zu  bereiten! 
-■vaum  riß  der  März  das  Schneegewand 
Erm  Winter  von  denhagem  Seiten, 
L  .:  stürmend  floh  und  hinter  sich  aufe  Land 
Den  Nebelschleier  warf,  der  Fluß  und  Au 
Und  Berg  in  kaltes  Grau 
Versteckt,  da  geht  er  ohne  Säumen, 
Die  Seele  voll  von  Emtetraumen, 
Und  sät  und  hofft. 


I02  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

DER  WANDRER 

Wandrer 
Gott  segne  dich,  junge  Frau,  i<l 

Und  den  säugenden  Knaben 
An  deiner  Brust! 
Laß  mich  an  der  Felsenwand  hier, 
In  des  Ulmbaums  Schatten, 
Meine  Bürde  werfen, 
Neben  dir  ausruhn. 

Frau 
Welch  Gewerbe  treibt  dich 
Durch  des  Tages  Hitze 
Den  staubigen  Pfad  her? 
Bringst  du  Waren  aus  der  Stadt 
Im  Land  herum? 
Lächelst,  Fremdling, 
Über  meine  Frage? 

Wandrer 
Keine  Waren  bring  ich  aus  der  Stadt.  |j 

Kühl  wird  nun  der  Abend;  ' 

Zeige  mir  den  Brunnen, 
Draus  du  trinkest, 
Liebes  junges  Weib! 

Frau 
Hier  den  Felsenpfad  hinauf. 
Geh  voran!  Durchs  Gebüsche 
Geht  der  Pfad  nach  der  Hütte, 
Drin  ich  wohne, 
Zu  dem  Brunnen, 
Den  ich  trinke. 

Wandrer 
Spuren  ordnender  Menschenhand 
Zwischen  dem  Gesträuch! 


\ 


1771/2  FRANKFÜRT 

Diese  Steine  hast  da  nicht  gefügt, 
Reichhinstreuende  Natur! 


103 


Frau 


Weiter  hinauf! 


Wandrer 
Von  dem  Moos  gedeckt  ein  Architrav! 
Ich  erkenne  dich,  bildender  Geist! 
Hast  dein  Siegel  in  den  Stein  geprägt. 

Frau 
Weiter,  Fremdling! 

Wandrer 
Eine  Inschrift,  über  die  ich  trete! 
Nicht  zu  lesen! 
Weggewandelt  seid  ihr, 
Tiefgegrabne  Worte, 
Die  ihr  eures  Meisters  Andacht 
Tausend  Enkeln  zeigen  solltet. 

Frau 
Statmest,  Fremdling. 
Diese  Stein'  an? 
Droben  sind  der  Steine  viel 
Um  meine  Hütte. 


Wandrer 

Droben? 

Frau 
Gleich  zur  Linken 
Durchs  Gebüsch  hinan; 
Hier. 

Wandrer 
Ihr  Musen  und  Grazien! 


I04  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Frau 
Das  ist  meine  Hütte, 

Wandrer 
Eines  Tempels  Trümmer! 

Frau 
Hier  zur  Seit  hinab 
Quillt  der  Brunnen, 
Den  ich  trinke. 

Wandrer 
Glühend  webst  du 
Über  deinem  Grabe, 
Genius!  Über  dir 
Ist  zusammengestürzt 
Dein  Meisterstück, 
O  du  Unsterblicher! 

Frau 
Wart,  ich  hole  das  Geföß 
Dir  zum  Trinken. 

Wandrer 
Efeu  hat  deine  schlanke 
Götterbildung  umkleidet. 
Wie  du  emporstrebst 
Aus  dem  Schutte, 
Säulenpaar! 

Und  du,  einsame  Schwester  dort. 
Wie  ihr, 

Düstres  Moos  auf  dem  heiligen  Haupt, 
Majestätisch  trauernd  herabschaut 
Auf  die  zertrümmerten 
Zu  euern  Füßen, 
Eure  Geschwister! 

In  des  Brombeergesträuches  Schatten 
Deckt  sie  Schutt  und  Erde, 
Und  hohes  Gras  wankt  drüber  hin. 


1 


1 771/2  FRANKFURT 

Schätzest  du  so,  Natur, 

Deines  Meisterstücks  Meisterstück? 

Unempfindlich  zertrümmerst  du 

Dein  Heiligtum? 

Säest  Disteln  drein? 


S05 


Frau 
Wie  der  Knabe  schläft! 
Willst  du  in  der  Hütte  nihn, 
Fremdling:  willst  du  hier 
Lieber  in  dem  Freien  bleiben? 
Es  ist  kühl!   Nimm  den  Knaben, 
Daß  ich  Wasser  schöpfen  gehe. 
Schlafe,  Lieber!  schlaf! 

Wandrer 

Süß  ist  deine  Ruh! 

Wie's,  in  himmlischer  Gesundheit 

Schwimmend,  ruhig  atmet! 

Du,  geboren  über  Resten 

Heiliger  Vergangenheit, 

Ruh  ihr  Geist  auf  dir! 

Welchen  der  umschwebt, 

Wird  in  Götterselbstgefiihl 

Jedes  Tags  genießen. 

Voller  Keim,  blüh  auf, 

Des  glänzenden  Frühlings 

Herrlicher  Schmuck, 

Und  leuchte  vor  deinen  Gesellen! 

Und  welkt  die  Blütenhülle  weg. 

Dann  steig  aus  deinem  Busen 

Die  volle  Frucht 

Und  reife  der  Sonn  entgegen! 


Frau 

Gesegne's  Gott! — Und  schläft  er  noch? 

Ich  habe  nichts  zum  frischen  Trunk 

Als  ein  Stück  Brot,  das  ich  dir  bieten  kann. 


io6  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Wandrer 

Ich  danke  dir. 

Wie  herrlich  alles  blüht  umher 

Und  grünt! 

Frau 
Mein  Mann  wird  bald 
Nach  Hause  sein 

Vom  Feld.  O  bleibe,  bleibe,  Mann! 
Und  iß  mit  uns  das  Abendbrot. 

Wandrer 
Ihr  wohnet  hier? 

Frau 

Da,  zwischen  dem  Gemäuer  her. 
Die  Hütte  baute  noch  mein  Vater 
Aus  Ziegeln  und  des  Schuttes  Steinen. 
Hier  wohnen  wir. 
Er  gab  mich  einem  Ackersmann 
Und  starb  in  unsern  Armen. — 
Hast  du  geschlafen,  liebes  Herzr 
Wie  er  munter  ist  und  spielen  will! 
Du  Schelm! 

Wandrer 

Natur!  du  ewig  keimende. 

Schaffst  jeden  zum  Genuß  des  Lebens, 

Hast  deine  Kinder  alle  mütterlich 

Mit  Erbteil  ausgestattet,  einer  Hütte. 

Hoch  baut  die  Schwalb  an  das  Gesims, 

Unfühlend,  welchen  Zierat 

Sie  verklebt; 

Die  Raup  umspinnt  den  goldnen  Zweig 

Zum  Winterhaus  für  ihre  Brut; 

Und  du  flickst  zwischen  der  Vergangenheit 

Erhabne  Trümmer 


i 


1771/2  FRANKFÜRT 

Für  deine  Bedürfniss* 
Eine  Hütte,  o  Mensch, 
Genießest  über  Gräbern!— 
Leb  w(^,  dn  glOckb'ch  Weib! 

Frau 
Da  willst  nicht  bleiben? 

Wandrer 
Gott  erhalt  euch, 
Segn  eneni  Knaben! 

Fram. 

Glück  anf  den  Weg! 

Wandrer 
Wohin  fuhrt  mich  der  Pfad 
Dort  übern  Berg? 


X07 


Nach  Cuma, 


Frau 


Wandrer 
Wie  weit  ists  hin? 


Frau 


Drei  Meilen  gut. 


Wandrer 
Leb  w<^ 

O  leite  meinen  Gang,  Natur! 
Den  Fremdb'ngs-Reisetritt, 
Den  über  Gräber 
Heiliger  Vergangenheit 
Ich  wandle. 

Leit  ihn  zum  Sdmtzort, 
Vorm  Nord  gedeckt, 
Und  wo  dem  Mittagsstrahl 
Ein  Pappelwäldchen  wehrt. 


io8  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Und  kehr  ich  dann 

Am  Abend  heim 

Zur  Hütte, 

Vergoldet  vom  letzten  Sonnenstrahl, 

Laß  mich  empfangen  solch  ein  Weib, 

Den  Knaben  auf  dem  Arm! 


1772  WETZLAR 


FELS-WEIHEGESANG 

AN  PSYCHE 

VEILCHEN  bring  ich  getragen, 
Junge  Blüten  zu  dir, 
Daß  ich  dein  moosig  Haupt 
Ringstim  bekränze, 
Ringsum  dich  weihe, 
Felsen  des  Tals. 

Sei  du  mir  heilig. 
Sei  den  Geliebten 
Lieber  als  andre 
Felsen  des  Tals. 

Ich  sah  von  dir 
Der  Freunde  Seligkeit, 
Verbunden  Edle 
Mit  ewgem  Band. 

Ich  irrer  Wandrer 
Fühlt  erst  auf  dir 
Besitz  timis- Freuden 
Und  Heimats- Glück. 

Da,  wo  wir  lieben, 
Ist  Vaterland; 
Wo  wir  genießen, 
Ist  Hof  und  Haus. 

Schrieb  meinen  Namen 
An  deine  Stirn; 
Du  bist  mir  eigen, 
Mir  Ruhe -Sitz. 

Und  aus  dem  fernen 
Unlieben  Land 
Mein  Geist  wird  wandern 
Und  ruhn  auf  dir. 

Sei  du  mir  heilig, 
Sei  den  Geliebten 
Lieber  als  andre 
Felsen  des  Tals. 


1 1 2  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Ich  sehe  sie  versammelt 

Dort  unten  um  den  Teich; 

Sie  tanzen  einen  Reihen 

Im  Sommerabendrot. 

Und  warme  Jugendfreude 

Webt  in  dem  Abendrot, 

Sie  drücken  sich  die  Hände 

Und  glühn  einander  an. 

Und  aus  den  Reihn  verlieret 

Sich  Psyche  zwischen  Felsen 

Und  Sträuchen  weg,  und  traurend 

Um  den  Abwesenden 

Lehnt  sie  sich  über  den  Fels. 

Wo  meine  Brust  hier  ruht, 

An  das  Moos  mit  innigem 

Liebesgefühl  sich 

Atmend  drängt, 

Ruhst  du  vielleicht  dann,  Psyche. 

Trübe  blickt  dein  Aug 

In  den  Bach  hinab, 

Und  eine  Träne  quillt 

Vorbeigequollnen  Freuden  nach; 

Hebst  dann  ztun  Himmel 

Dein  bittend  Aug, 

Erblickest  über  dir 

Da  meinen  Namen. 

— Auch  der — 

Nimm  des  verlebten  Tages  Zier, 

Die  bald  welke  Rose,  von  deinem  Busen, 

Streu  die  freundlichen  Blätter 

Übers  düstre  Moos, 

Ein  Opfer  der  Zukunft. 


1772  WETZLAR  113 

PILGERS  MORGENLIED 

AN  LILA 

MORGENNEBEL,  Lila, 
Hüllen  deinen  Tum  um. 
Soll  ich  ihn  zum 
Letztenmal  nicht  sehn! 
Doch  mir  schweben 
Tausend  Bilder 
Seliger  Erinnerung 
Heilig  warm  ums  Herz. 
Wie  er  so  stand, 
Zeuge  meiner  Wonne, 
Als  zum  erstenmal 
Du  den  Fremdling 
Ängstlich  liebevoll 
Begegnetest, 
Und  mit  einemmal 
Ewge  Flammen 
In  die  Seel  ihm  warfst. 
Zische,  Nord, 
Tausend-schlangenzüngig 
Mir  ums  Haupt! 
Beugen  sollst  dus  nicht! 
Beugen  magst  du 
Kindscher  Zweige  Haupt, 
Von  der  Sonne 
Muttergegenwart  geschieden. 

AUgegenwärtge  Liebe! 

Durchglühst  mich. 

Beutst  dem  Wetter  die  Stirn, 

Gefahren  die  Brust, 

Hast  mir  gegossen 

Ins  früh  welkende  Herz 

Doppeltes  Leben, 

Freude,  zu  leben, 

Und  Mut. 


)ETHE  XIV  8. 


1 1 4  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

ELYSIUM 
AN  URANIEN 

UNS  gaben  die  Götter 
Auf  Erden  Elysium. 
Wie  du  das  erste  Mal 
Liebahndend  dem  Fremdling 
Entgegentratst 

Und  deine  Hand  ihm  reichtest, 
Fühlt'  er  alles  voraus, 
Was  ihm  für  Seligkeit 
Entgegen  keimte. 

Uns  gaben  die  Götter 
Auf  Erden  Elysium. 
Wie  du  den  liebenden  Arm 
Um  den  Freund  schlangst. 
Wie  ihm  Lilas  Brust 
Entgegen  bebte, 
Wie  ihr,  euch  rings  umfassend. 
In  heiiger  Wonne  schwebtet, 
Und  ich,  im  Anschaun  selig, 
Ohne  sterblichen  Neid 
Dameben  stand! 

Uns  gaben  die  Götter 
Auf  Erden  Elysium. 
Wie  durch  heilige  Täler  wir 
Hand  in  Hände  wandelten 
Und  des  Fremdlings  Treu 
Sich  euch  versiegelte, 
Daß  du  dem  liebenden, 
Stille  sehnenden 
Die  Wange  reichtest 
Zum  himmlischen  Kuß! 

Uns  gaben  die  Götter 
Auf  Erden  Elysiiun. 

Wenn  du  fern  wandelst 

Am  Hügelgebüsch, 


1772  WETZLAR  115 

Wandeln  Liebesgestalten 
Mit  dir  den  Bach  hinab; 
Wenn  mir  auf  dem  Felsen 
Die  Sonne  niedergeht, 
Seh  ich  Freundegestalten 
Mir  winken  durch 
Wehende  Zweige 
Des  dämmernden  Hains. 

Uns  gaben  die  Götter 

Auf  Erden  Elysium. 
Seh  ich,  verschlagen 
Unter  schauernden  Himmels 
Öde  Gestade, 
In  der  Vergangenheit 
Goldener  Myrtenhainsdämmerung 
Lilan  an  deiner  Hand, 
Seh  mich  Schüchternen 
Eure  Hände  fassen — 
Bittend  blicken. 
Eure  Hände  küssen — 
Eure  Augen  sich  begegnen, 
Auf  mich  blicken  seh  ich. 
Werfe  den  hoffenden  Blick 
Auf  Lila;  sie  nähert  sich  mir, 
Himmlische  Lippe! 
Und  ich  wanke,  nahe  mich, 
Blicke,  seufze,  wanke — 
Seligkeit!  Seligkeit! 
Eines  Kusses  Gefühl! 

Mir  gaben  die  Götter 
Auf  Erden  Elysium! 
Ach,  warum  nur  Elysiima! 


1 1 6  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Propst  Hei 
Bald  leuchtest  du,  o  Graf,  in  engelheiterm  Schimmer, 

Graf  Brandt 
Mein  lieber  Pastor,  desto  schlimmer. 


1 772-1 774  FRANKFURT 


MAHOMETS  GESANG 

SEHT  den  Felsenquell, 
Freudehell, 
Wie  ein  Stemenblick; 
Über  Wolken 
Nährten  seine  Jugend 
Gute  Geister 
Zwischen  Klippen  im  Gebüsch. 

Jünglingfrisch 

Tanzt  er  aus  der  Wolke 

Auf  die  Marmorfelsen  nieder, 

Jauchzet  wieder 

Nach  dem  Himmel. 

Durch  die  Gipfelgänge 
Jagt  er  bunten  Kieseln  nach, 
Und  mit  frühem  Führertritt 
Reißt  er  seine  Bruderquellen 
Mit  sich  fort. 

Drunten  werden  in  dem  Tal 
Unter  seinem  Fußtritt  Blumen, 
Und  die  Wiese 
Lebt  von  seinem  Hauch, 

Doch  ihn  hält  kein  Schattental, 

Keine  Blumen, 

Die  ihm  seine  Knie  umschlingen, 

Ihm  mit  Liebes-  Augen  schmeicheln: 

Nach  der  Ebne  dringt  sein  Lauf 

Schlangenwandelnd. 

Bäche  schmiegen 
Sich  gesellig  an.  Nun  tritt  er 
In  die  Ebne  silberprangend. 
Und  die  Ebne  prangt  mit  ihm. 
Und  die  Flüsse  von  der  Ebne 
Und  die  Bäche  von  den  Bergen 
Jauchzen  ihm  und  rufen:  Bruder! 
Bruder,  nimm  die  Brüder  mit, 
Mit  zu  deinem  alten  Vater, 


LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Zu  dem  ewgen  Ozean, 
Der  mit  ausgespannten  Armen 
Unser  wartet, 

Die  sich,  ach!  vergebens  öffnen, 
Seine  Sehnenden  zu  fassen; 
Denn  uns  frißt  in  öder  Wüste 
Gierger  Sand;  die  Sonne  droben 
Saugt  an  unserm  Blut;  ein  Hügel 
Hemmet  uns  zum  Teiche!  Bruder, 
Nimm  die  Brüder  von  der  Ebne, 
Nimm  die  Brüder  von  den  Bergen 
Mit,  zu  deinem  Vater  mit! 

Kommt  ihr  alle! — 
Und  nvm  schwillt  er 
Herrlicher;  ein  ganz  Geschlechte 
Trägt  den  Fürsten  hoch  empor! 
Und  im  rollenden  Triumphe 
Gibt  er  Ländern  Namen,  Städte 
Werden  unter  seinem  Fuß. 

Unaufhaltsam  rauscht  er  weiter, 
Läßt  der  Türme  Flammengipfel, 
Marmorhäuser,  eine  Schöpfung 
Seiner  Fülle,  hinter  sich, 

Zedemhäuser  trägt  der  Atlas 
Auf  den  Riesenschultern;  sausend 
Wehen  über  seinem  Haupte 
Tausend  Flaggen  durch  die  Lüfte, 
Zeugen  seiner  Herrlichkeit. 

Und  so  trägt  er  seine  Brüder, 
Seine  Schätze,  seine  Kinder 
Dem  erwartenden  Erzeuger 
Freudebrausend  an  das  Herz. 


w 


1772/4  FRANKFURT  12 

SPRACHE 
AS  reich  und  arm!  Was  stark  und  schwach! 


Ist  reich  vergrabner  Urne  Bauch? 
Ist  stark  das  Schwert  im  Arsenal? 
Greif  milde  drein,  und  freundlich  Glück 
Fließt,  Gottheit,  von  dir  aus! 
Fass  an  zum  Siege,  Macht,  das  Schwert, 
Und  über  Nachbarn  Ruhm! 


KATECmSATION 

Lehrer 

BEDENK,  o  Kind!  woher  sind  diese  Gaben? 
Du  kannst  nichts  von  dir  selber  haben. 

Kind 
Ei!  Alles  hab  ich  vom  Papa. 

Lehrer 
L  nd  der,  woher  hats  der? 

Kind 

Vom  Großpapa. 

Lehrer 
Nicht  doch!  W<Aer  hats  denn  der  Großpapa  bekommen: 

Kind 
Der  hats  genommen. 


GENIALISCH  TREIBEN 

SO  wälz  ich  ohne  Unterlaß, 
Wie  Sankt  Diogenes,  mein  Faß. 
Bald  ist  es  Ernst,  bald  ist  es  Spaß; 
Bald  ist  es  Lieb,  bald  ist  es  Haß; 
Bald  ist  es  dies,  bald  ist  es  das; 
Es  ist  ein  Nichts  imd  ist  ein  Was. 
So  wälz  ich  ohne  Unterlaß, 
Wie  Sankt  Diogenes,  mein  Faß. 


2  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

AUTOREN 

ÜBER  die  Wiese,  den  Bach  herab, 
Durch  seinen  Garten, 
Bricht  er  die  jüngsten  Bhimen  ab; 
Ihm  schlägt  das  Herz  vor  Erwarten. 
Sein  Mädchen  kommt — O  Gewinst!  o  Glück! 
Jüngling,  tauschest  deine  Blüten  um  einen  Blick! 

Der  Nachbar  Gärtner  sieht  herein 
Über  die  Hecke:  "So  ein  Tor  möcht  ich  sein! 
Hab  Freude,  meine  Blumen  zu  nähren. 
Die  Vögel  von  meinen  Früchten  zu  wehren; 
Aber,  sind  sie  reif:  Geld!  guter  Freund! 
Soll  ich  meine  Mühe  verlieren?'" 

Das  sind  Autoren,  wie  es  scheint. 
Der  eine  streut  seine  Freuden  herum 
Seinen  Freunden,  dem  Publikima; 
Der  andre  läßt  sich  pränumerieren. 

REZENSENT 

DA  hatt  ich  einen  Kerl  zu  Gast, 
Er  war  mir  eben  nicht  zur  Last; 
Ich  hatt  just  mein  gewöhnlich  Essen, 
Hat  sich  der  Kerl  pumpsatt  gefressen, 
Zum  Nachtisch,  was  ich  gespeichert  hatt. 
Und  kaum  ist  mir  der  Kerl  so  satt. 
Tut  ihn  der  Teufel  zum  Nachbar  führen, 
Über  mein  Essen  zu  räsonieren: 
"Die  Supp  hätt  können  gewürzter  sein, 
Der  Braten  brauner,  firner  der  Wein." 
Der  Tausendsackerment! 
Schlagt  ihn  tot,  den  Hund!  Es  ist  ein  Rezensent. 

EIN  REICHER, 
dem  gemeinen  Wesen  zur  Nachricht 

WOLLT  ihr  wissen,  woher  ichs  hab, 
Mein  Haus  und  Hab? 
Hab  allerlei  Pfifif  ersonnen. 


1772/4  FRANKFURT  123 

Es  mit  Müh,  Schweiß  vind  Angst  gewonnen. 

Genug,  ich  bin  reich, 

Und  drum  scheiß  ich  auf  euch! 


Mel.  O  Vater  der  Barmherzigkeit, 

O  Vater  alles  wahren  Sinns 
Und  des  gesunden  Lebens, 
Du  Geber  köstlichen  Gewinns, 
Du  Fördrer  treuen  Strebens, 
Sprich  in  mein  Herz  dein  leises  Wort, 
Bewahre  mich  so  fort  und  fort 
Für  Heuchlern  und  für  Huren. 


FLIEH,  Täubchen,  flieh! 
Er  ist  nicht  hie! 
Der  dich  an  dem  schönsten  Frühlingsmorgen 
Fand  im  Wäldchen,  wo  du  dich  verborgen. 
Flieh,  Täubchen,  flieh! 
Er  ist  nicht  hie! 
Böser  Laurer  Füße  rasten  nie. 

Horch,  Flötenklang, 

Liebesgesang 
Wallt  auf  Lüftchen  hin  zu  Liebchens  Ohren, 
Findt  im  zarten  Herzen  ofihe  Toren. 

Horch,  Flötenklang, 

Liebesgesang! 
Horch — es  wird  der  süßen  Lieb  zu  bang. 

Hoch  ist  sein  Schritt, 

Fest  ist  sein  Tritt, 
Schwarzes  Haar  auf  runder  Stirne  webet. 
Auf  den  Wangen  ewger  Frühling  lebet. 

Hoch  ist  sein  Schritt, 

Fest  ist  sein  Tritt, 
Edler  Deutschen  Füße  gleiten  nit. 


1 2  4  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Wonn  ist  die  Brust, 

Keusch  seine  Lust. 
Schwarz  seine  Augen  unter  runden  Bogen 
Sind  mit  zarten  Falten  schön  umzogen. 

Wonn  ist  die  Brust, 

Keusch  seine  Lust, 
Gleich  beim  Anblick  du  ihn  lieben  mußt. 

Rot  ist  der  Mund, 

Der  mich  vervvundt, 
Auf  den  Lippen  träufeln  Morgendüfte, 
Auf  den  Lippen  säuseln  kühle  Lüfte. 

Rot  ist  sein  Mund, 

Der  mich  verwundt, 
Nur  ein  Blick  von  ihm  macht  mich  gesund. 

Treu  ist  sein  Blut, 

Stark  ist  sein  Mut, 
Schutz  und  Stärke  wohnt  in  weichen  Armen, 
Auf  dem  Antlitz  edeles  Erbarmen. 

Treu  ist  sein  Blut, 

Stark  ist  sein  Mut, 
Selig,  wer  in  seinen  Armen  ruht. 

So  ist  der  Held, 

Der  mir  gefällt! 
Und  so  soll  mein  deutsches  Herz  weich  flöten, 
Rasches  Blut  in  meinen  Adern  röten? 

So  ist  der  Held, 

Der  mir  gefällt! 
Ich  vertausch  ihn  nicht  um  eine  Welt. 

Singt,  Schäfer,  singt, 

Wie's  euch  gelingt! 
Wieland  soll  nicht  mehr  mit  seinesgleichen 
Edlen  Mut  von  imsrer  Brust  verscheuchen. 

Singt,  Schäfer,  singt, 

Wie's  euch  gelingt, 
Bis  ihr  deutschen  Glanz  zu  Grabe  bringt. 


1772/4  FRANKFURT 
DAS  VEILCHEN 

EIN  Veilchen  auf  der  Wiese  stand 
Gebückt  in  sich  und  unbekannt; 
Es  war  ein  herzigs  Veilchen. 
Da  kam  eine  junge  Schäferin 
Mit  leichtem  Schritt  und  muntenn  Sinn 
Daher,  daher, 
Die  Wiese  her,  und  sang. 

Ach!  denkt  das  Veilchen,  war  ich  nur 
Die  schönste  Blume  der  Natur, 
Ach,  nur  ein  kleines  Weilchen, 
Bis  mich  das  Liebchen  abgepflückt 
Und  an  dem  Busen  matt  gedrückt! 
Ach  nur,  ach  nur 
Ein  Viertelstündchen  lang! 

Ach!  aber  ach!  das  Mädchen  kam 

Und  nicht  in  acht  das  Veilchen  nahm. 

Ertrat  das  arme  Veilchen. 

Eis  sank  und  starb  und  freut'  sich  noch: 

Und  sterb  ich  denn,  so  sterb  ich  doch 

Durch  sie,  durch  sie. 

Zu  ihren  Füßen  doch. 


125 


[An  Johann  Heinrich  Merck] 

SCHICKE  dir  hier  in  altem  Kleid 
Ein  neues  Kindlein  wohl  bereit, 
Und  ists  nichts  weiters  auf  der  Bahn, 
Hats  immer  alte  Hosen  an. 
Wir  Neuen  sind  ja  solche  Hasen, 
Sehn  immer  nach  den  alten  Nasen, 
Und  hast  ja  auch,  wie's  jeder  schaut, 
Dir  Neuen  ein  altes  Haus  gebaut. 
Darum,  wie's  steht  sodann  geschrieben 
Im  Evangelium  da  drüben, 
Daß  sich  der  neu  Most  so  erweist, 
Daß  er  die  alten  Schlauch  zerreißt— 


1 2  6  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Ist  fast  das  Gegenteil  so  wahr: 

Das  Alt'  die  jungen  Schlauch  reißt  gar. 

Und  können  wir  nicht  tragen  mehr 

Krebs,  Panzerhemd,  Helm,  Schwert  und  Speer 

Und  erliegen  darunter  tot 

Wie  Ameis  unterm  Schollenkot, 

So  ist  doch  immer  unser  Mut 

Wahrhaftig  wahr  und  bieder  gut. 

Und  allen  Perückeurs  und  Fratzen 

Und  allen  literarschen  Katzen 

Und  Räten,  Schreibern,  Maidels,  Kindern 

Und  wissenschaftlich  schönen  Sündern 

Sei  Trotz  und  Hohn  gesprochen  hier 

Und  Haß  und  Ärger  fiir  und  für. 

Weisen  wir  so  diesen  Philistern, 

Kritikastern  und  ihren  Geschwistern 

Wohl  ein  jeder  aus  seinem  Haus 

Seinen  Arsch  zum  Fenster  hinaus. 


DILETTANT  UND  KRITIKER 

ES  hatt  ein  Knab  eine  Taube  zart, 
Gar  schön  von  Farben  und  bunt, 
Gar  herzlich  lieb,  nach  Knabenart, 
Geätzet  aus  seinem  Mund, 
Und  hatte  so  Freud  am  Täubchen  sein, 
Daß  er  nicht  konnte  sich  freuen  allein. 

Da  lebte  nicht  weit  ein  Alt- Fuchs  herum, 
Erfahren  und  lehrreich  und  schwätzig  darum; 
Der  hatte  den  Knaben  manch  Stündlein  ergetzt, 
Mit  Wundern  und  Lügen  verprahlt  und  verschwätzt. 

"Muß  meinem  Fuchs  doch  mein  Täubelein  zeigen!" 
Er  lief  und  fand  ihn  strecken  in  Sträuchen, 
"Sieh,  Fuchs,  mein  lieb  Täublein,  mein  Täubchen  so  schön! 
Hast  du  dein  Tag  so  ein  Täubchen  gesehn?" 

Zeig  her! — Der  Knabe  reichts. — Geht  wohl  an; 
Aber  es  fehlt  noch  manches  dran. 


1772/4  FRANKFURT  127 

Die  Federn,  zum  Exempel,  sind  zu  kurz  geraten. — 

Da  fing  er  an,  rupft'  sich  den  Braten. 

Der  Knabe  schrie. — Ehi  mu£t  stäikre  einsetzen, 

Sonst  zierts  nicht,  schwinget  nicht. — 

Da  wars  nackt — Mißgeburt! — und  in  Fetzen. 

Dem  Knaben  das  Herze  bricht. 

Wer  sich  erkennt  im  Knaben  gut. 
Der  sei  vor  Füchsen  auf  seiner  Hut. 

DER  WELT  LOHN 

[Von  Goethe?] 

WAS  du  dem  Publikum  gesagt, 
Hat  ihnen  dnmi  nicht  alles  behagt. 
Sie  sollten  nicht  vergessen: 
Einem  geschenkten  Gaul 
Sieht  man  nicht  ins  Maul; 
Und  wer  einen  Korb  voll  Äpfel  verschenkt, 
Nicht  just  dran  denkt, 
Ob  einen  der  Wurm  hat  angefressen. 


[An  Johann  Christian  Kestner] 

WENN  dem  Papa  sein  Pfeifchen  schmeckt. 
Der  Doktor  Hofirat  Grillen  heckt 
Und  sie  Karlinchen  für  Liebe  verkauft. 
Die  Lotte  herüber  hinüber  lauft, 
Lenchen  treuherzig  und  wohlgemut 
In  die  Welt  hinein  lugen  tut, 
Mit  dreckigen  Händen  und  Honigschnitten, 
Mit  Löcher  im  Kopf  nach  deutschen  Sitten 
Die  Buben  jauchzen  mit  hellem  Häuf 
Tür  ein  Tür  aus,  Hof  ab  Hof  auf. 
Und  Ihr  mit  den  blauen  Äugelein 
Gucket  so  ganz  gelassen  drein. 
Als  wärt  Ihr  Männlein  von  Porzellan, 
Seid  innerlich  doch  ein  wackrer  Mann, 
Treuer  Liebhaber  tmd  warmer  Freund: 


128  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

So  lass  des  Reichs  und  Christen  Feind, 
Und  Russ  und  Preuß  und  Belial 
Sich  teilen  in  den  Erdenball, 
Und  nur  das  liebe  Teutsche  Haus 
Nehmt  von  der  großen  Teilung  aus. 
Und  daß  der  Weg  von  hier  zu  Euch       , 
Wie  Jakobs  Leiter  sei  sicher  und  gleich, 
Und  unser  Magen  verdau  gesund. 
So  segnen  wir  Euch  mit  Herz  und  Mund: 
Gott  allein  die  Ehr, 
Mir  mein  Weib  allein, 
So  kann  ich  und  Er 
Wohl  zufrieden  sein. 


KÜNSTLERS  MORGENLIED 

DER  Tempel  ist  euch  aufgebaut, 
Ihr  hohen  Musen  all. 
Und  hier  in  meinem  Herzen  ist 
Das  Allerheiligste. 

Wenn  morgens  mich  die  Sorme  weckt, 
Warm,  froh  ich  schau  umher, 
Steht  rings  ihr  Ewiglebenden 
Im  heiigen  Morgenglanz. 

Ich  bpt  hinan,  und  Lobgesang 
Ist  lauter  mein  Gebet, 
Und  freudeklingend  Saitenspiel 
Begleitet  mein  Gebet. 

Ich  trete  vor  den  Altar  hin 
Und  lese,  wie  sichs  ziemt, 
Andacht  liturgscher  Lektion 
Im  heiligen  Homer. 

Und  wenn  er  ins  Getümmel  mich 
Von  Löwenkriegern  reißt, 
Und  Göttersöhn  auf  Wagen  hoch 
Rachglühend  stürmen  an, 


1772/4  FRANKFÜRT 

Und  Roß  dann  vor  dem  Wagen  stürzt. 
Und  dmnter  und  drüber  sich 
Freund',  Feinde  wälzen  in  Todesblut— 
Er  sengte  sie  dahin 

Mit  Flammenschwert,  der  Heldensohn, 
Zehntausend  auf  einmal, 
Bis  dann  auch  er,  gebändiget 
Von  einer  Götteihand, 

Ab  auf  den  Rogns  niederstürzt, 
Den  er  sich  selbst  gehäuft, 
Und  Feinde  nun  den  schönen  Leib 
Verschändend  tasten  an: 

Da  greif  ich  mutig  auf,  es  wird 
Die  Kohle  zum  Gewehr, 
Und  jene  meine  hohe  Wand 
In  Schlachtfeld-Wogen  braust. 

Hinan!  Hinan!  Es  heulet  laut 

Gebrüll  der  Feindeswut, 

Und  Schild  an  Schild,  und  Schwert  auf  Helm, 

Und  um  den  Toten  Tod. 

Ich  dränge  mich  hinan,  hinan 
Da  kämpfen  sie  um  ihn, 
Die  tapfem  Freunde,  tapferer 
In  ihrer  Tränenwut. 

Ach,  rettet!  Kämpfet!  Rettet  ihn! 
Ins  Lager  tragt  ihn  fort. 
Und  Balsam  gießt  dem  Toten  auf 
Und  Tränen  Toten-Ehr! 

Und  find  ich  mich  zurück  hierher. 
Empfängst  du,  Liebe,  mich. 
Mein  Mädchen,  ach,  im  Bilde  nur, 
Und  so  im  Bilde  warm! 

^ETHE  XIV  a. 


129 


I30  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Ach,  wie  du  ruhtest  neben  mir 

Und  schmachtetest  mich  an, 

Und  mirs  vom  Aug  durchs  Herz  hindurch 

Zum  Griflfel  schmachtete! 

Wie  ich  an  Aug  und  Wange  mich 
Und  Mund  mich  weidete, 
Und  mirs  im  Busen  jung  und  frisch, 
Wie  einer  Gottheit,  war! 

O  kehre  doch  und  bleibe  dann 
In  meinen  Armen  fest, 
Und  keine,  keine  Schlachten  mehr, 
Nur  dich  in  meinem  Arm! 

Und  sollst  mir,  meine  Liebe,  sein 
Alldeutend  Ideal, 
Madonna  sein,  ein  Erstlingskind, 
Ein  heiligs,  an  der  Brust; 

Und  haschen  will  ich,  Nymphe,  dich 
Im  tiefen  Waldgebüsch; 
O  fliehe  nicht  die  rauhe  Brust, 
Mein  aufgerecktes  Ohr! 

Und  liegen  will  ich  Mars  zu  dir, 
Du  Liebesgöttin  stark, 
Und  ziehn  ein  Netz  um  uns  herum 
Und  rufen  dem  Olymp, 

Wer  von  den  Göttern  kommen  will, 
Beneiden  unser  Glück, 
Und  Solls  die  Fratze  Eifersucht, 
Am  Bettfuß  angebarmt. 


[An  Friedrich  Wilhelm  Gotter] 

SCHICKE  dir  hier  den  alten  Götzen, 
Magst  ihn  zu  deinen  Heilgen  setzen 
Oder  magst  ihn  in  die  Zahl 
Der  Ungeblätterten  stellen  zumal. 


1772/4  FRANKFURT  131 

Habs  geschrieben  in  guter  Zeit, 

Tags,  Abends  und  Nachts  Herrlichkeit, 

Und  find  nicht  halb  die  Freud  so  mehr. 

Da  ntm  gedruckt  ist  ein  großes  Heer. 

Find,  daß  es  wie  mit  den  Kindern  ist, 

Da  doch  wohl  immer  die  schönste  Frist 

Bleibt,  wenn  man  in  der  schönen  Nacht 

Sie  hat  der  Heben  Frau  gemacht. 

Das  andre  geht  dann  seinen  Gang, 

Und  Rechnen,  Wehn  und  Tauf  und  Sang. 

Mögt  euch  nun  auch  ergötzen  dran, 

So  habt  ihr  doppelt  wohlgetan. 

Magst,  wie  ich  höre,  dann  allda 

Agieren,  tragieren  Komödia 

Vor  Stadt  und  Land  und  Hof  und  Herrn, 

Die  sahn  das  Schattenspiel  wohl  gem. 

So  such  dir  denn  in  deinem  Haus 

Einen  rechten  tüchtigen  Bengel  aus 

Und  gib  ihm  die  Roll  von  meinem  Götz, 

In  Panzer,  Blechhaub  und  Geschwätz. 

Dann  nimm  den  Weisung  vor  dich  hin, 

In  Pumphos,  Kragen  imd  stolzem  Kinn, 

Und  Spada  wohl  nach  Spanier  Art, 

Und  VVeitnaslöchern,  Stüt^leinbart, 

Und  sei  ein  Falscher  an  den  Frauen, 

Lass  dich  zuletzt  vergiftet  schauen. 

Und  bring,  da  hast  du  meinen  Dank, 

Mich  vor  die  Weiblein  ohn  Gestank. 

Mußt  alle  garstgen  Worte  lindern. 

Aus  Scheißkerl  Schurken,  aus  Arsch  mach  Hintern, 

Und  gleich'  das  alles  so  fortan. 

Wie  dus  wohl  ehmals  schon  getan. 

[An  Johann  Christian  Kestner] 

WENN  einst  nach  überstandnen  Lebens  Müh  und 
Schmerzen 
Das  Glück  dir  Ruh  und  Wonnetage  gibt. 
Vergiß  nicht  den,  der — ach!  von  ganzem  Herzen, 
Dich  und  mit  dir  geliebt. 


132  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

DAS  GARSTIGE  GESICHT 

WENN  einen  würdigen  Biedermann, 
Pastorn  oder  Ratsherrn  lobesan, 
Die  Wittib  läßt  in  Kupfer  stechen 
Und  drunter  ein  Verslein  radebrechen, 
Da  heißts:  Seht  hier  mit  Kopf  und  Ohren 
Den  Herrn,  Ehrwürdig,  Wohlgeboren! 
Seht  seine  Augen  und  seine  Stirn; 
Aber  sein  verständig  Gehirn, 
So  manch  Verdienst  ums  geraeine  Wesen, 
Könnt  ihr  ihm  nicht  an  der  Nase  lesen. 

So,  liebe  Lotte!  heißts  auch  hier: 
Ich  schicke  da  mein  Bildnis  dir. 
Magst  wohl  die  ernste  Stirne  sehen, 
Der  Augen  Glut,  der  Locken  Wehen; 
's  ist  ungefähr  das  garstge  Gesicht — 
Aber  meine  Liebe  siehst  du  nicht. 

DER  AUTOR 

WAS  war  ich 
Ohne  dich, 
Freund  Publikum! 

All  mein  Empfinden  Selbstgespräch, 
All  meine  Freude  stvunm. 

CHRISTEL 

HAB  oft  einen  dumpfen  düstem  Sinn, 
Ein  gar  so  schweres  Blut! 
Wenn  ich  bei  meiner  Christel  bin, 
Ist  alles  wieder  gut. 
Ich  seh  sie  dort,  ich  seh  sie  hier 
Und  weiß  nicht  auf  der  Welt, 
Und  wie  vmd  wo  und  wann  sie  mir, 
Warum  sie  mir  gefällt. 

Das  schwarze  Schelmenaug  dadrein. 
Die  schwarze  Braue  drauf. 


1772/4  FRANKFURT  133 

Seh  ich  ein  einzigmal  hinein, 

Die  Seele  geht  mir  auf. 

Ist  eine,  die  so  lieben  Mund, 

Liebrunde  Wänglein  hat? 

Ach,  und  es  ist  noch  etwas  rund, 

Da  sieht  kein  Aug  sich  satt! 

Und  wenn  ich  sie  denn  fassen  darf 

Im  luftgen  deutschen  Tanz, 

Das  geht  herum,  das  geht  so  scharf. 

Da  fühl  ich  mich  so  ganz! 

Und  wenns  ihr  taumlig  wird  und  warm, 

Da  wieg  ich  sie  sogleich 

An  meiner  Brust,  in  meinem  Arm; 

's  ist  mir  ein  Königreich! 

Und  wenn  sie  liebend  nach  mir  blickt 

Und  alles  nuid  vergißt, 

Und  dann  an  meine  Brust  gedrückt 

Und  weidlich  eins  geküßt, 

Das  läuft  mir  durch  das  Rückenmark 

Bis  in  die  große  Zeh! 

Ich  bin  so  schwach,  ich  bin  so  stark, 

Mir  ist  so  wohl,  so  weh! 

Da  möcht  ich  mehr  und  immer  mehr. 

Der  Tag  wird  mir  nicht  lang; 

Wenn  ich  die  Nacht  auch  bei  ihr  war, 

Davor  war  mir  nicht  bang. 

Ich  denk,  ich  halte  sie  einmal 

Und  büße  meine  Lust; 

Und  endigt  sich  nicht  meine  Qual, 

Sterb  ich  an  ihrer  Brust! 


RETTUNG 

MEIN  Mädchen  ward  mir  ungetreu. 
Das  machte  mich  zum  Freudenhasser; 
Da  lief  ich  an  ein  fließend  Wasser, 
Das  Wasser  lief  vor  mir  vorbei.  


1 3 4  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Da  stand  ich  nun,  verzweiflcnd,  stumm 
Im  Kopfe  war  mirs  wie  betrvmken, 
Fast  war  ich  in  den  Strom  gesunken, 
Es  ging  die  Welt  mit  mir  herum. 

Auf  einmal  hört  ich  was,  das  rief— 
Ich  wandte  just  dahin  den  Rücken — 
Es  war  ein  Stimmchen  zum  Entzücken: 
"Nimm  dich  in  acht!  der  Fluß  ist  tief.' 

Da  lief  mir  was  durchs  ganze  Blut, 
Ich  seh,  so  is'ts  ein  liebes  Mädchen; 
Ich  frage  sie:  Wie  heißt  du?  "Käthchen!" 
O  schönes  Käthchen!  Du  bist  gut. 

Du  hältst  vom  Tode  mich  zurück, 
Auf  immer  dank  ich  dir  mein  Leben; 
Allein  das  heißt  mir  wenig  geben, 
Nun  sei  auch  meines  Lebens  Glück! 

Und  dann  klagt  ich  ihr  meine  Not, 
Sie  schlug  die  Augen  lieblich  nieder; 
Ich  küßte  sie  und  sie  mich  wieder, 
Und — vor  der  Hand  nichts  mehr  von  Tod. 


DER  NEUE  AMADIS 

ALS  ich  noch  ein  Knabe  war, 
Sperrte  man  mich  ein, 
Und  so  saß  ich  manches  Jahr 
Über  mir  allein 
Wie  in  Mutterleib. 

Doch  du  warst  mein  Zeitvertreib 

Goldne  Phantasie, 

Und  ich  ward  ein  wanner  Held, 

Wie  der  Prinz  Pipi, 

Und  diurchzog  die  Welt. 


1772/4  FRANKFURT 

Baute  manch  kristallen  Schloß 
Und  zerstört'  es  auch, 
Warf  mein  blinkendes  Geschoß 
Drachen  durch  den  Bauch, 
Ja,  ich  war  ein  Mann! 

Ritteriich  befreit  ich  dann 
Die  Prinzessin  Fisch; 
Sie  war  gar  zu  obligeant, 
Führte  mich  zu  Tisch, 
Und  ich  war  galant. 

Und  ihr  Kuß  war  Götterbrot, 
Glühend  wie  der  Wein. 
Ach!  ich  liebte  fast  mich  totl 
Rings  mit  Sonnenschein 
War  sie  emailliert. 

Ach!  wer  hat  sie  mir  entfuhrt? 

Hielt  kein  Zauberband 

Sie  zurück  vom  schnellen  Fliehn? 

Sagt,  wo  ist  ihr  Land? 

Wo  der  Weg  dahin? 

DER  UNTREUE  KNABE 

ES  war  ein  Knabe  frech  genung, 
War  erst  aus  Frankreich  kommen, 
Der  hatt  ein  armes  Mädel  jung 
Gar  oft  in  Arm  genommen 
Und  liebgekost  und  liebgeherzt. 
Als  Bräutigam  herumgescherzt, 
Und  endlich  sie  verlassen. 

Das  braune  Mädel  das  erfuhr, 

Vergingen  ihr  die  Sinnen, 

Sie  lacht'  und  weint'  und  bet't'  und  schwur; 

So  fuhr  die  Seel  von  hinnen. 

Die  Stund,  da  sie  verschieden  war, 

Wird  bang  dem  Buben,  graust  sein  Haar, 

Es  treibt  ihn  fort  zu  Pferde. 


135 


136  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Er  gab  die  Sporen  kreuz  und  quer 

Und  ritt  auf  alle  Seiten, 

Herüber,  hinüber,  hin  und  her, 

Kann  keine  Ruh  erreiten, 

Reit't  sieben  Tag  und  sieben  Nacht; 

Es  blitzt  und  donnert,  stürmt  und  kracht. 

Die  Fluten  reißen  über. 

Und  reit't  in  Blitz  und  Wetterschein 

Gemäuerwerk  entgegen, 

Bindts  Pferd  hauß'  an  und  kriecht  hinein 

Und  duckt  sich  vor  dem  Regen. 

Und  wie  er  tappt,  und  wie  er  fühlt, 

Sich  unter  ihm  die  Erd  erwühlt; 

Er  stürzt  wohl  hvmdert  Klafter. 

Und  als  er  sich  ermannt  vom  Schlag, 
Sieht  er  drei  Lichtlein  schleichen, 
Er  rafft  sich  auf  und  krabbelt  nach, 
Die  Lichtlein  ferne  weichen, 
Irrführen  ihn  die  Quer  und  Läng, 
Trepp  auf,  Trepp  ab,  durch  enge  Gang, 
Verfallne  wüste  Keller. 

Auf  einmal  steht  er  hoch  im  Saal, 
Sieht  sitzen  hundert  Gäste, 
Hohläugig  grinsen  allzumal 
Und  winken  ihm  zum  Feste. 
Er  sieht  sein  Schätzel  untenan 
Mit  weißen  Tüchern  angetan, 
Die  wend't  sich — 


DER  KÖNIG  IN  THULE 

ES  war  ein  König  in  Thule 
Gar  treu  bis  an  das  Grab, 
Dem  sterbend  seine  Buhle 
Einen  goldnen  Becher  gab. 


1772/4  FRANKFURT  137 

Es  ging  ihm  nichts  darüber, 
Er  leert'  ihn  jeden  Schmaus; 
Die  Augen  gingen  ihm  über, 
Sooft  er  trank  daraus. 

Und  als  er  kam  zu  sterben, 
Zählt'  er  seine  Stadt'  im  Reich, 
Gönnt'  alles  seinen  Erben, 
Den  Becher  nicht  zugleich. 

Er  saß  beim  Königsmahle, 
Die  Ritter  um  ihn  her, 
Auf  hohem  Vätersaale, 
Dort  auf  dem  Schloß  am  Meer. 

Dort  stand  der  alte  Zecher, 
Trank  letzte  Lebensglut, 
Und  warf  den  heiigen  Becher 
Hinunter  in  die  Flut. 

Er  sah  ihn  stürzen,  trinken 
Und  sinken  tief  ins  Meer. 
Die  Augen  täten  ihm  sinken; 
Trank  nie  einen  Tropfen  mehr. 

KENNER  UND  KÜNSTLER 
Kenner 

GUT!  Brav,  mein  Herr!  Allein 
Die  linke  Seite 
Nicht  ganz  gleich  der  rechten: 
Hier  scheint  es  mir  zu  lang, 
Und  hier  zu  breit; 
Hier  zuckts  ein  wenig, 
Und  die  Lippe 
Nicht  ganz  Natur, 
So  tot  noch  alles! 

Künstler 
O  ratet!  helft  mir, 
Daß  ich  mich  vollende! 


138  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Wo  ist  der  Urquell  der  Natur, 
Daraus  ich  schöpfend 
Himmel  fühl  und  Leben 
In  die  Fingerspitzen  hervor? 
Daß  ich  mit  Göttersinn 
Und  Menschenhand 
Vermöge  zu  bilden, 
Was  bei  meinem  Weib 
Ich  animalisch  kann  und  muß! 

Kenner 
Da  sehen  Sie  zu. 

Künstler 
So! 


MONOLOG  DES  LIEBHABERS 

WAS  nutzt  die  glühende  Natur 
Vor  deinen  Augen  dir, 
Was  nutzt  dir  das  Gebildete 
Der  Kunst  rings  um  dich  her, 
Wenn  liebevolle  Schöpfungskraft 
Nicht  deine  Seele  füllt 
Und  in  den  Fingerspitzen  dir 
Nicht  wieder  bildend  wird? 


GUTER  RAT 

GESCHIEHT  wohl,  daß  man  einen  Tag 
Weder  sich  noch  andre  leiden  mag, 
Will  nichts  dir  nach  dem  Herzen  ein; 
Sollts  in  der  Kunst  wohl  anders  sein? 
Drum  hetze  dich  nicht  zur  schlimmen  Zeit, 
Denn  Füll  und  Kraft  sind  nimmer  weit: 
Hast  in  der  bösen  Stund  geruht, 
Ist  dir  die  gute  doppelt  gut. 


X772/4  FRANKFÜRT  139 

AUF  MSLL.  N.  N. 

THR  Herz  ist  gleich 
JlDein  Himmelreich: 
Weil  die  geladenen  Gäste 
Nicht  kamen, 
Ruft  sie  zum  Feste 
Krüppel  mid  Lahmen. 

[Bniclist&ck] 

UND  fand,  als  ich  mich  aa%erafit. 
Verschüttet,  ach,  in  meinem  Bette 
Des  Lebens  Balsams  Füllekraft, 
Womit  ein  Fürstenkind  sich  wohl  begnüget  hätte. 

GANYMED 

WIE  im  Morgenglanze 
Ehi  rings  mich  anglühst, 
Frühling,  Geliebter! 
Mit  taxisendfacher  Liebeswonne 
Sich  an  mein  Herz  drängt 
Deiner  ewigen  Wärme 
Heilig  Gefühl, 
Unendliche  Schöne! 

Daß  ich  dich  fassen  möcht 
In  diesen  Arm! 

Ach^an  deinem  Bnsen 

lieg  ich,  schmachte. 

Und  deine  Blumen,  dein  Gras 

Drängen  sich  an  mein  Herz. 

Du  kühlst  den  brennenden 

Durst  meines  Busens, 

Lieblicher  Morgenwind! 

Ruft  drein  die  Nachtigall 

Liebend  nach  mir  aus  dem  Nebeltal. 

Ich  komm,  ich  komme! 
Wohin?  Ach,  wohin? 


I40  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Hinauf!  Hinauf  strebts. 

Es  schweben  die  Wolken 

Abwärts,  die  Wolken 

Neigen  sich  der  sehnenden  Liebe. 

Mir!  Mir! 

In  euerm  Schöße 

Aufwärts! 

Umfangend  umfangen! 

Aufwärts  an  deinen  Busen, 

Allliebender  Vater! 


MIT  EINER  ZEICHNUNG 

SIEH  in  diesem  Zauberspiegel 
Einen  Traum,  wie  Heb  imd  gut 
Unter  ihres  Gottes  Flügel 
Unsre  Freundin  leidend  ruht. 

Schaue,  wie  sie  sich  hinüber 
Aus  des  Lebens  Woge  stritt; 
Sieh  dein  Bild  ihr  gegenüber 
Und  den  Gott,  der  für  euch  litt. 

Fühle,  was  ich  in  dem  Weben 
Dieser  Himmelsluft  gefühlt. 
Als  mit  ungeduldgem  Streben 
Ich  die  Zeichnung  hingewühlt. 


1774  RHEINREISE 


ZWISCHEN  Lavater  iind  Basedow 
Saß  ich  bei  Tisch  des  Lebens  froh. 
Herr  Helfer,  der  war  gar  nicht  faul, 
Setzt'  sich  auf  einen  schwarzen  Gaul, 
Nahm  einen  Pfarrer  hinter  sich 
Und  auf  die  Offenbarung  strich, 
Die  rms  Johannes  der  Prophet 
Mit  Rätseln  wohl  versiegeln  tat; 
Eröffnet'  die  Siegel  kurz  und  gut, 
Wie  man  Theriaksbüchseu  öffnen  tut, 
Und  maß  mit  einem  heiligen  Rohr 
Die  Kubusstadt  und  das  Perlentor 
Dem  hocherstaunten  Jünger  vor. 
Ich  war  indes  nicht  weit  gereist. 
Hatte  ein  Stück  Salmen  aufgespeist. 

Vater  Basedow,  unter  dieser  Zeit, 
Packt  einen  Tanzmeister  an  seiner  Seit 
Und  zeigt  ihm,  was  die  Taufe  klar 
Bei  Christ  und  seinen  Jüngern  war; 
Und  daß  sichs  gar  nicht  ziemet  jetzt. 
Daß  man  den  Kindern  die  Köpfe  netzt. 
Drob  ärgert  sich  der  andre  sehr 
Und  wollte  gar  nichts  hören  mehr. 
Und  sagt:  es  wüßte  ein  jedes  Kind, 
Daß  es  in  der  Bibel  anders  stund. 
Und  ich  behaglich  unterdessen 
Hätt  einen  Hahnen  aufgefressen. 

* 
Und,  wie  nach  Emmaus,  weiter  gings 
Mit  Geist-  und  Feuerschritten, 
Prophete  rechts,  Prophete  links, 
Das  Weltkind  in  der  Mitten. 

n.  SURA 

Sist  so  viel  Heimweh  in  der  Welt,  daß  eins  dem  andern 
die  Wage  hält; 
Da  streckt  er  sich  in  seinem  Bett — denkt,  o  daß  ich  mein 

Weibchen  hätt. 
Ich  kröne  mich  in  meinem  Sinn;  fort  ist  die  gute  Meyerin! 


144  LYRISCI^E  DICHTUNGEN 

Doch  hoffen  wir  wieder  Maien-Freud, 
Er  lehret  und  bekehrt  die  Leut, 
Ich  fahr  zum  schönen  Liesel  heut. 

explicit  Sura. 
i 

WENN  du  darnach  was  fragst, 
Wir  waren  hier. 
Du,  der  du  nach  uns  kommen  magst, 
Hab  wenigstens  so  frisches  Blut, 
Und  sei  so  leidlich  fromm  und  gut 
Und  leidlich  glücklich,  als  wie  wir! 


w 


IR  werden  nun  recht  gut  geführt, 
Weil  Basedow  das  Ruder  rührt. 


[In  das  Stammbuch  des  Zeichners  Georg  Friedrich  Schmoll] 

GELACHT!  Geschrieben! 
Die  Zeit  vertrieben! 
Die  Zeit  gehalten 
Heißt  wohl  verwalten. 

Auf  der  Lahn  ut  supra 
^  Goethe. 

AUCH  was  die  Quer, 
So  gehts  auf  der  Welt  her. 
Auch  etwas  grad 
Wie  die  Allee  im  Bad. 
Auch  etwas  ringsherum, 
Geht  alles  um  und  um. 


GEISTES -GRUSS 

HOCH  auf  dem  alten  Turme  steht 
Des  Helden  edler  Geist, 
Der,  wie  das  Schiff  vorübergeht. 
Es  wohl  zu  fahren  heißt. 


1774  RHEINREISE 

"Sieh,  diese  Senne  war  so  stark, 
Dies  Herz  so  fest  und  wild, 
Die  Knochen  voll  von  Rittermark, 
Der  Becher  angefüllt; 

Mein  halbes  Leben  stürmt  ich  fort, 
Verdehnt  die  Hälft  in  Ruh, 
Und  du,  du  Menschen- Schi filein  dort, 
Fahr  immer,  immer  zu!" 

[In  den  Kalender  der  Frau  Hofrat  Kämpf 

SARAH  kocht'  unserm  Herre  Gott, 
Elisabeth  Götzen  in  der  Not, 
Nahmen  sich  ihres  Hauses  an, 
Waren  Gott  lieb,  waren  lieb  dem  Mann. 
Du  sorgtest  für  die  Freimde  hier. 
Drum,  liebes  Weibchen,  dank  ich  dir. 


145 


DEM  PASSAVANT-  UND  SCHÜBLERISCHEN 

BRAUTPAARE 

DE  GESCmVISTER  DES  BRÄUTIGAMS 

ER  fliegt  hinweg,  dich  zu  mnfangen. 
Und  unsre  Seele  jauchzt  ihm  lautj 
Mit  innig  heißerem  Verlangen 
Flog  nie  der  Bräutigam  zur  Braut. 
O  Schwester,  willst  du  länger  weilen? 
Auf,  bring  uns  doppelt  ihn  ziurück! 
Wir  woUen  alles  mit  dir  teilen 
Und  unser  Herz  und  unser  Glück. 

Die  besten  Eltern  zu  verlassen, 

Die  Freunde,  denen  du  verschwindst, 

Ist  traurig.  Doch,  um  dich  zu  fassen. 

Bedenke,  was  du  wiederfindst. 

Dein  Glück,  o  Freundin,  wird  nicht  minder. 

Und  unsers  wird  durch  dich  vermehrt. 

Sieh,  dich  erwarten  muntre  Kinder, 

Die  werten  Eltern  Gott  beschert, 

GOETHE  XIV  lo. 


146  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Komm  zu  dem  täglich  neuen  Feste, 
Wo  warme  Liebe  sich  ergießt, 
Ringsum  die  brüderlichen  Gäste, 
Da  eins  des  andern  Glück  genießt. 
Im  langgehofften  Sommerregen 
Reicht  Gott  dem  früchtevollen  Land 
Erquickung,  tausendfältgen  Segen; 
Reich  du  dem  Bruder  deine  Hand. 

Und  mit  der  Hand  ein  künftig  Glücke 
Für  ihn  und  dich  und  uns  zugleich; 
Dann  werden  jede  Augenblicke 
An  neuen  Lebensfreuden  reich. 
Ja,  es  sind  wonnevolle  Schmerzen, 
Was  aus  der  Eltern  Auge  weint; 
Sie  sehen  dich  mit  warmem  Herzen 
Mit  deiner  Schwester  neu  vereint. 

Wie  Freud  und  Tanz  ihn  dir  ergeben 
Und  Jugendwonne  euch  verknüpft. 
So  seht  einst  euer  ganzes  Leben 
Am  schönen  Abend  hingeschlüpft. 
Und  war  das  Band,  das  euch  verbunden, 
Gefühlvoll,  warm  und  heilig  rein, 
So  laßt  die  letzte  eurer  Stunden 
Wie  eure  erste  heiter  sein. 


I774-I77S  FRANKFURT 


KENNER  UND  ENTHUSIAST 

ICH  fahrt  einen  Freund  zum  Maidel  jnng. 
Wollt  ihm  zu  genießen  geben, 
Was  alles  es  hält,  gar  Freud  genung, 
Frisch  junges  warmes  Leben. 
Wir  £anden  sie  sitzen  an  ihrem  Bett, 
Tat  sich  auf  ihr  Händlein  stützen. 
Der  Herr,  der  macht'  ihr  ein  Kompliment, 
Tat  gegen  ihr  über  sitzen. 
Er  spitzt  die  Nase,  er  sturt  sie  an, 
Betracht't  sie  herüber,  hinübei^ 
Und  um  mich  wars  gar  bald  getan, 
Die  Sinnen  gingen  mir  über. 

Der  liebe  Herr  für  allen  Dank 
Führt  mich  drauf  in  eine  Ecken 
Und  sagt,  sie  war  doch  allzu  schlank 
Und  hätt  auch  Sommerflecken. 
Da  nahm  ich  von  meinem  Kind  Adieu, 
Und  scheidend  sah  ich  in  die  Höh: 
Ach  Herre  Gott,  ach  Herre  Gott, 
Erbarm  dich  doch  des  Heiren! 

Da  fuhrt  ich  ihn  in  die  Galerie 

Voll  Menschenglut  und  Geistes; 

Mir  wirds  da  gleich,  ich  weiß  nicht  wie. 

Mein  ganzes  Herz  zerreißt  es. 

O  Maler!  Maler!  rief  ich  laut. 

Belohn  dir  Gott  dein  Malen! 

Und  nur  die  allerschönste  Braut . 

Kann  dich  für  uns  bezahlen. 

Und  sieh,  da  ging  mein  Herr  herum 
Und  stochert'  sich  die  Zähne, 
Registriert'  in  Katalogum 
Mir  meine  Göttersöhne. 
Mein  Busen  war  so  voll  und  bang, 
Von  hundert  Welten  trächtig; 
Ihm  war  bald  was  zu  kurz,  zu  lang. 
Wägt*  alles  gar  bedächtig. 


1 5  o  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Da  warf  ich  in  ein  Eckchen  mich, 
Die  Eingeweide  brannten. 
Um  ihn  versammelten  Männer  sich, 
Die  ihn  einen  Kenner  nannten. 

AN  SCHWAGER  KRONOS 

SPUDE  dich,  Kronos! 
Fort  den  rasselnden  Trott! 
Bergab  gleitet  der  Weg; 
Ekles  Schwindeln  zögert 
Mir  vor  die  Stirne  dein  Zaudern. 
Frisch,  holpert  es  gleich, 
Über  Stock  und  Steine  den  Trott 
Rasch  ins  Leben  hinein! 

Nun  schon  wieder 
Den  eratmenden  Schritt 
Mühsam  Berg  hinauf! 
Auf  denn,  nicht  träge  denn, 
Strebend  und  hofifend  hinan! 

Weit,  hoch,  herrlich  der  Blick 
Rings  ins  Leben  hinein, 
Vom  Gebirg  zum  Gebirg 
Schwebet  der  ewige  Geist, 
Ewigen  Lebens  ahndevoll. 

Seitwärts  des  Überdachs  Schatten 
Zieht  dich  an 

Und  ein  Frischung  verheißender  Blick 
Auf  der  Schwelle  des  Mädchens  da. 
Labe  dich! — Mir  auch,  Mädchen, 
Diesen  schäumenden  Trank, 
Diesen  frischen  Gesundheitsblick! 

Ab  denn,  rascher  hinab! 
Sieh,  die  Sonne  sinkt! 
Eh  sie  sinkt,  eh  mich  Greisen 
Ergreift  im  Moore  Nebelduft, 
Entzahnte  Kiefer  schnattern 
Und  das  schlotternde  Gebein. 


1774/5  FRANKFURT  151 

Trunknen  vom  letzten  Strahl 
Reiß  mich,  ein  Feuermeer 
Mir  im  schäumenden  Aug, 
Mich  geblendeten  Taumelnden 
In  der  Hölle  nächtliches  Tor. 

Töne,  Schwager,  ins  Hom, 

Raßle  den  schallenden  Trab, 

Daß  der  Orkus  vernehme:  wir  kommen. 

Daß  gleich  an  der  Türe 

Der  Wirt  uns  frevmdlich  empfange.* 

PROMETHEUS 

BEDECKE  deinen  Himmel,  Zeus, 
Mit  Wolkendunst 
Und  übe,  dem  Knaben  gleich, 
Der  Disteln  köpft, 
An  Eichen  dich  und  Bergeshöhn} 
Mußt  mir  meine  Erde 
Doch  lassen  stehn 

Und  meine  Hütte,  die  du  nicht  gebaut, 
Und  meinen  Herd, 
Um  dessen  Glut 
Du  mich  beneidest. 

Ich  kenne  nichts  Ärmeres 
Unter  der  Sonn  als  euch,  Götter! 
Ihr  nähret  kümmerlich 
Von  Opferst  euem 
Und  Gebetshauch 
Eure  Majestät 
Und  darbtet,  wären 
Nicht  Kinder  und  Bettler 
Hofihungsvolle  Toren. 

Die  letzten  drei  Verse  in  älterer  Fassang: 

Daß  der  Orkus  vernehme;  ein  Fürst  kommt, 
Drunten  von  ihren  Sitzen 
Sich  die  Gewaltigen  lüften. 


152  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Da  ich  ein  Kind  war, 

Nicht  wußte,  wo  aus  noch  ein,  , 

Kehrt  ich  mein  verirrtes  Auge 

Zur  Sonne,  als  wenn  drüber  war 

Ein  Ohr,  zu  hören  meine  Klage, 

Ein  Herz  wie  meins, 

Sich  des  Bedrängten  zu  erbarmen. 

Wer  half  mir 

Wider  der  Titanen  Übermut? 

Wer  rettete  vom  Tode  mich. 

Von  Sklaverei? 

Hast  du  nicht  alles  selbst  vollendet, 

Heilig  glühend  Herz?  a 

Und  glühtest  jung  und  gut,  f 

Betrogen,  Rettungsdank 

Dem  Schlafenden  da  droben? 

Ich  dich  ehren?  Wofür? 

Hast  du  die  Schmerzen  gelindert 

Je  des  Beladenen? 

Hast  du  die  Tränen  gestillet 

Je  des  Geängsteten? 

Hat  nicht  mich  zum  Manne  geschmiedet 

Die  allmächtige  Zeit 

Und  das  ewige  Schicksal, 

Meine  Herrn  und  deine? 

Wähntest  du  etwa, 

Ich  sollte  das  Leben  hassen, 

In  Wüsten  fliehen, 

Weil  nicht  alle 

Blütenträume  reiften? 

Hier  sitz  ich,  forme  Menschen 

Nach  meinem  Bilde, 

Ein  Geschlecht,  das  mir  gleich  sei, 

Zu  leiden,  zu  weinen. 

Zu  genießen  und  zu  freuen  sich. 

Und  dein  nicht  zu  achten, 

Wie  ich! 


1774/5  FRANKFURT  153 

IN  DAS  STAMMBUCH 
JOHANN  PETER  DE  REYNIERS 

EIN  teures  Büchlein  siehst  du  hier, 
Voll  Pergament  und  weiß  Papier, 
Das  wohl  schon  an  die  hundert  Jahr 
Zum  Stammbuch  eingeweihet  war. 
Prädestination  ist  ein  Wunderding; 
Wie  es  dem  lieben  Büchlein  ging, 
So  ging  es  auch,  wie's  jeder  schaut, 
Dem  König  von  Garbe  seiner  Braut. 
Davon  ich  die  Historiam 
Hier  nicht  erzähl  aus  Sitt  und  Scham, 
Wie  solches  auf  dem  vorgen  Blatt 
Herr  Reynier  sich  ausgebeten  hat. 
Möcht  er  wohl  vorgesehen  haben. 
Was  drüber  kämen  für  feine  Knaben; 
Gnug,  er  das  Buch  für  gutes  Geld 
Für  seine  Freunde  weiß  bestellt. 
Drei,  vier  Blätter,  die  sind  beschrieben. 
Die  andern  sind  auch  weiß  geblieben. 
Hat  sie  das  Geschick  mir  zudacht. 
Nach  Erbschafts  Moder  und  langer  Nacht 
Zog  es  endlich  der  Jungfrauen  Flor 
Aus  Schutt  und  Staub  und  Graus  hervor 
Und  gab  es  mir  und  schenkt'  es  mir. 
Als  wohlbekannt  wegen  viel  Geschmier, 
Daß  ich  Papier  und  Pergament 
Erfüllt  mit  Werken  meiner  Hand; 
Dazu  bei  Schnee  und  Winternacht 
Der  Anfang  alsobald  gemacht. 
Da  wir  wohl  hinterm  Ofen  saßen, 
Borsdorfer  Äpfel  weidUch  fraßen. 
Zugegen  war  die  Jungfrau  lieb, 
Von  Post  und  Kirch  zwei  große  Dieb, 
Dadurch  Weihung  nicht  gering 
Ihre  rechte  Würdigkeit  empfing, 
Da  es  nach  Christ  Eintausend  Jahr 
Siebenhimdert  und  vier  und  siebzig  war, 


1 5  4  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Zwei  Tage  nach  Martini  Tag, 
Abends  mit'm  achten  Glockenschlag. 
Frankfurt  am  Main,  des  Witzes  Flor, 
Nicht  weit  vom  Eschenheimer  Tor, 
Findest  das  Haus  nach  dem  ABC: 
Hundert  sieben  und  fünfzig  Litera  D. 
Und  hiermit  mach  ich  den  Beschluß. 
Hab  freilich  alles  nicht  beschrieben, 
Genug,  was  wir  zusammen  trieben, 
War  nicht  Actus  continuus, 

» 
Den  Abend  drauf,  nach  Schrittschuhfahrt, 
Mit  Jungfräulein  von  edler  Art, 
Staats-Kirschen-Tort,  gemeinem  Bier 
Den  Abend  zugebracht  allhier. 
Und  Äugelein  schön  tmd  Lichter  Glanz, 
Ram,  Sitha,  Hannemann  und  sein  Schwanz. 

[An  HIeronymus  Peter  Schlosser] 

DU,  dem  die  Musen  von  den  Akten- Stöcken 
Die  Rosenhände  willig  strecken, 
Der  zweener  Herren  Diener  ist, 
Die  ärgre  Feinde  sind  als  Mammonas  tmd  Christ, 
Den  Weg  zum  Römer  selbst  mit  Blumen  dir  bestreust, 
Dem  Winter  Lieblichkeit  und  Dichterfreuden  leihst: 
Kein  Wunder,  daß  auch  deine  Gunst 
Zu  meinem  Vorteil  diesmal  schwärmet, 
Das  flache  Denkmal  unsrer  Kunst 
Mit  freundlicher  Empfindung  wärmet. 
Lass  es  an  deiner  Seite  stehn. 
Schenk  ihm,  auch  unverdient,  die  Ehre, 
Und  möchtest  du  an  dem  Versuche  sehn, 
Was  ich  gern  dir  und  gern  den  Musen  wäre. 

SENDSCHREIBEN 

MEIN  altes  Evangelium 
Bring  ich  dir  hier  schon  wieder; 
Doch  ist  mirs  wohl  um  mich  herum, 
Darum  schreib  ich  dirs  nieder. 


L 


1774/5  FRANKFURT  155 

Ich  holte  Gold,  ich  holte  Wein, 
Stellt  alles  da  zusammen; 
Da,  dacht  ich,  da  wird  Wärme  sein, 
Geht  mein  Gemäld  in  Flammen! 
Auch  tat  ich  bei  der  Schätze  Flor 
Viel  Glut  und  Reichtum  schwärmen; 
Doch  Menschenfleisch  geht  allem  vor. 
Um  sich  daran  zu  wärmen. 

Und  wer  nicht  richtet,  sondern  fleißig  ist, 

Wie  ich  bin  und  wie  du  bist, 

Den  belohnt  auch  die  Arbeit  mit  Genuß;. 

Nichts  wird  auf  der  Welt  ihm  Überdruß. 

Denn  er  blecket  nicht  mit  stumpfem  Zahn 

Lang  Gesottnes  und  Gebratnes  an, 

Das  er,  wenn  er  noch  so  sittlich  kaut. 

Endlich  doch  nicht  sonderlich  verdaut; 

Sondern  faßt  ein  tüchtig  Schinkenbein, 

Haut  da  gut  taglöhnermäßig  drein. 

Füllt  bis  oben  gierig  den  Pokal, 

Trinkt,  und  wischt  das  Maul  wohl  nicht  einmal. 

Sieh,  so  ist  Natur  ein  Buch  lebendig, 
Unverstanden,  doch  nicht  unverständlich; 
Denn  dein  Herz  hat  viel  und  groß  Begehr, 
Was  wohl  in  der  Welt  für  Freude  war, 
Allen  Sonnenschein  und  alle  Bäume, 
Alles  Meergestad  und  alle  Träume 
In  dein  Herz  zu  sammeln  miteinander. 
Wie  die  Welt  durchwühlend  Banks,  Solander. 

Und  wie  muß  dirs  werden,  wenn  du  fühlest. 
Daß  du  alles  in  dir  selbst  erzielest, 
Freude  hast  an  deiner  Frau  und  Hunden, 
Als  noch  keiner  in  Elysium  gefunden. 
Als  er  da  mit  Schatten  lieblich  schweifte 
Und  an  goldne  Gottgestalten  streifte. 
Nicht  in  Rom,  in  Magna  Gräcia, 
Dir  im  Herzen  ist  die  Wonne  da! 
Wer  mit  seiner  Mutter,  der  Natur,  sich  hält 
Findt  im  Stengelglas  wohl  eine  Welt. 


156  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

KÜNSTLERS  ABENDLIED 

ACH,  daß  die  innre  Schöpfungskraft 
Durch  meinen  Sinn  erschölle! 
Daß  eine  Bildung  voller  Saft 
Aus  meinen  Fingern  quölle! 

Ich  zittre  nur,  ich  stottre  niu-. 
Und  kann  es  doch  nicht  lassen; 
Ich  fühl,  ich  kenne  dich,  Natur, 
Und  so  muß  ich  dich  fassen. 

Bedenk  ich  dann,  wie  manches  Jahr 
Sich  schon  mein  Sinn  erschließet, 
Wie  er,  wo  dürre  Heide  war. 
Nun  Freudenquell  genießet; 

Wie  sehn  ich  mich,  Natur,  nach  dir, 
Dich  treu  und  lieb  zu  fühlen! 
Ein  lustger  Springbrunn  wirst  du  mir 
Aus  tausend  Röhren  spielen. 

Wirst  alle  meine  Kräfte  mir 
In  meinem  Sinn  erheitern 
Und  dieses  enge  Dasein  hier 
Zur  Ewigkeit  erweitern. 

[In  ein  Exemplar  der  'Leiden  des  jungen  Werthers'] 

IN  jammervolle  Seelenfreuden 
Sei  bei  des  Armen  Not  entzückt. 
Ihm  schuf  sein  Herz  die  bittre  Leiden — 
Deins,  mache  Doron  dich  beglückt. 

BLEIBE,  bleibe  bei  mir. 
Holder  Fremdling,  süße  Liebe, 
Holde  süße  Liebe, 
Und  verlasse  die  Seele  nicht! 
Ach,  wie  anders,  wie  schön 
Lebt  der  Himmel,  lebt  die  Erde, 
Ach,  wie  fühl  ich,  wie  fühl  ich  I 

Dieses  Leben  zum  ersten  Mal! 


1774/5  FRANKFURT  157 

NEUE  LIEBE  NEUES  LEBEN 

HERZ,  mein  Herz,  was  soll  das  geben? 
Was  bedränget  dich  so  sehr? 
Weich  ein  fremdes,  neues  Leben! 
Ich  erkenne  dich  nicht  mehr. 
Weg  ist  alles,  was  du  liebtest, 
Weg,  wanim  du  dich  betrübtest, 
Weg  dein  Fleiß  und  deine  Ruh — 
Ach,  wie  kamst  du  nur  dazu! 

Fesselt  dich  die  Jugendblüte, 
Diese  liebliche  Gestalt, 
Dieser  Blick  voll  Treu  und  Güte 
Mit  unendlicher  Gewalt? 
Will  ich  rasch  mich  ihr  entziehen, 
Mich  ermannen,  ihr  entfliehen, 
Führet  mich  im  Augenblick, 
Ach,  mein  Weg  zu  ihr  zurück. 

Und  an  diesem  Zauberfädchen, 
Das  sich  nicht  zerreißen  läßt. 
Hält  das  liebe,  lose  Mädchen 
Mich  so  wider  Willen  fest; 
Muß  in  ihrem  Zauberkreise 
Leben  nun  auf  ihre  Weise. 
Die  Verändrung,  ach, wie  groß! 
Liebe!  Liebe!  laß  mich  los! 


AN  BELINDEN 

WARUM  ziehst  du  mich  unwiderstehlich, 
Ach,  in  jene  Pracht? 
War  ich  guter  Junge  nicht  so  selig 
In  der  öden  Nacht? 

Heimlich  in  mein  Zimmerchen  verschlossen. 
Lag  im  Mondenschein, 
Ganz  von  seinem  Schauerlicht  lunflossen, 
Und  ich  dämmert  einj 


1 5  8  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Träumte  da  von  vollen  goldnen  Stunden 
Ungemischter  Lust, 

Hatte  schon  dein  liebes  Bild  empfunden    . 
Tief  in  meiner  Brust. 

Bin  ichs  noch,  den  du  bei  so  viel  Lichtern 
An  dem  Spieltisch  hältst? 
Oft  so  vmerträglichen  Gesichtern 
Gegenüber  stellst? 

Reizender  ist  mir  des  Frühlings  Blüte 
Nun  nicht  auf  der  Flur; 
Wo  du,  Engel,  bist,  ist  Lieb  und  Güte, 
Wo  du  bist,  Natur. 

[Widmung  von  'Erwin  und  Elmire'] 
[An  Lili  Schönemann] 

DEN  kleinen  Strauß,  den  ich  dir  binde, 
Pflückt  ich  aus  diesem  Herzen  hier. 
Nimm  ihn  gefällig  auf.  Belinde, 
Der  kleine  Strauß,  er  ist  von  mir. 

[Auf  Nicolai] 

MAG  jener  dünkelhafte  Mann 
Mich  als  gefährlich  preisen; 
Der  Plumpe,  der  nicht  schwimmen  kann, 
Er  wills  dem  Wasser  verweisen! 
Was  schiert  mich  der  Berliner  Bann, 
Geschmäcklerpfaffenwesen! 
Und  wer  mich  nicht  verstehen  kann, 
Der  lerne  besser  lesen. 

FREUDEN  DES  JUNGEN  WERTHERS 

EIN  junger  Mensch,  ich  weiß  nicht,  wie, 
Starb  einst  an  der  Hypochondrie 
Und  ward  denn  auch  begraben. 
Da  kam  ein  schöner  Geist  herbei, 
Der  hatte  seinen  Stuhlgang  frei. 


1774/5   FRANKFURT  159 

Wie's  denn  so  Leute  haben. 

Der  setzt'  notdürftig  sich  aufs  Grab 

Und  legte  da  sein  Häuflein  ab, 

Beschaute  freundlich  seinen  Dreck, 

Ging  wohl  eratmet  wieder  weg 

Und  sprach  zu  sich  bedächtiglich: 

"Der  gute  Mensch,  wie  hat  er  sich  verdorben! 

Hätt  er  geschissen  so  wie  ich, 

Er  wäre  nicht  gestorben!" 

STOSSGEBET 

VOR  Werthers  Leiden, 
Mehr  noch  vor  seinen  Freuden 
Bewahr  uns,  lieber  Herre  Gott! 


DEN  MÄNNERN  ZU  ZEIGEN 

I.  Samuelis  i6.  Kap.  ti.  Vers. 
Und  Samuel  sprach  zu  Isal:  Sind  das  die  Knaben  alle? 

ACH!  ich  war  auch  in  diesem  Falle: 
Als  ich  die  Weisen  hört  imd  las, 
Da  jeder  diese  Welten  alle 
Mit  seiner  Menschenspanne  maß, 
Da  fragt  ich:  aber — sind  sie  das, 
Sind  das  die  Knaben  alle? 


SEHNSUCHT 

Melodie:  Ol  Vater  der  Barmherzigkeit  etc. 

DIES  wird  die  letzte  Trän  nicht  sein, 
Die  glühend  herzauf  quillet, 
Das  mit  imsäglich  neuer  Pein 
Sich  schmerzvermehrend  stillet. 

O!  lass  doch  immer  hier  tmd  dort 
Mich  ewig  Liebe  fühlen. 
Und  möcht  der  Schmerz  auch  also  fort 
Durch  Nerv'  und  Adern  wühlen. 


i6o  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Könnt  ich  doch  ausgefüllt  einmal 
Von  dir,  o  Ewger!  werden  — 
Ach,  diese  lange,  tiefe  Qual, 
Wie  dauert  sie  auf  Erden! 


[An  Johann  Heinrich  Merck] 

HIER  schick  ich  dir  ein  tem-es  Pfand, 
Das  ich  mit  eigner  hoher  Hapd, 
Mit  Zirkel  rein  und  Lineal 
Gefertigt  dir  zur  Zeichen-Schal 
Und  auch  zu  festem  Kraft  und  Gnind 
In  einer  guten  Zeichen -Stund. 
Nimms,  lieber  Alter,  auf  dein  Knie 
Und  denke  mein,  wenns  imi  dich  schwebt, 
Wie  es  in  Sympathien  hie 
Um  mein  verschwirbelt  Hirnchen  lebt. 
Geb  Gott  dir  Lieb  zu  deinem  Pantoffel, 
Ehr  jede  krüpplige  Kartoffel, 
Erkenne  jedes  Dings  Gestalt, 
Sein  Leid  und  Freud,  Ruh  und  Gewalt, 
Und  fiihle,  wie  die  ganze  Welt 
Der  große  Himmel  zusammenhält. 
Dann  du  ein  Zeichner,  Kolorist, 
Haltungs  und  Ausdrucks  Meister  bist. 


I77S 
REISE  IN  DIE  SCHWEIZ 


50ETHE  XIV  ,1. 


AN  LOTTCHEN 

MITTEN  im  Getümmel  mancher  Freuden, 
Mancher  Sorgen,  mancher  Herzensnot, 
Denk  ich  dein,  o  Lottchen,  denken  dein  die  beiden, 
Wie  beim  stillen  Abendrot 
Du  die  Hand  uns  freundlich  reichtest, 
Da  du  uns  auf  reich  bebauter  Flur, 
In  dem  Schöße  herrlicher  Natur, 
Manche  leicht  verhüllte  Spur 
Einer  lieben  Seele  zeigtest. 

Wohl  ist  mirs,  daß  ich  dich  nicht  verkannt, 
Daß  ich  gleich  dich  in  der  ersten  Stunde, 
Ganz  den  Herzensausdruck  in  dem  Munde, 
Dich  ein  wahres,  gutes  Kind  genannt. 

Still  und  eng  und  ruhig  auferzogen 

Wirft  man  uns  auf  einmal  in  die  Welt; 

Uns  umspülen  hunderttausend  Wogen, 

Alles  reizt  uns,  mancherlei  gefällt, 

Mancherlei  verdrießt  ims,  und  von  Stund  zu  Stunden 

Schwankt  das  leichtunruhige  Gefühl; 

Wir  empfinden,  imd  was  wir  empfunden. 

Spült  hinweg  das  bunte  Weltgewühl. 

Wohl,  ich  weiß  es,  da  durchschleicht  uns  innen 
Manche  Hoffnung,  mancher  Schmerz. 
Lottchen,  wer  kennt  unsre  Sinnen? 
Lottchen,  wer  kennt  unser  Herz? 
Ach,  es  möchte  gern  gekannt  sein,  überfließen 
In  das  Mitempfinden  einer  Kreatur,  "    ^ 

Und  vertrauend  zwiefach  neu  genießen 
Alles  Leid  vmd  Freude  der  Natur. 

Und  da  sucht  das  Aug  oft  so  vergebens 

Ringsumher  und  findet  alles  zu; 

So  vertaumelt  sich  der  schönste  Teil  des  Lebens 

Ohne  Sturm  und  ohne  Ruh, 

Und  zu  deinem  ewgen  Unbehagen 

Stößt  dich  heute,  was  dich  gestern  zog. 

Kannst  du  zu  der  Welt  nur  Neigung  tragen. 

Die  so  oft  dich  trog 


i64  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Und  bei  deinem  Weh,  bei  deinem  Glücke 
Blieb  in  eigenwillger,  starrer  Ruh? 
Sieh,  da  tritt  der  Geist  in  sich  zurücke, 
Und  das  Herz — es  schließt  sich  zu. 

So  fand  ich  dich  und  ging  dir  frei  entgegen. 
O  sie  ist  wert,  zu  sein  geliebt! 
Rief  ich,  erflehte  dir  des  Himmels  reinsten  Segen, 
Den  er  dir  nun  in  deiner  Freundin  gibt. 

[In  das  Stammbuch  von  Jakob  Michael  Reinhold  Lenz] 

ZUR  Erinnerung  guter  Stunden, 
Aller  Freuden,  aller  Wunden, 
Aller  Sorgen,  aller  Schmerzen 
In  zwei  tollen  Dichter-Herzen, 
Noch  im  letzten  Augenblick 
Lass  ich  Lenzchen  dies  zurück. 

[Auf  dem  Züricher  See] 

OHNE  Wein  kanns  uns  auf  Erden 
Nimmer  wie  dreihtmdert  werden. 
Ohne  Wein  und  ohne  Weiber 
Hol  der  Teufel  unsre  Leiber. 

AUF  DEM  SEE  -^1 

UND  frische  Nahrung,  neues  Blut 
Saug  ich  aus  freier  Welt; 
Wie  ist  Natur  so  hold  und  gut. 
Die  mich  am  Busen  hält! 
Die  Welle  wieget  unsem  Kahn 
Im  Rudertakt  hinauf. 
Und  Berge,  wolkig  himmelan, 
Begegnen  unserm  Lauf. 

Aug,  mein  Aug,  was  sinkst  du  nieder? 
Goldne  Träume,  kommt  ihr  wieder? 
Weg,  du  Traum!  so  gold  du  bist; 
Hier  auch  Lieb  und  Leben  ist. 


1775  REISE  IN  DIE  SCHWEIZ  1 6  5 

Auf  der  Welle  blinken 
Tausend  schwebende  Sterne, 
Weiche  Nebel  trinken 
Rings  die  türmende  Ferne; 
Morgenwind  umflügelt 
Die  beschattete  Bucht, 
Und  im  See  bespiegelt 
Sich  die  reifende  Frucht. 


VOM  BERGE 

WENN  ich,  Hebe  Lili,  dich  nicht  liebte. 
Welche  Wonne  gab  mir  dieser  Blick! 
Und  doch,  wenn  ich,  Lili,  dich  nicht  liebte. 
Fand  ich  hier  und  fand  ich  dort  mein  Glück: 


[An  die  Wand  von  Lavaters  Stube 
im  Pfarrhaus  zu  Oberried] 

BIST  du  hier, 
Bin  ich  dir 
Immer  gegenwärtig; 
Machst  du  hier, 
Machst  mit  mir 
Deine  Werke  fertig. 


1775 
SOMMER -HERBST 

FRANKFURT 


[Titelstrophen  für  ,Die  Leiden  des  jungen  \Verthers% 
Zweite  Auflage] 

[Zum  ersten  Teil] 

JEDER  Jüngling  sehnt  sich,  so  zu  lieben, 
Jedes  Mädchen,  so  geliebt  zu  sein; 
Ach,  der  heiligste  von  unsern  Trieben, 
Warum  quillt  aus  ihm  die  grimme  Pein? 

[Zum  zweiten  Teil] 
Du  beweinst,  du  liebst  ihn,  liebe  Seele, 
Rettest  sein  Gedächtnis  von  der  Schmach; 
Sieh,  dir  winkt  sein  Geist  aus  seiner  Höhle: 
Sei  ein  Mann,  und  folge  mir  nicht  nach. 


BUNDESLIED 

IN  allen  guten  Stunden, 
Erhöht  von  Lieb  und  Wein, 
Soll  dieses  Lied  verbunden 
Von  uns  gesungen  sein! 
Uns  hält  der  Gott  zusammen. 
Der  uns  hierher  gebracht. 
Erneuert  imsre  Flammen, 
Er  hat  sie  angefacht. 

So  glühet  fröhlich  heute, 
Seid  recht  von  Herzen  eins! 
Auf,  trinkt  erneuter  Freude 
Dies  Glas  des  echten  Weins! 
Auf,  in  der  holden  Stunde 
Stoßt  an  und  küsset  treu, 
Bei  jedem  neuen  Bunde, 
Die  alten  wieder  neu! 

Wer  lebt  in  unserm  Kreise, 
Und  lebt  nicht  selig  drin: 
Genießt  die  freie  Weise 
Und  treuen  Brudersinn! 


1 7  o  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

So  bleibt  durch  alle  Zeiten 
Herz  Herzen  zugekehrt; 
Von  keinen  Kleinigkeiten 
Wird  unser  Bund  gestört. 

Uns  hat  ein  Gott  gesegnet 
Mit  freiem  Lebensblick, 
Und  alles,  was  begegnet, 
Erneuert  unser  Glück. 
Durch  Grillen  nicht  gedränget; 
Verknickt  sich  keine  Lust; 
Durch  Zieren  nicht  geenget, 
Schlägt  freier  unsre  Brust. 

Mit  jedem  Schritt  wird  weiter 
Die  rasche  Lebensbahn, 
Und  heiter,  immer  heiter 
Steigt  unser  Blick  hinan. 
Uns  wird  es  nimmer  bange, 
Wenn  alles  steigt  und  fällt. 
Und  bleiben  lange,  lange! 
Auf  ewig  so  gesellt. 

HERBSTGEFÜHL 

FETTER  grüne,  du  Laub, 
Am  Rebengeländer 
Hier  mein  Fenster  herauf! 
Gedrängter  quellet, 
Zwillingsbeeren,  und  reifet 
Schneller  tmd  glänzend  voller! 
Euch  brütet  der  Mutter  Sonne 
Scheideblick,  euch  umsäuselt 
Des  holden  Himmels 
Fruchtende  Fülle; 
Euch  kühlet  des  Mondes 
Freundlicher  Zauberhauch, 
Und  euch  betauen,  ach! 
Aus  diesen  Augen 
Der  ewig  belebenden  Liebe 
Vollschwellende  Tränen. 


1775  SOMMER/HERBST,  FRANKFURT      ^T^ 

WONNE  DER  WEHMUT 

TROCKNET  nicht,  trocknet  nicht, 
Tränen  der  ewigen  Liebe! 
Ach,  nur  dem  halbgetrockneten  Auge 
Wie  öde,  wie  tot  die  Welt  ihm  erscheint! 
Trocknet  nicht,  trocknet  nicht, 
Tränen  imglücklicher  Liebe! 

LILIS  PARK 

IST  doch  keine  Menagerie 
So  bunt  als  meiner  Lili  ihre! 
Sie  hat  darin  die  wunderbarsten  Tiere 
Und  kriegt  sie  'rein,  weiß  selbst  nicht  wie. 
O  wie  sie  hüpfen,  laufen,  trappeln. 
Mit  abgestumpften  Flügeln  zappeln, 
Die  armen  Prinzen  allzumal, 
In  nie  gelöschter  Liebesqual! 

"Wie  hieß  die  Fee? — Lili?" — Fragt  nicht  nach  ihr! 
Kennt  ihr  sie  nicht,  so  danket  Gott  dafür. 

Welch  ein  Geräusch,  welch  ein  Gegacker, 

Wenn  sie  sich  in  die  Türe  stellt 

Und  in  der  Hand  das  Futterkörbchen  hält! 

Welch  ein  Gequiek,  welch  ein  Gequacker! 

Alle  Bäume,  alle  Büsche 

Scheinen  lebendig  zu  werden: 

So  stürzen  sich  ganze  Herden 

Zu  ihren  Füßen;  sogar  im  Bassin  die  Fische 

Patschen  ungeduldig  mit  den  Köpfeij  heraus. 

Und  sie  streut  dann  das  Futter  aus 

Mit  einem  Blick — Götter  zu  entzücken, 

Geschweige  die  Bestien.  Da  gehts  an  ein  Picken, 

An  ein  Schlürfen,  an  ein  Hacken; 

Sie  stürzen  einander  über  die  Nacken, 

Schieben  sich,  drängen  sich,  reißen  sich, 

Jagen  sich,  ängsten  sich,  beißen  sich, 

Und  das  all  um  ein  Stückchen  Brot, 


172  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Das,  trocken,  aus  den  schönen  Händen  schmeckt, 
Als  hätt  es  in  Ambrosia  gesteckt. 

Aber  der  Blick  auch!  der  Ton, 

Wenn  sie  ruft:  Pipi!  Pipi! 

Zöge  den  Adler  Jupiters  vom  Thron; 

Der  Venus  Taubenpaar, 

Ja  der  eitle  Pfau  sogar, 

Ich  schwöre,  sie  kämen, 

Wenn  sie  den  Ton  von  weitem  nur  vernähmen. 

Denn  so  hat  sie  aus  des  Waldes  Nacht 

Einen  Bären,  ungeleckt  und  ungezogen, 

Unter  ihren  Beschluß  herein  betrogen, 

Unter  die  zalime  Kompanie  gebracht 

Und  mit  den  andern  zahm  gemacht: 

Bis  auf  einen  gewissen  Punkt,  versteht  sich! 

Wie  schön  und  ach!  wie  gut 

Schien  sie  zu  sein!  Ich  hätte  mein  Blut 

Gegeben,  tmi  ihre  Blumen  zu  begießen. 

"Ihr  sagtet:  ichl  Wie?  Wer?" 

Gut  denn,  ihr  Herrn,  gradaus:  Ich  bin  der  Bärj 

In  einem  Filetschurz  gefangen. 

An  einem  Seidenfaden  ihr  zu  Füßen. 

Doch  wie  das  alles  zugegangen. 

Erzähl  ich  euch  zur  andern  Zeit; 

Dazu  bin  ich  zu  wütig  heut. 

Denn  ha!  steh  ich  so  an  der  Ecke 

Und  hör  von  weitem  das  Geschnatter, 

Seh  das  Gefiitter,  das  Geflatter, 

Kehr  ich  mich  um 

Und  brumm-, 

Und  renne  rückwärts  eine  Strecke 

Und  seh  mich  um 

Und  brumm, 

Und  laufe  wieder  eine  Strecke, 

Und  kehr  doch  endlich  wieder  um. 

Dann  f^gts  auf  einmal  an,  zu  rasen, 

Ein  mächtger  Geist  schnaubt  aus  der  Nasen, 


1775   SOMMER/HERBST,  FRANKFURT      173 

Es  wildzt  die  innere  Natur. 

Was,  du  ein  Tor,  ein  Häschen  nur! 

So  ein  Pipi!  Eichhörnchen,  Nuß  zu  knacken! 

Ich  sträube  meinen  borstgen  Nacken, 

Zu  dienen  ungewöhnt. 

Ein  jedes  aufgestutzte  Bäumchen  höhnt 

Mich  an!  ich  flieh  vom  Boulingreen, 

Vom  niedlich  glatt  gemähten  Grase; 

Der  Buchsbaum  zieht  mir  eine  Nase, 

Ich  flieh  ins  dunkelste  Gebüsche  hin, 

Durchs  Gehege  zu  dringen, 

Über  die  Planken  zu  springen! 

Mir  versagt  Klettern  und  Sprung, 

Ein  Zauber  bleit  mich  nieder, 

Ein  Zauber  häkelt  mich  wider. 

Ich  arbeite  mich  ab,  und  bin  ich  matt  genung. 

Dann  lieg  ich  an  gekünstelten  Kaskaden 

Und  kau  und  wein  und  wälze  halb  mich  tot. 

Und  ach!  es  hören  meine  Not 

Nur  porzellanene  Oreaden. 

Auf  einmal!  Ach,  es  dringt 
Ein  seliges  Gefühl  durch  alle  meine  Glieder! 
Sie  ists,  die  dort  in  ihrer  Laube  singt! 
Ich  höre  die  liebe,  liebe  Stimme  wieder, 
Die  ganze  Luft  ist  warm,  ist  blütevoll. 
Ach,  singt  sie  wohl,  daß  ich  sie  hören  soll.^ 
Ich  dringe  zu,  tret  alle  Sträuche  nieder. 
Die  Büsche  fliehn,  die  Bäume  weichen  mir, 
Und  so — zu  ihren  Füßen  liegt  das  Tier. 

Sie  sieht  es  an:  "Ein  Ungeheuer!  doch  drollig! 

Für  einen  Bären  zu  mild, 

Für  einen  Pudel  zu  wild; 

So  zottig,  tapsig,  knollig!" 

Sie  streicht  ihm  mit  dem  Füßchen  übern  Rücken; 

Er  denkt  im  Paradiese  zu  sein. 

Wie  ihn  alle  sieben  Sinne  jucken! 

Und  sie — sieht  ganz  gelassen  drein. 


1 7  4  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Ich  küss  ihre  Schuhe,  kau  an  den  Sohlen, 

So  sittig,  als  ein  Bär  nur  mag; 

Ganz  sachte  heb  ich  mich  und  schwinge  mich  verstohlen 

Leis  an  ihr  Knie — Am  günstgen  Tag 

Läßt  sies  geschehn  und  kraut  mir  um  die  Ohren 

Und  patscht  mich  mit  mutwillig  derbem  Schlag; 

Ich  knurr,  in  Wonne  neu  geboren. 

Dann  fordert  sie  mit  süßem,  eitlem  Spotte: 

Allons  tout  douxl  eh  la  menottel 

Et  faites  Serviteur^ 

Comme  un  joli  Seigneur. 

So  treibt  sies  fort  mit  Spiel  und  Lachen! 

Es  hofft  der  oft  betrogne  Tor; 

Doch  will  er  sich  ein  bißchen  unnütz  machen, 

Hält  sie  ihn  kurz  als  wie  zuvor. 

Doch  hat  sie  auch  ein  Fläschchen  Balsam-Feuers, 

Dem  keiner  Erde  Honig  gleicht. 

Wovon  sie  wohl  einmal,  von  Lieb  und  Treu  erweicht, 

Um  die  verlechzten  Lippen  ihres  Ungeheuers 

Ein  Tröpfchen  mit  der  Fingerspitze  streicht 

Und  wieder  flieht  und  mich  mir  überläßt. 

Und  ich  dann,  losgebimden,  fest 

Gebannt  bin,  irnmer  nach  ihr  ziehe, 

Sie  suche,  schaudre,  wieder  fliehe — 

So  läßt  sie  den  zerstörten  Armen  gehn, 

Ist  seiner  Lust,  ist  seinen  Schmerzen  still; 

Ha!  manchmal  läßt  sie  mir  die  Tür  halb  offen  stehn, 

Seitblickt  mich  spottend  an,  ob  ich  nicht  fliehen  will. 

Und  ich! — Götter,  ists  in  euren  Händen, 
Dieses  dumpfe  Zauberwerk  zu  enden: 
Wie  denk  ich,  wenn  ihr  mir  die  Freiheit  schafft! 
Doch  sendet  ihr  mir  keine  Hilfe  nieder — 
Nicht  ganz  umsonst  reck  ich  so  meine  Glieder: 
Ich  fühls!  Ich  schwörs!  Noch  hab  ich  Kraft. 

1 


1775  SOMMER/HERBST,  FRANKFURT      1 7  5 

[An  Johann  Georg  und  Rahel  d'Orville] 

LIEBER  Herr  Dorville,  liebe  Frau, 
Ich  bitt  euch,  nehmts  nicht  so  genau; 
Ihr  kennt  nun  doch  einmal  den  Affen, 
Wißt,  ist  nichts  Gescheuts  mit  ihm  zu  schaffen. 
Lauft  da,  was  kann  wohl  tollers  seini 
Wie  Kain  in  die  Welt  hinein. 
Dafür  sitzt  er  auch  auf  dem  Sand, 
Die  Stadt  ist  ihm  ein  ödes  Land, 
Und  ist  ihm  halt  die  Welt  so  leer, 
Als  wenn  er  erst  'nein  gekommen  war. 

Ihm  ist  so  weh,  er  schauet  nicht 

Des  liebsten  Buben  Angesicht, 

Hängt  nicht  dem  Mann  um  Hals  und  Leib, 

Küßt  nicht  das  liebe  treue  Weib, 

Spaziert  nicht  mehr  im  Frauenschlepp, 

Und  hört,  ach,  nicht  mehr  das  Beb!  Bepp! 

Was  hilft  mir  nun  das  Glockengebrumm, 

Das  Kutschengerassel  und  Leut- Gesumm! 

Was  tat  ich  in  der  Kirche  gar? 

Da  ich  schon  einmal  im  Himmel  war, 

Ich  Hand  in  Hand  mit  Engeln  saß, 

Mich  in  dem  Himmels-Blau  vergaß, 

Das  aus  dem  süßen  Auge  winkt, 

Drinn  Lieb  und  Treu  wie  Stemlein  blinkt. 

Was  hört  ich  an  des  Pfarrers  Lehr, 

Die  doch  nicht  halb  so  kräftig  war. 

Als  wenn  ihr  Mündlein  lieb  und  mild 

Mich  über  Fluch  und  Unart  schilt. 

Was  lachst  du  Sonne  daherein? 
Ich  bitte  dich,  lass  mich  allein. 
Du  lächelst  ihren  Laden  an. 
Der  heut  mir  nicht  wird  aufgetan. 
Aha!  Du  bist  so  freundlich  hier, 
Blickst  durch  die  Ritzen  schlau  nach  ihr, 
Und  meinst,  du  hättst  wohl  nie  so  schön 
Da  droben  einen  Engel  ruhen  sehn. 


176  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Der  Tag  rückt  weiter  nun  heran. 
Besuch! — Ach,  was  geht  der  mich  an! 
Ich  bilde  mir  so  freundlich  ein, 
Ich  saß  noch  drauß'  mit  euch  allein. 
Der  Mann  raucht  seine  Pfeif  Tobak, 
Man  fuschelt  in  dem  Arbeitssack, 
Man  wickelt  Seide,  es  läßt  sich  an, 
Als  würden  Wunderstreich*  getan. 
Ein  medizinisch  Dejeund, 
Mit  Selzer  Wasser  und  Kaflfee; 
Nach  Fastenbrezeln,  wohlgeschmiert. 
Kommt  Has  und  Wein  hereinspaziert. 
Lili  muß  jeden  Lüsten  stillen. 
Das  all  um  ihres  Magens  willen. 

Die  Kinder  kommen  angehuppt, 
Mann!  wird  zur  Türe  'naus  geschwuppt! 
Ist  allen  so  wohl  ohn  Unterlaß; 
Ach  lieber  Gott,  mir  auch  so  was! 

Frau  Dorville,  wo  mag  Lili  sein? 
Ist  sie  in  ihrer  Stub  allein? — 
Sie  hat  die  Stirn  in  ihrer  Hand! 
Was  ist  ihr  in  dem  Freudenland? 
Soll  das  ein  böses  Kopfweh  sein? 
Oder  ach!  ists  etwan  andre  Pein? 

Geh,  liebes  Mufti,  ich  bitte  dich, 

Klettr  ihr  auf  den  Schoß,  küss  sie  für  mich. 

Scheich  Daher,  Hanne  Buzzi  du, 

Küss  ihr  die  Hand,  lass  ihr  nicht  Ruh. 

Mach,  Ali  Bey,  dich  auch  an  sie, 

Schmieg  dich  ihr  liebend  an  das  Knie. 

Und  Abu  Dahab,  komm  getrollt, 

Sei  freundlich,  bis  sie  sagt:  Du  Gold! 

Dich  herzlich  auf  dem  Arme  küßt. 

Und  hoffend  allen  Schmerz  vergißt. 

Der  alte  Friedrich  kommt  und  fragt: 
Was  heut  den  Damen  wohl  behagt? 


1775  SOMMER/HERBST,  FRANKFURT      1 7  7 

Er  soll  Kapaun  und  Wildbret  tragen! 
Lili,  hast  du  ihm  nichts  zu  sagen? 
Schon  wart  ich  auf  das  alte  Gesicht, 
Ich  bin  untröstlich,  kömmt  er  nicht. 

War  der  Herr  Doktor  noch  nicht  da? 

Sang  Andr^  noch  kein  Trallallra? 

Oho,  da  drauß'  gehts  bunt  ja  her, 

Als  ob  der  Teufel  ledig  war. 

Eins,  zwei,  drei!  Kling!  Klang!  Krack!  en  gar  de 

Kling!  Rompesl  Klang!  paies  ma  qtmrte. 

So  mag  es  wohl  dem  Teufel  sein, 
Wenn  er,  in  seiner  Höll  allein, 
Nach  Himmels  Freuden  seufzt  und  klagt, 
Daß  ihn  der  Unmut  rausgejagt. 
Doch  hab  ich  weit  ein  besser  Los, 
Die  Kluft  ist  lange  nicht  so  groß; 
Bin  euch  mit  Leib  und  Seele  nah 
Pliz!  Plaz!  So  bin  ich  wieder  da. 


GOETHE  XIV  la. 


775-1786  WEIMAR 


AN  EIN  COLONES  HERZ,  DAS  ER  AM  HALSE 
TRUG 

ANGEDENKEN  du  verklungner  Freude, 
Das  ich  immer  noch  am  Halse  trage, 
Hältst  du  länger  als  das  Seelenband  uns  beide? 
Verlängerst  du  der  .Liebe  kurze  Tage? 

Flieh  ich,  Lili,  vor  dir!  Muß  noch  an  deinem  Bande 

Durch  fremde  Lande, 

Durch  ferne  Täler  und  Wälder  wallen! 

Ach,  Lilis  Herz  konnte  so  bald  nicht 

Von  meinem  Herzen  fallen. 

Wie  ein  Vogel,  der  den  Faden  bricht 
Und  zum  Walde  kehrt. 
Er  schleppt  des  Gefängnisses  Schmach^ 
Noch  ein  Stückchen  des  Fadens  nach; 
Er  ist  der  alte  freigebome  Vogel  nicht, 
Er  hat  schon  jemand  angehört 

JÄGERS  ABENDLIED 

IM  Felde  schleich  ich  still  und  wild, 
Gespannt  mein  Feuerrohr. 
Da  schwebt  so  licht  dein  liebes  Bild, 
Dein  süßes  Bild  mir  vor. 

Du  wandelst  jetzt  wohl  still  und  mild 
Durch  Feld  und  liebes  Tal, 
Und  ach,  mein  schnell  verrauschend  Bild, 
Stellt  sich  dirs  nicht  einmal? 

Des  Menschen,  der  die  Welt  durchstreift 
Voll  Unmut  und  Verdruß, 
Nach  Osten  und  nach  Westen  schweift, 
Weil  er  dich  lassen  muß. 

Mir  ist  es,  denk  ich  nur  an  dich. 
Als  in  den  Mond  zu  sehn; 
Ein  stiller  Friede  kommt  auf  mich, 
Weiß  nicht,  wie  mir  geschehn. 


i82  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

HOLDE  Lili,  warst  so  lang 
AU  mein  Lust  und  all  mein  Sang! 
Bist,  ach,  nun  all  mein  Schmerz,  und  doch 
All  mein  Sang  bist  du  noch. 


[Aus  einem  Briefe  an  den  Herzog  Karl  August] 

GEHAB  dich  wohl  bei  den  hundert  Lichtern, 
Die  dich  umglänzen, 
Und  all  den  Gesichtern, 
Die  dich  umschwänzen 
Und  umkredenzen. 

Findst  doch  nur  wahre  Freud  und  Ruh 
Bei  Seelen  grad  und  treu  wie  du. 


NUR  Luft  und  Licht 
Und  Freundeslieb! 
Ermüde  nicht. 
Wem  dies  noch  blieb. 


LEGENDE 

IN  der  Wüsten  ein  heiliger  Mann 
Zu  seinem  Erstaunen  tat  treffen  an 
Einen  ziegenfüßigen  Faun,  der  sprach: 
"Herr,  betet  für  mich  und  meine  Gefährt, 
Daß  ich  zum  Himmel  gelassen  werd, 
Zur  seligen  Freud;  uns  dürstet  darnach." 
Der  heilige  Mann  dagegen  sprach: 
"Es  sieht  mit  deiner  Bitte  gar  gefährlich, 
Und  gewährt  wird  sie  dir  schwerlich. 
Du  kommst  nicht  zum  englischen  Gruß, 
Denn  du  hast  einen  Ziegenfuß." 
Da  sprach  hierauf  der  wilde  Mann: 
"Was  hat  euch  mein  Ziegenfuß  getan? 
Sah  ich  doch  manche  strack  imd  schön 
Mit  Eselsköpfen  gen  Himmel  gehn." 


1775/86  WEIMAR  183 

MUT 

SORGLOS  über  die  Fläche  weg, 
Wo  vom  kühnsten  Wager  die  Bahn 
Dir  nicht  vorgegraben  du  siehst, 
Mache  dir  selber  Bahn! 

Stille,  Liebchen,  mein  Herz! 
Krachts  gleich,  brichts  doch  nicht! 
Brichts  gleich,  brichts  nicht  mit  dir! 

HOFFNUNG 

SCHAFF,  das  Tagwerk  meiner  Hände, 
Hohes  Glück,  daß  ichs  vollende! 
Lass,  o  lass  mich  nicht  ermatten! 
Nein,  es  sind  nicht  leere  Träume: 
Jetzt  nur  Stangen,  diese  Bäume 
Geben  einst  noch  Frucht  und  Schatten. 

SORGE 

KEHRE  nicht  in  diesem  Kreise 
Neu  tmd  immer  neu  zurück! 
Lass,  o  lass  mir  meine  Weise, 
Gönn,  o  gönne  mir  mein  Glück! 
Soll  ich  fliehen:  Soll  ichs  fassen? 
Nun,  gezweifelt  ist  genug. 
Willst  du  mich  nicht  glücklich  lassen, 
Sorge,  nun  so  mach  mich  klug! 

[An  Lili] 
[In  ein  Exemplar  von  ,Stella.  Ein  Schauspiel  für  Liebende*.] 

IM  holden  Tal,  auf  schneebedeckten  Höhen 
War  stets  dein  Bild  mir  nah: 
Ich  sahs  um  mich  in  lichten  Wolken  wehen, 
Im  Herzen  war  mirs  da. 
Empfinde  hier,  wie  mit  allmächtgem  Triebe 
Ein  Herz  das  andre  zieht — 
Und  daß  vergebens  Liebe 
Vor  Liebe  flieht. 


i84  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

[An  den  Herzog  Karl  August] 

DURCHLAUCHTIGSTER!  Es  nahet  sich 
Ein  Bäuerlein  demütiglich, 
Da  Ihr  mit  Euerm  Roß  und  Heer 
Zum  Schlosse  tut  stolzieren  sehr, 
Gebt  auch  mir  einen  gnädigen  Blick, 
Das  ist  schon  Untertanen- Glück; 
Denn  Haus  und  Hof  und  Freud  und  Leid 
Hab  ich  schon  seit  geraumer  Zeit. 
Haben  Euch  sofern  auch  lieb  und  gern, 
Wie  man  eben  liebhat  seinen  Herrn, 
Den  man  wie  unsern  Herr-Gott  nennt 
Und  ihn  auch  meistens  nicht  besser  kennt. 
Geb  Euch  Gott  allen  guten  Segen, 
Nur  laßt  Euch  sein  uns  angelegen; 
Denn  wir  bäuerisch  treues  Blut 
Sind  doch  immer  Euer  bestes  Gut, 
Und  könnt  Euch  mehr  an  uns  erfreun 
Als  an  Pferden  imd  Stuterein. 
Dies  reich  ich  Euch  im  fremden  Land, 
Bliebe  Euch  übrigens  gern  unbekannt. 
Zieht  ein  imd  nehmet  Speis  und  Kraft 
Im  Zauberschloß  in  der  Nachbarschaft, 
Wo  eine  gute  Fee  regiert, 
Die  einen  goldnen  Scepter  führt 
Und  um  sich  eine  kleine  Welt 
Mit  holdem  Blick  beisammenhält. 

Seb.  Simpel. 

WANDRERS  NACHTLIED 

DER  du  von  dem  Himmel  bist. 
Alles  Leid  und  Schmerzen  stillest, 
Den,  der  doppelt  elend  ist, 
Doppelt  mit  Erquickung  füllest. 
Ach,  ich  bin  des  Treibens  müde! 
Was  soll  all  der  Schmerz  und  Lust.^ 
Süßer  Friede, 
Komm,  ach  komm  in  meine  Brust! 


1775/86  WEIMAR  185 

[An  Herder] 

HOCHWÜRDIGER,   's  ist  eine  alte  Schrift, 
Daß  die  Ehen  werden  im  Himmel  gestift. 
Seid  also  vielmehr  zu  Eurem  Orden 
Vom  Himmel  grad  'rab  gestiftet  worden. 
Es  uns  auch  allen  herzlich  frommt, 
Daß  Ihr  bald  mit  der  Peitsche  kommt — 
Und  wie  dann  unser  Herr  und  Christ 
Auf  einem  Esel  geritten  ist. 
So  werdet  Ihr  in  diesen  Zeiten 
Auf  hvmdert  und  fünfzig  Esel  reiten, 
Die  in  Euer  Herrlichkeit  Diözes 
Erlauern  sich  die  Rippenstoß. 
Wollten  Euch  nun  bewillkommen  baß, 
Bereiten  Euer  Haushalt  trocken  und  naß, 
Welches  fürwahr  wird  besser  sein. 
Als  täten  wir  Euch  die  Kleider  streim. 
Derhalb  zuvörderst,  woran  die  Welt 
Ihre  Achse  gebunden  hält, 
Wornach  Sonn,  Mond  und  Stern'  sich  drehn, 
All  Sinnbäu  'rüber  hinüber  gehn, 
Wie  nämlich  jedes  Ding  sich  putzt. 
Vors  andern  Augen  pfauisch  stutzt. 
Dran  da  sich  zeigt  eines  jeden  Gab, 
Ein  Pfau  ein  Pfau,  ein  Rab  ein  Rab. 

Ihr,  der  Ihr  seid  in  unserm  Gart 

Eben  wie  der  Messias  erwart. 

Wo  eben  keiner  weiß,  was  der  sollt, 

Aber  doch  immer,  was  er  wollt, 

Möcht  sich  aber  immer  mit  leisen  Schritten 

Vom  Messias  ein  Viztxun  erbitten. 

Also  ohfieracht  all  der  Ehr  auf  Erd, 

Daß  der  Herr  nicht  selbst  gekreuzigt  werd. 

Wollen  erscheinen  schön  und  züchtig, 

Sind  hernach  zu  allem  andern  tüchtig. 

Denn,  wie  im  Buche  geschrieben  steht. 

Daß  der  Wolf  in  Schafskleidern  geht. 

So  würd  es  Euch  gar  übel  stehn, 


i86  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Als  Schaf  in  Wolfskleidern  zu  gehn. 
Ihr  habt  darum  ein  schwarzes  Kleid, 
Einen  langen  Mantel  von  schwarzer  Seid, 
Ein  Kräglein,  wohl  in  Saum  gelegt, 
Das  nun  keiner  läng-breiter  trägt. 
Schick  Euch  ein  Muster  zur  nächsten  Frist, 
Weils  immer  doch  die  Hauptsach  ist. 
Dürft  auch  den  Mantel,  wie  vorzeiten, 
In  Sack  'nein  stecken  vor  allen  Leuten. 
Wenn  Euch  nun  erst  der  Rat  der  Stadt 
Zum  Oberpfarr  berufen  hat, 
Werd't  Ihr  vom  Fürsten  dann  ernennt 
Hofpredger^  Generalsupemdent. 
Mögt  auch  immer  Rückantwort  schreiben, 
Wie  Ihr  an  den  Lyncker  tätet  treiben, 
Weil  wir  doch  in  der  Fastnacht  Spiel 
Haben  Ratzen  und  Fratzen  gar  viel, 
Und  im  Grund  weder  Luther  noch  Christ 
Im  mindsten  hier  gemeinet  ist. 
Sondern  was  in  dem  Schöpsen- Geist 
Eben  lutherisch  und  christlich  heißt. 


Erklärung  eines  alten  Holzschnittes 

vorstellend 

HANS  SACHSENS  POETISCHE  SENDUNG 

IN  seiner  Werkstatt  Sonntags  früh 
Steht  unser  teurer  Meister  hie: 
Sein  schmutzig  Schurzfell  abgelegt, 
Einen  säubern  Feierwams  er  trägt. 
Läßt  Pechdraht,  Hammer  und  Kneipe  rasten, 
Die  Ahl  steckt  an  den  Arbeitskasten; 
Er  ruht  nun  auch  am  siebnten  Tag 
Von  manchem  Zug  und  manchem  Schlag. 

Wie  er  die  Frühlings-Sonne  spürt, 
Die  Ruh  ihm  neue  Arbeit  gebiert: 
Er  fühlt,  daß  er  eine  kleine  Welt 
In  seinem  Gehirne  brütend  hält, 


1775/86  WEIMAR  187 

Daß  die  fängt  an  zu  wirken  und  leben 
Daß  er  sie  gerne  möcht  von  sich  geben. 

Er  hätt  ein  Auge  treu  und  klug 
Und  war  auch  liebevoll  genug, 
Zu  schauen  manches  klar  und  rein 
Und  wieder  alles  zu  machen  sein; 
Hätt  auch  eine  Zunge,  die  sich  ergoß 
Und  leicht  und  fein  in  Worte  floß; 
Des  täten  die  Musen  sich  erfreun, 
Wollten  ihn  zum  Meistersänger  weihn. 

Da  tritt  herein  ein  junges  Weib, 

Mit  voller  Brust  und  rundem  Leib; 

Kräftig  sie  auf  den  Füßen  steht, 

Grad,  edel  vor  sich  hin  sie  geht, 

Ohne  mit  Schlepp  und  Steiß  zu  schwänzen, 

Oder  mit  den  Augen  herum  zu  scharlenzen. 

Sie  trägt  einen  Maßstab  in  ihrer  Hand, 

Ihr  Gürtel  ist  ein  gülden  Band, 

Hätt  auf  dem  Haupt  einen  Kornähr-Kranz, 

Ihr  Auge  war  lichten  Tages  Glanz; 

Man  nennt  sie  tätig  Ehrbarkeit, 

Sonst  auch  Großmut,  Rechtfertigkeit. 

Die  tritt  mit  gutem  Gruß  herein; 
Er  drob  nicht  mag  verwundert  sein. 
Denn  wie  sie  ist,  so  gut  und  schön, 
Meint  er,  er  hätt  sie  lang  gesehn. 

Die  spricht:  "Ich  hab  dich  auserlesen 
Vor  vielen  in  dem  Weltwirrwesen, 
Daß  du  sollst  haben  klare  Sinnen, 
Nichts  Ungeschicklichs  magst  beginnen. 
Wenn  andre  durcheinander  rennen. 
Sollst  dus  mit  treuem  Blick  erkennen; 
Wenn  andre  bärmlich  sich  beklagen, 
Sollst  schwankweis  deine  Sach  fürtragen; 
"v  Sollst  halten  über  Ehr  und  Recht, 

In  allem  Ding  sein  schlicht  imd  schlecht; 


1 8 8  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Frammkeit  und  Tugend  bieder  preisen, 
Das  Böse  mit  seinem  Namen  heißen. 
Nichts  veriindert  und  nichts  verwitzelt, 
Nichts  verzierlicht  und  nichts  verkritzelt; 
Sondern  die  Welt  soll  vor  dir  stehn, 
Wie  Albrecht  Dürer  sie  hat  gesehn: 
Ihr  festes  Leben  und  Männlichkeit, 
Ihre  innre  Kraft  und  Ständigkeit. 
Der  Natur- Genius  an  der  Hand 
Soll  dich  führen  durch  alle  Land, 
Soll  dir  zeigen  alles  Leben, 
Der  Menschen  wtmderliches  Weben, 
Ihr  Wirren,  Suchen,  Stoßen  und  Treiben, 
Schieben,  Reißen,  Drängen  und  Reiben; 
Wie  kunterbunt  die  Wirtschaft  toUert, 
Der  Ameishauf  durcheinander  kollert; 
Mag  dir  aber  bei  allem  geschehn, 
Als  tatst  in  einen  Zauberkasten  sehn. 
Schreib  das  dem  Menschenvolk  auf  Erden, 
Obs  ihm  möcht  eine  Witzimg  werden." 
Da  macht  sie  ihm  ein  Fenster  auf. 
Zeigt  ihm  draußen  viel  bunten  Häuf, 
Unter  dem  Himmel  allerlei  Wesen, 
Wie  ihrs  mögt  in  seinen  Schriften  lesen. 

Wie  mm  der  liebe  Meister  sich 
An  der  Natur  freut  wunniglich, 
Da  seht  ihr  an  der  andern  Seiten 
Ein  altes  Weiblein  zu  ihm  gleiten; 
Man  nennet  sie  Historia, 
Mythologia,  Fabula; 

Sie  schleppt  mit  keichend-wankenden  Schritten 
Eine  große  Tafel,  in  Holz  geschnitten: 
Darauf  seht  ihr  mit  weiten  Ärmeln  und  Falten 
Gott  Vater  Kinderlehre  halten, 
•     Adam,  Eva,  Paradies  imd  Schlang, 
Sodom  imd  Gomorras  Untergang, 
Könnt  auch  die  Zwölf  durchlauchtigen  Frauen 
Da  in  einem  Ehren-Spiegel  schauen; 


I 


1775/86  WEIMAR  189 

Dann  allerlei  Blutdurst,  Frevel  und  Mord, 

Der  Zwölf  Tyrannen  Schand'enport, 

Auch  allerlei  Lehr  und  gute  Weis, 

Könnt  sehn  Sankt  Peter  mit  der  Geiß, 

Über  der  Welt  Regiment  unzufrieden, 

Von  unserm  Herrn  zurecht  beschieden. 

Auch  war  bemalt  der  weite  Raum 

Ihres  Kleids  und  Schlepps  und  auch  der  Saum 

Mit  Weltlich  Tugend-  und  Laster- Geschieht. 

Unser  Meister  das  all  ersieht 

Und  freut  sich  dessen  wundersam. 

Denn  es  dient  wohl  in  seinen  Kram. 

Von  wannen  er  sich  eignet  sehr 

Gut  Exempel  und  gute  Lehr, 

Erzählt  das  eben  fix  und  treu. 

Als  war  er  selbst  ges)'n  dabei. 

Sein  Geist  war  ganz  dahin  gebannt, 

Er  hätt  kein  Auge  davon  verwandt, 

Hätt  er  nicht  hinter  seinem  Rucken 

Hören  mit  Klappern  und  Schellen  spucken. 

Da  tat  er  einen  Narren  spüren 

Mit  Bocks-  imd  Affensprüng  hofieren 

Und  ihm  mit  Schwank  und  Narreteiden 

Ein  lustig  Zwischenspiel  bereiten. 

Schleppt  hinter  sich  an  einer  Leinen 

Alle  Narren,  groß-  rmd  kleinen. 

Dick  und  hager,  gestreckt  und  krumb, 

Allzu  witzig  und  allzu  dumb. 

Mit  einem  großen  Farrenschwanz 

Regiert  er  sie  wie  ein'n  Afientanz: 

Bespottet  eines  jeden  Fürm, 

Treibt  sie  ins  Bad,  schneidt  ihnen  die  Wünn 

Und  führt  gar  bitter  viel  Besehwerden, 

Daß  ihrer  doch  nicht  wollen  wenger  werden. 

Wie  er  sich  sieht  so  um  imd  um, 
Kehrt  ihm  das  fast  den  Kopf  herum: 
Wie  er  wollt  Worte  zu  allem  finden.^ 


190  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Wie  er  möcht  so  viel  Schwall  verbinden? 

Wie  er  möcht  immer  mutig  bleiben, 

So  fort  zu  singen  und  zu  schreiben? 

Da  steigt  auf  einer  Wolke  Saum 

Herein  zu's  Oberfensters  Raum 

Die  Muse,  heilig  anzuschauen, 

Wie  ein  Bild  unsrer  lieben  Frauen. 

Die  umgibt  ihn  mit  ihrer  Klarheit 

Immer  kräftig  würkender  Wahrheit. 

Sie  spricht:  "Ich  komm,  um  dich  zu  weihn 

Nimm  meinen  Segen  und  Gedeihn! 

Ein  heilig  Feuer,  das  in  dir  ruht, 

Schlag  aus  in  hohe  lichte  Glut! 

Doch  daß  das  Leben,  das  dich  treibt, 

Immer  bei  holden  Kräften  bleibt, 

Hab  ich  deinem  innern  Wesen 

Nahrung  und  Balsam  auserlesen. 

Daß  deine  Seel  sei  wonnereich, 

Einer  Knospe  im  Taue  gleich." 

Da  zeigt  sie  ihm  hinter  seinem  Haus 
Heimlich  zur  Hintertür  hinaus, 
In  dem  eng  umzäunten  Garten 
Ein  holdes  Mägdlein  sitzend  warten 
Am  Bächlein,  beim  Holunderstrauch; 
Mit  abgesenktem  Haupt  und  Aug 
Sitzts  unter  einem  Apfelbaum 
Und  spürt  die  Welt  rings  um  sich  kaum, 
Hat  Rosen  in  ihren  Schoß  gepflückt 
Und  bindet  ein  Kränzlein  gar  geschickt, 
Mit  hellen  Knospen  imd  Blättern  drein: 
Für  wen  mag  wohl  das  Kränzel  sein? 
So  sitzt  sie  in  sich  selbst  geneigt. 
In  Hofifnungsfülle  ihr  Busen  steigt; 
Ihr  Wesen  ist  so  ahndevoll, 
Weiß  nicht,  was  sie  sich  wünschen  soll, 
Und  unter  vieler  Grillen  Lauf 
Steigt  wohl  einmal  ein  Seufzer  auf. 


1775/86  WEIMAR  191 

Warum  ist  deine  Stirn  so  trüb? 
Das,  was  dich  dränget,  süße  Lieb, 
Ist  volle  Wonn  und  Seligkeit; 
Die  dir  in  Einem  ist  bereit. 
Der  manches  Schicksal  vvirrevoU 
An  deinem  Auge  sich  lindern  soll; 
Der  durch  manch  wimniglichen  Kuß 
Wiedergeboren  werden  muß. 
Wie  er  den  schlanken  Leib  umfaßt, 
Von  aller  Mühe  findet  Rast, 
Wie  er  ins  runde  Ärmlein  sinkt, 
Neue  Lebenstag'  und  Kräfte  trinkt; 
Und  dir  kehrt  süßes  Jugendglück, 
Deine  Schalkheit  kehret  dir  zurück. 
Mit  Necken  und  manchen  Schelnlereien 
Wirst  ihn  bald  nagen,  bald  erfreuen. 
So  wird  die  Liebe  nimmer  alt. 
Und  wird  der  Dichter  nimmer  kalt! 

Weil  er  so  heimlich  glücklich  lebt. 
Da  droben  in  den  Wolken  schwebt 
Ein  Eichkranz,  ewig  jung  belaubt, 
Den  setzt  die  Nachwelt  ihm  aufs  Haupt; 
In  Froschpfuhl  all  das  Volk  verbannt, 
Das  seinen  Meister  je  verkannt. 

[An  Charlotte  v.  Stein] 

WARUM  gabst  du  uns  die  tiefen  Blicke, 
Unsre  Zukunft  ahndungsvoll  zu  schaun, 
Unsrer  Liebe,  imserm  Erdenglücke 
Wähnend  selig  nimmer  hinzutravm.'' 
Warum  gabst  uns,  Schicksal,  die  Gefühle, 
Uns  einander  in  das  Herz  zu  sehn. 
Um  durch  all  die  seltenen  Gewühle 
Unser  wahr  Verhältnis  auszuspähn? 

Ach,  so  viele  tausend  Menschen  kennen, 
Dumpf  sich  treibend,  kaum  ihr  eigen  Herz, 
Schweben  zwecklos  hin  und  her  und  rennen 


192  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Hoffnungslos  in  unversehnem  Schmerz; 
Jauchzen  wieder,  wenn  der  schnelleji  Freuden 
Unerwart'te  Morgenröte  tagt. 
Nur  uns  armen  Liebevollen  beiden 
Ist  das  wechselseitge  Glück  versagt, 
Uns  zu  lieben,  ohn  uns  zu  verstehen, 
In  dem  andern  sehn,  was  er  nie  war, 
Immer  frisch  auf  Traumglück  auszugehen 
Und  zu  schwanken  auch  in  Traumgefahr. 

Glücklich,  den  ein  leerer  Traum  beschäftigt! 
Glückhch,  dem  die  Ahndung  eitel  war! 
Jede  Gegenwart  und  jeder  Blick  bekräftigt 
Traum  und  Ahndung  leider  uns  noch  mehr. 
Sag,  was  will  das  Schicksal  uns  bereiten? 
Sag,  wie  band  es  uns  so  rein  genau? 
Ach,  du  warst  in  abgelebten  Zeiten 
Meine  Schwester  oder  meine  Frau. 

Kanntest  jeden  Zug  in  meinem  Wesen, 
Spähtest,  wie  die  reinste  Nerve  kUngt, 
Konntest  mich  mit  Einem  Blicke  lesen, 
Den  so  schwer  ein  sterblich  Aug  durchdringt; 
Tropftest  Mäßigung  dem  heißen  Blute, 
Richtetest  den  wilden  irren  Lauf, 
Und  in  deinen  Engelsarmen  ruhte 
Die  zerstörte  Brust  sich  wieder  auf; 
Hieltest  zauberleicht  ihn  angebunden 
Und  vergaukeltest  ihm  manchen  Tag. 
Welche  Seligkeit  glich  jenen  Wonnestunden, 
Da  er  dankbar  dir  zu  Füßen  lag, 
Fühlt'  sein  Herz  an  deinem  Herzen  schwellen, 
Fühlte  sich  in  deinem  Auge  gut. 
Alle  seine  Sinnen  sich  erhellen 
Und  beruhigen  sein  brausend  Blut! 

Und  von  allem  dem  schwebt  ein  Erinnern 
Nur  noch  um  das  vmgewisse  Herz, 
Fühlt  die  alte  Wahrheit  ewig  gleich  im  Innern, 
Und  der  neue  Zustand  wird  ihm  Schmerz. 


1775/56  WEIMAR  193 

Und  wir  scheinen  uns  nur  halb  beseelet, 
Dämmernd  ist  um  uns  der  hellste  Tag. 
Glücklich,  daß  das  Schicksal,  das  uns  quälet, 
Uns  doch  nicht  verändern  mag! 

RASTLOSE  LIEBE 

DEM  Schnee,  dem  Regen, 
Dem  Wind  entgegen, 
Im  Dampf  der  Klüfte, 
Durch  Nebeldüfte, 
Immer  zu!  Immer  zu! 
Ohne  Rast  und  Ruh! 

Lieber  durch  Leiden 
Möcht  ich  mich  schlagen, 
Als  so  viel  Freuden 
Des  Lebens  ertragen. 
Alle  das  Neigen 
Von  Herzen  zu  Herzen, 
Ach,  wie  so  eigen 
Schaffet  das  Schmerzen! 
Wie  soll  ich  fliehen? 
Wäldervvärts  ziehen.^ 
Alles  vergebens! 
Krone  des  Lebens, 
Glück  ohne  Ruh, 
Liebe,  bist  du! 

[An  Charlotte  v.  Stein] 
TTIER  bildend  nach  der  reinen  stillen 
1    1  Natur,  ist  ach,  mein  Herz  der  alten  Schmerzen  voll; 
Leb  ich  doch  stets  um  derentwillen, 
Um  derentwillen  ich  nicht  leben  soll. 

* 

LASS  dir  gefallen. 
Aus  diesem  Glas  zu  trinken, 
Und  mög  dir  dünken. 
Wir  säßen  neben  dir; 
Denn,  obgleich  fern,  sind  wir 
Dir  doch  die  Nächsten  fast  von  allen. 

GOETHE  XIV  13. 


194  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

UND  ich  geh  meinen  alten  Gang 
Meine  Hebe  Wiese  lang. 
Tauche  mich  in  die  Sonne  früh, 
Bad  ab  im  Monde  des  Tages  Müh. 
Leb  in  Liebes-Klarheit  und  -Kraft, 
Tut  mir  wohl  des  Herren  Nachbarschaft, 
Der  in  Liebes-Dumpfheit  und  -Kraft  hinlebt 
Und  sich  durch  seltnes  Wesen  webt. 

[An  Charlotte  v.  Stein] 

ZWISCHEN  Felsen  wuchsen  hier 
Diese  Blumen,  die  wir  treu  dir  reichen, 
Verwelkliche  Zeichen 
Der  ewigen  Liebe  zu  dir. 
* 

ACH,  so  drückt  mein  Schicksal  mich, 
Daß  ich  nach  dem  Unmöglichen  strebe. 
Lieber  Engel,  für  den  ich  nicht  lebe, 
Zwischen  den  Gebürgen  leb  ich  für  dich. 

EINSCHRÄNKUNG 

ICH  weiß  nicht,  was  mir  hier  gefallt, 
In  dieser  engen,  kleinen  Welt 
Mit  holdem  Zauberband  mich  hält? 
Vergess  ich  doch,  vergess  ich  gern, 
Wie  seltsam  mich  das  Schicksal  leitet; 
Und  ach,  ich  fühle,  nah  vmd  fem 
Ist  mir  noch  manches  zubereitet. 
O  wäre  doch  das  rechte  Maß  getroflfen! 
Was  bleibt  mir  nun,  als  eingehüllt, 
Von  holder  Lebenskraft  erfüllt. 
In  stiller  Gegenwart  die  Zukunft  zu  erhoflfen! 

[An  Charlotte  v.  Stein] 

ACH,  wie  bist  du  mir, 
Wie  bin  ich  dir  geblieben! 
Nein,  an  der  Wahrheit 
Verzweifl  ich  nicht  mehr. 


1775/86  WEIMAR  195 

Ach,  wenn  du  da  bist, 

Fühl  ich,  ich  soll  dich  nicht  lieben; 

Ach,  wenn  du  fern  bist, 

Fühl  ich,  ich  lieb  dich  so  sehr. 


HIERHERGETRABT,  die  Brust  voll  tiefem  Wühlen, 
Planvoller  Aussicht,  sehnt  sich  nun 
Mein  Herz,  ein  Weilchen  auszuruhn 
Und  wieder  rein  an  der  Natvir  zu  fühlen 
Und  wieder  was  für  dich  zu  tun. 


SEEFAHRT 

LANGE  Tag'  und  Nächte  stand  mein  Schiff  befrachtet; 
Günstger  Winde  harrend,  saß  mit  treuen  Freunden, 
Mir  Geduld  und  guten  Mut  erzechend, 
Ich  im  Hafen. 

Und  sie  waren  doppelt  ungeduldig: 
Gerne  gönnen  wir  die  schnellste  Reise, 
Gern  die  hohe  Fahrt  dir;  Güterfülle 
Wartet  drüben  in  den  Welten  deiner. 
Wird  Rückkehrendem  in  unsem  Armen 
Lieb  und  Preis  dir. 

Und  am  frühen  Morgen  wards  Getümmel, 
Und  dem  Schlaf  entjauchzt  uns  der  Matrose, 
Alles  wimmelt,  alles  lebet,  webet, 
Mit  dem  ersten  Segenshauch  zu  schiffen. 

Und  die  Segel  blühen  in  dem  Hauche, 
Und  die  Sonne  lockt  mit  Feuerliebe; 
Ziehn  die  Segel,  ziehn  die  hohen  Wolken, 
Jauchzen  an  dem  Ufer  alle  Freunde 
Hoflfnungslieder  nach,  im  Freudetaumel 
Reisefreuden  wähnend,  wie  des  Einschiffmorgens, 
Wie  der  ersten  hohen  Stemennächte. 


196  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Aber  gottgesandte  Wechselwinde  treiben 
Seitwärts  ihn  der  vorgesteckten  Fahrt  ab, 
Und  er  scheint  sich  ihnen  hinzugeben, 
Strebet  leise  sie  zu  überlisten. 
Treu  dem  Zweck  auch  auf  dem  schiefen  Wege. 

Aber  aus  der  dumpfen  grauen  Feme 
Kündet  leisewandelnd  sich  der  Sturm  an. 
Drückt  die  Vögel  nieder  aufs  Gewässer, 
Drückt  der  Menschen  schwellend  Herz  darnieder; 
Und  er  kommt.    Vor  seinem  starren  Wüten 
Streckt  der  Schiffer  klug  die  Segel  nieder, 
Mit  dem  angsterfüllten  Balle  spielen 
Wind  und  Wellen. 

Und  an  jenem  Ufer  drüben  stehen 

Freund'  und  Lieben,  beben  auf  dem  Festen: 

Ach,  warum  ist  er  nicht  hier  geblieben! 

Ach,  der  Stiurm !    Verschlagen  weg  vom  Glücke! 

Soll  der  Gute  so  zugrtmde  gehen? 

Ach,  er  sollte,  ach,  er  könnte!    Götter! 

Doch  er  stehet  männlich  an  dem  Steuer: 
Mit  dem  Schiffe  spielen  Wind  und  Wellen, 
Wind  und  Wellen  nicht  mit  seinem  Herzen. 
Herrschend  blickt  er  auf  die  grimme  Tiefe 
Und  vertrauet,  scheiternd  oder  landend. 
Seinen  Göttern. 

[An  Charlotte  v.  Stein] 

ICH  bin  eben  nirgend  geborgen: 
Fern  an  die  holde  Saale  hier 
Verfolgen  mich  manche  Sorgen 
Und  meine  Liebe  zu  dir. 

AN  DEN  GEIST  DES  JOHANNES  SECUNDUS 

LIEBER,  heiliger,  großer  Küsser, 
Der  du  mirs  in  lechzend  atmender 
Glückseligkeit  fast  vorgetan  hast! 
Wem  soll  ichs  klagen,  klagt  ich  dirs  nicht! 
Dir,  dessen  Lieder  wie  ein  warmes  Kissen 


1775/86  WEIMAR  197 

Heilender  Kräuter  mir  unters  Herz  sich  legten, 

Daß  es  wieder  aus  dem  krampfigei   Starren 

Erdetreibens  klopfend  sich  erholte. 

Ach,  wie  klag  ich  dirs,  daß  meine  Lippe  blutet. 

Mir  gespalten  ist  und  erbärmlich  schmerzet. 

Meine  Lippe,  die  so  viel  gewohnt  ist 

Von  der  Liebe  süßtem  Glück  zu  schwellen 

Und,  wie  eine  goldne  Himmelspforte, 

Lallende  Seligkeit  aus  und  ein  zu  stammeln. 

Gesprungen  ist  sie!    Nicht  vom  Biß  der  Holden, 

Die,  in  voller  ringsumfangender  Liebe, 

Mehr  möcht  haben  von  mir  und  möchte  mich  Ganzen 

Ganz  erküssen  und  fressen,  und  was  sie  könnte! 

Nicht  gesprungen,  weil  nach  ihrem  Hauche 

Meine  Lippen  imheilige  Lüfte  entweihten. 

Ach,  gesprungen,  weil  mich  Öden,  Kalten, 

Über  beizenden  Reif  der  Herbstwind  anpackt. 

Und  da  ist  Traubensaft  und  der  Saft  der  Bienen, 

An  meines  Herdes  treuem  Feuer  vereinigt, 

Der  soll  mir  helfen!    Wahrlich,  er  hilft  nicht, 

Denn  von  der  Liebe  alles  heilendem 

Gift- Balsam  ist  kein  Tröpfchen  drunter. 

HYPOCHONDER 

DER  Teufel  hol  das  Menschengeschlecht! 
Man  möchte  rasend  werden! 
Da  nehm  ich  mir  so  eifrig  vor: 
Will  niemand  weiter  sehen, 
Will  all  das  Volk  Gott  und  sich  selbst 
Und  dem  Teufel  überlassen! 
Und  kaiun  seh  ich  ein  Menschengesicht, 
So  hab  ichs  wieder  lieb. 

ICH  war  ein  Knabe  wann  und  gut, 
Als  Jüngling  hatt  ich  frisches  Blut, 
Versprach  einst  einen  Mann. 
Gelitten  hab  ich  und  geliebt 
Und  liege  nieder  ohnbetrübt. 
Da  ich  nicht  weiter  kann. 


198  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

STOSSSEUFZER 

ACH,  man  sparte  viel, 
Seltner  wäre  verruckt  das  Ziel, 
War  weniger  Dumpfheit,  vergebenes  Sehnen, 
Ich  könnte  viel  glücklicher  sein — 
Gäbs  nur  keinen  Wein 
Und  keine  Weibertränen! 

SCHNEIDER- COURAGE 

ES  ist  ein  Schuß  gefallen! 
Mein!  sagt,  wer  schoß  da  drauß?" 
Es  ist  der  junge  Jäger, 
Der  schießt  im  Hinterhaus. 

Die  Spatzen  in  dem  Garten, 
Die  machen  viel  Verdruß. 
Zwei  Spatzen  und  ein  Schneider, 
Die  fielen  von  dem  Schuß; 

Die  Spatzen  von  den  Schroten, 
Der  Schneider  von  dem  Schreck, 
Die  Spatzen  in  die  Schoten, 
Der  Schneider  in  den — . 

VOR  GERICHT 

VON  wem  ich  es  habe,  das  sag  ich  euch  nicht, 
Das  Kind  in  meinem  Leib. — 
Pfui!  speit  ihr  aus:  die  Hure  da! — 
Bin  doch  ein  ehrlich  Weib. 

Mit  wem  ich  mich  traute,  das  sag  ich  euch  nicht. 

Mein  Schatz  ist  lieb  und  gut, 

Trägt  er  eine  goldene  Kett  am  Hals, 

Trägt  er  einen  strohernen  Hut. 

Soll  Spott  und  Hohn  getragen  sein. 
Trag  ich  allein  den  Hohn. 
Ich  kenn  ihn  wohl,  er  kennt  mich  wohl, 
Und  Gott  weiß  auch  davon. 


1775/86  WEIMAR  199 

Herr  Pfarrer  und  Herr  Amtmann  ihr, 
Ich  bitte,  laßt  mich  in  Ruh! 
Es  ist  mein  Kind,  es  bleibt  mein  Kind, 
Ihr  gebt  mir  ja  nichts  dazu. 

BEHERZIGUNG 

ACH,  was  soll  der  Mensch  verlangen'' 
Ist  es  besser,  ruhig  bleiben? 
Klammernd  fest  sich  anzuhangen? 
Ist  es  besser,  sich  zu  treiben? 
Soll  er  sich  ein  Häuschen  bauen? 
Soll  er  unter  Zelten  leben? 
Soll  er  auf  die  Felsen  trauen? 
Selbst  die  festen  Felsen  beben. 

Eines  schickt  sich  nicht  für  alle! 
Sehe  jeder,  wie  ers  treibe, 
Sehe  jeder,  wo  er  bleibe, 
Und  wer  steht,  daß  er  nicht  falle! 

[An  die  Herzogin  Luise] 
[Von  Goethe?] 

WIE  alle  dich  verehren  müssen, 
Das  kannst  du,  teure  Fürstin,  wissen. 
Dir  sagt  es  jedes  Angesicht. 
Allein  wie  wir  dich  alle  lieben, 
Das  steht  im  Herzen  tief  geschrieben. 
Du  ahndests  kaiun  und  glaubst  es  nicht. 

[An  die  Herzogin  Luise] 
[Widmung  zu  dem  Feenspiel  ,Lila'] 

WAS  wir  vermögen, 
Bringen  wir 
An  dem  geliebten  Tage  dir 
Entgegen. 

Du  fühlst,  daß  bei  dem  Unvermögen 
Und  unter  der  Zaubermummerei 
Doch  guter  Wille  und  Wahrheit  sei. 


200  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

[An  Charlotte  v.  Stein] 

WAS  mir  in  Kopf  und  Herzen  stritt 
Seit  manchen  lieben  Jahren! 
Was  ich  da  träumend  jauchzt  und  h'tt, 
Muß  wachend  nun  erfahren. 


[Aus  einem  Briefe  an  die  Gräfin  Auguste  zu  Stolberg] 

ALLES  geben  die  Götter,  die  unendlichen, 
Ihren  Lieblingen  ganz. 
Alle  Freuden,  die  unendlichen, 
Alle  Schmerzen,  die  unendlichen,  ganz. 

AN  DEN  MOND 

[Erste  Fassung] 

FÜLLEST  wieder  's  liebe  Tal 
Still  mit  Nebelglanz, 
Lösest  endlich  auch  einmal 
Meine  Seele  ganz; 

Breitest  über  mein  Gefild 
Lindernd  deinen  Blick, 
Wie  der  Liebsten  Auge  mild 
Über  mein  Geschick. 

Das  du  so  beweglich  kennst, 
Dieses  Herz  im  Brand, 
Haltet  ihr  wie  ein  Gespenst 
An  den  Fluß  gebannt, 

Wenn  in  öder  Winternacht 
Er  vom  Tode  schwillt 
Und  bei  Frühlingslebens  Pracht 
An  den  Knospen  quillt. 

Selig,  wer  sich  vor  der  Welt 
Ohne  Haß  verschließt. 
Einen  Mann  am  Busen  hält 
Und  mit  dem  genießt, 


1775/86  WEIMAR  201 

Was,  dem  Menschen  iinbewußt 
Oder  wohl  veracht, 
Durch  das  Labyrinth  der  Brust 
Wandelt  in  der  Nacht. 

AN  DEN  MOND 

[Letzte  Fassung] 

FÜLLEST  wieder  Busch  und  Tal 
Still  mit  Nebelglanz, 
Lösest  endlich  auch  einmal 
Meine  Seele  ganz; 

Breitest  über  mein  Gefild 
Lindernd  deinen  Blick, 
Wie  des  Freundes  Auge  mild 
Über  mein  Geschick. 

Jeden  Nachklang  fühlt  mein  Herz 
Froh-  und  trüber  Zeit 
Wandle  zwischen  Freud  und  Schmerz 
In  der  Einsamkeit. 

Fließe,  fließe,  lieber  Fluß! 
Nimmer  werd  ich  froh. 
So  verrauschte  Scherz  und  Kuß, 
Und  die  Treue  so. 

Ich  besaß  es  doch  einmal, 
Was  so  köstlich  ist! 
Daß  man  doch  zu  seiner  Qual 
Nimmer  es  vergißt! 

Rausche,  Fluß,  das  Tal  entlang, 
Ohne  Rast  imd  Ruh, 
Rausche,  flüstre  meinem  Sang 
Melodien  zu, 

Wenn  du  in  der  Wintemacht 
Wütend  überschwillst, 
Oder  um  die  Frühlingspracht 
Junger  ELnospen  quillst. 


202  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Selig,  wer  sich  vor  der  Welt 
Ohne  Haß  verschließt, 
Einen  Freund  am  Busen  hält 
Und  mit  dem  genießt, 

Was,  von  Menschen  nicht  gewußt 
Oder  nicht  bedacht, 
Durch  das  Labyrinth  der  Brust 
Wandelt  in  der  Nacht. 


[Motto  auf  dem  Titelblatt  der  .Gesänge,  mit  Begleitung 
des  Klaviers'  von  Philipp  Christoph  Kayser,  1777] 

[Von  Goethe  oder  Kayser?] 

''lEF  aus  dem  Herzen  hingesungen 
Nehmt  diese  Lieder  herzenein. 
So  ist  mir  jeder  Wunsch  gelungen, 
So  sind  auch  eure  Freuden  mein. 


1    I 


GELLERTS  MONUMENT  VON  OESER 

ALS  Geliert,  der  geliebte,  schied, 
Manch  gutes  Herz  im  stillen  weinte, 
Auch  manches  matte,  schiefe  Lied 
Sich  mit  dem  reinen  Schmerz  vereinte; 
Und  jeder  Stümper  bei  dem  Grab 
Ein  Blümchen  an  die  Ehrenkrone, 
Ein  Scherflein  zu  des  Edlen  Lohne 
Mit  vielzufriedner  Miene  gab: 
Stand  Oeser  seitwärts  von  den  Leuten 
Und  fühlte  den  Geschiednen,  sann 
Ein  bleibend  Bild,  ein  lieblich  Deuten 
Auf  den  verschwundnen  werten  Mann; 
Und  sammelte  mit  Geistesflug 
Im  Marmor  alles  Lobes  Stammeln, 
Wie  wir  in  einen  engen  Krug 
Die  Asche  des  Geliebten  sammeln. 


1775/86  WEIMAR  203 

HARZREISE  IM  WINTER 

DEM  Geier  gleich, 
Der  auf  schweren  Morgenvvolken 
Mit  sanftem  Fittich  ruhend 
Nach  Beute  schaut, 
Schwebe  mein  Lied. 

Denn  ein  Gott  hat 
Jedem  seine  Bahn 
Vorgezeichnet, 
Die  der  Glückliche 
Rasch  zum  freudigen 
Ziele  rennt: 
Wem  aber  Unglück 
Das  Herz  zusammenzog. 
Er  sträubt  vergebens 
Sich  gegen  die  Schranken 
Des  ehernen  Fadens, 
Den  die  doch  bittre  Schere 
Nur  einmal  löst. 

In  Dickichts-Schauer 
Drängt  sich  das  rauhe  Wild, 
Und  mit  den  Sperlingen 
Haben  längst  die  Reichen 
In  ihre  Sümpfe  sich  gesenkt. 

Leicht  ists  folgen  dem  Wagen, 
Den  Fortuna  führt, 
W^ie  der  gemächliche  Troß 
Auf  gebesserten  Wegen 
Hinter  des  Fürsten  Einzug. 

Aber  abseits  wer  ists? 

Ins  Gebüsch  verliert  sich  sein  Pfad, 

Hinter  ihm  schlagen 

Die  Sträuche  zusammen, 

Das  Gras  steht  wieder  auf, 

Die  Öde  verschlingt  ihn. 


204  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Ach,  wer  heilet  die  Schmerzen 

Dess,  dem  Balsam  zu  Gift  ward? 

Der  sich  Menschenhaß 

Aus  der  Fülle  der  Liebe  trank? 

Erst  verachtet,  nun  ein  Verächter, 

Zehrt  er  heimlich  auf 

Seinen  eignen  Wert 

In  vmgnügender  Selbstsucht. 

Ist  auf  deinem  Psalter, 
Vater  der  Liebe,  ein  Ton 
Seinem  Ohre  vernehmlich, 
So  erquicke  sein  Herz! 
Öffne  den  umwölkten  Blick 
Über  die  tausend  Quellen 
Neben  dem  Durstenden 
In  der  Wüste. 

Der  du  der  Freuden  viel  schaffst, 
Jedem  ein  überfließend  Maß 
Segne  die  Brüder  der  Jagd 
Auf  der  Fährte  des  Wilds 
Mit  jugendlichem  Übermut 
Fröhlicher  Mordsucht, 
'Späte  Rächer  des  Unbills, 
Dem  schon  Jahre  vergeblich 
Wehrt  mit  Knütteln  der  Bauer. 

Aber  den  Einsamen  hüll 

In  deine  Goldvvolken! 

Umgib  mit  Wintergrün, 

Bis  die  Rose  wieder  heranreift, 

Die  feuchten  Haare, 

O  Liebe,  deines  Dichters! 

Mit  der  dämmernden  Fackel 
Leuchtest  du  ihm 
Durch  die  Furten  bei  Nacht, 
Über  grundlose  Wege 
Auf  öden  Gefilden; 


1775/86  WEIMAR  205 

Mit  dem  tausendfarbigen  Morgen 
Lachst  du  ins  Herz  ihm; 
Mit  dem  beizenden  Sturm 
Trägst  du  ihn  hoch  empor; 
Winterströme  stürzen  vom  Felsen 
In  seine  Psalmen, 
Und  Altar  des  lieblichsten  Danks 
Wird  ihm  des  gefürchteten  Gipfels 
Schneebehangner  Scheitel, 
Den  mit  Geisterreihen 
Kränzten  ahnende  Völker. 

Du  stehst  mit  unerforschtem  Busen 

Geheimnisvoll  oflfenbar 

Über  der  erstaunten  Welt 

Und  schaust  aus  Wolken 

Auf  ihre  Reiche  und  Herrlichkeit, 

Die  du  aus  den  Adern  deiner  Brüder 

Neben  dir  wässerst. 


ERINNERUNG 

WILLST  du  immer  weiter  schweifen? 
Sieh,  das  Gute  liegt  so  nah. 
Lerne  nur  das  Glück  ergreifen. 
Denn  das  Glück  ist  immer  da. 


AN  DIE  ENTFERNTE 

SO  hab  ich  wirklich  dich  verloren? 
Bist  du,  o  Schöne,  mir  entflohn? 
Noch  klingt  in  den  gewohnten  Ohren 
Ein  jedes  Wort,  ein  jeder  Ton. 

So  wie  des  Wandrers  Blick  am  Morgen 
Vergebens  in  die  Lüfte  dringt. 
Wenn,  in  dem  blauen  Raum  verborgen, 
Hoch  über  ihm  die  Lerche  singt: 


2o6  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

So  dringet  ängstlich  hin  und  wieder 
Durch  Feld  und  Busch  und  Wald  mein  Blick; 
Dich  rufen  alle  meine  Lieder: 
O  komm,  Geliebte,  mir  zurück! 

DER  FISCHER 

DAS  Wasser  rauscht',  das  Wasser  schwoll, 
Ein  Fischer  saß  daran. 
Sah  nach  dem  Angel  ruhevoll, 
Kühl  bis  ans  Herz  hinan. 
Und  wie  er  sitzt  und  wie  er  lauscht, 
Teilt  sich  die  Flut  empor; 
Aus  dem  bewegten  Wasser  rauscht 
Ein  feuchtes  Weib  hervor. 

Sie  sang  zu  ihm,  sie  sprach  zu  ihm: 

Was  lockst  du  meine  Brut 

Mit  Menschenwitz  und  Menschenhst 

Hinauf  in  Todesglut? 

Ach  wüßtest  du,  wie's  Fischlein  ist 

So  wohlig  auf  dem  Grund, 

Du  stiegst  herunter,  wie  du  bist, 

Und  würdest  erst  gesund. 

Labt  sich  die  liebe  Sonne  nicht, 
Der  Mond  sich  nicht  im  Meer? 
Kehrt  wellenatmend  ihr  Gesicht 
Nicht  doppelt  schöner  her? 
Lockt  dich  der  tiefe  Himmel  nicht, 
Das  feuchtverklärte  Blau? 
Lockt  dich  dein  eigen  Angesicht 
Nicht  her  in  ewgen  Tau? 

Das  Wasser  rauscht',  das  Wasser  schwoll, 

Netzt'  ihm  den  nackten  Fuß; 

Sein  Herz  wuchs  ihm  so  sehnsuchtsvoll, 

Wie  bei  der  Liebsten  Gruß. 

Sie  sprach  zu  ihm,  sie  sang  zu  ihm; 

Da  wars  um  ihn  geschehn: 

Halb  zog  sie  ihn,  halb  sank  er  hin, 

Und  ward  nicht  mehr  gesehn. 


1775/86  WEIMAR  207 

MIT  EINER  HYAZINTHE 

AUS  dem  Zaubertal  dortnieden, 
Das  der  Regen  still  umtrübt, 
Aus  dem  Taumel  der  Gewässer 
Sendet  Blume,  Gruß  und  Frieden, 
Der  dich  immer  treu  und  besser, 
Als  du  glauben  magst,  geliebt. 

Diese  Blume,  die  ich  pflücke. 
Neben  mir  vom  Tau  genährt, 
Läßt  die  Mutter  still  zurücke, 
Die  sich  in  sich  selbst  vermehrt. 
Lang  entblättert  und  verborgen. 
Mit  den  Kindern  an  der  Brust, 
Wird  am  neuen  Frühlingsmorgen 
Vielfach  sie  des  Gärtners  Lust. 

DU  bist  mein  und  bist  so  zierlich, 
Du  bist  mein  und  so  manierlich, 
Aber  etwas  fehlt  dir  noch: 
Küssest  mit  so  spitzen  Lippen, 
Wie  die  Tauben  Wasser  nippen; 
Allzu  zierlich  bist  du  doch. 

WARNUNG 

SO  wie  Titania  im  Feen-  und  Zauberland 
Klaus  Zetteln  in  dem  Arme  fand. 
So  wirst  du  bald  zur  Strafe  deiner  Sünden 
Titanien  in  deinen  Armen  finden. 


[An  den  Herzog  Karl  August] 

ZWAR  bin  ich  nicht  seit  gestern 
Im  Zauberhandwerk  eingeweiht, 
Doch  haben  meine  Schwestern 
Dir  schon  das  Beste  prophezeit. 


2o8  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Drum  lass  mich  bittend  raten: 
Wend  uns  ein  gnädig  Auge  zu, 
Lass  uns  in  deinen  Staaten 
Genießen  die  erwünschte  Ruh. 

Doch  stört  den  schönen  Frieden 
Des  Krieges  wilder  rascher  Tritt, 
Nimm  uns,  die  Nimmermüden, 
Als  Marketenderinnen  mit. 

[An  Charlotte  v.  Stein] 

DU  machst  die  Alten  jung,  die  Jungen  alt; 
Die  Kalten  warm,  die  Warmen  kalt. 
Bist  ernst  im  Scherz,  der  Ernst  macht  dich  zu  lachen. 
Dir  gab  aufs  menschliche  Geschlecht 
Ein  süßer  Gott  sein  längst  bewährtes  Recht, 
Aus  Weh  ihr  Wohl,  aus  Wohl  ihr  Weh  zu  machen. 

[An  Luise  v.  Göchhausen] 

DER  Kauz,  der  auf  Minervens  Schilde  sitzt, 
Kann  Göttern  wohl  und  Menschen  nützen; 
Die  Musen  haben  dich  beschützt, 
Nim  magst  du  sie  beschützen. 

[An  die  Herzogin  Luise] 
[Von  Goethe?] 

MAN  liebt  dich  heut  wie  in  den  alten  Tagen, 
Nur  darf  man  dirs  nicht  immer  sagen. 
Doch  dieser  Tag  bricht  allen  Zwang. 
O  sei  uns  freundlich,  sei  es  lang 
Im  neuen  Jahr,  da  du  uns  neues  Leben 
In  ihm  willst  geben. 

[An  Luise  Adelheid  v.  Waldner] 
[Von  Goethe?] 

ALLE  Tage 
Lebendige  Geister. 
Und  zu  jeder  Sprache 
Einen  neuen  Meister. 


1775/86  WEIMAR  209 

[An  Amalia  v.  Hendrich] 
[Von  Goethe?] 

IN  deinem  Herzen 
Ist  nicht  viel  Platz, 
Drum  alle  acht  Tage 
Einen  neuen  Schatz. 

[An  Frau  v.  Felgenhauer] 
[Von  Goethe?] 

DAS  Weib,  das  Gott  der  Herr  erschuf, 
Schuf  er  zu  mancherlei  Beruf; 
Allein  der  süßeste  von  allen 
Ist  der,  den  Männern  zu  gefallen. 
Wir  danken  Gott  zu  dieser  Frist, 
Daß  du  ein  Weib  geworden  bist. 

[An  Frau  v.  Lichtenberg,  geb.  v.  Uten] 
[Von  Goethe?] 

DASS  schnell  dir  dieses  Jahr  verging, 
Ist  eben  wohl  kein  Wunderding; 
Mit  gutem  Appetit  genießen. 
Vom  Morgen  bis  zum  Abend  küssen, 
Und  fest  sich  an  den  Schnurrbart  schließen, 
Kann  lange  Nächte  leicht  versüßen. 
Fast  weiß  man  nicht  bei  deinem  Wohl, 
Was  man  dir  weiter  wünschen  soll 
Als  etwa  nach  vollendeten  Redouten 
Einen  kleinen  schreienden  Rekruten. 

GRENZEN  DER  MENSCHHEIT 

WENN  der  uralte, 
Heilige  Vater 
Mit  gelassener  Hand 
Aus  rollenden  Wolken 
Segnende  Blitze 
Über  die  Erde  sät, 

GOETHE  XIV  14. 


2 1  o  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Küss  ich  den  letzten 
Saum  seines  Kleides, 
Kindliche  Schauer 
Treu  in  der  Brust. 

Denn  mit  Göttern 
Soll  sich  nicht  messen 
Irgendein  Mensch. 
Hebt  er  sich  aufwärts 
Und  berührt 

Mit  dem  Scheitel  die  Sterne, 
Nirgends  haften  dann 
Die  unsichem  Sohlen, 
Und  mit  ihm  spielen 
Wolken  und  Winde. 

Steht  er  mit  festen, 
Markigen  Knochen 
Auf  der  wohlgegründeten 
Dauernden  Erde, 
Reicht  er  nicht  auf, 
Nur  mit  der  Eiche 
Oder  der  Rebe 
Sich  zu  vergleichen. 

Was  unterscheidet 
Götter  von  Menschen? 
Daß  viele  Wellen 
Vor  jenen  wandeln. 
Ein  ewiger  Strom: 
Uns  hebt  die  Welle, 
Verschlingt  die  Welle, 
Und  wir  versinken. 

Ein  kleiner  Ring 
Begrenzt  tmser  Leben, 
Und  viele  Geschlechter 
Reihen  sich  dauernd 
An  ihres  Daseins 
Unendliche  Kette. 


1775/86  WEIMAR  211 

PHYSIOGNOMISCHE  REISEN 
Die  Physiognomisten 

SOLLT  es  wahr  sein,  was  uns  der  rohe  .Wandrer  ver- 
kündet, 
Daß  die  Menschengestalt  von  allen  sichtlichen  Dingen 
Ganz  allein  uns  lüge,  daß  wir,  was  edel  und  albern, 
Was  beschränkt  und  groß,  im  Angesichte  zu  suchen, 
Eitele  Toren  sind,  betrogne,  betrügende  Toren? 
Ach!  wir  sind  auif  den  dunkelen  Pfad  des  verworrenen 

Lebens 
Wieder  zurückgescheucht,  der  Schimmer  zu  Nächten  ver- 
finstert. 

Der  Dichter 
Hebet  eure  zweifelnden  Stirnen  empor,  ihr  Geliebten! 
Und  verdient  nicht  den  Irrtum,  hört  nicht  bald  diesen, 

bald  jenen. 
Habet  ihr  eurer  Meister  vergessen?     Auf!   kehret  zum 

Pindus, 
Fraget  dorten  die  Neune,  der  Grazien  nächste  Verwandte! 
Ihnen  allein  ist  gegeben,  der  edlen  stillen  Betrachtung 
Vorzustehn.    Ergebet  euch  gern  der  heiligen  Lehre, 
Merket  bescheiden  leise  Worte.  Ich  darf  euch  versprechen: 
Anders  sagen  die  Musen,  und  anders  sagt  es  Musäus. 

[An  Charlotte  v.  Stein] 

DEINE  Grüße  hab  ich  wohl  erhalten. 
Liebe  lebt  jetzt  in  tausend  Gestalten, 
Gibt  der  Blume  Färb  und  Duft, 
Jeden  Morgen  durchzieht  sie  die  Luft, 
Tag  vmd  Nacht  spielt  sie  auf  Wiesen,  in  Hainen, 
Mir  will  sie  oft  zu  herrlich  erscheinen; 
Neues  bringt  sie  täglich  hervor, 
Leben  siunmt  vms  die  Biene  ins  Ohr. 
Bleib,  ruf  ich  oft,  Frühling!  man  küsset  dich  kaum, 
Engel,  so  fliehst  du  wie  ein  schwankender  Traum; 
Immer  wollen  wir  dich  ehren  und  schätzen, 
So  vms  an  dir  wie  am  Himmel  ergötzen. 


212  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

[An  Charlotte  v.  Stein] 

MAN  wills  den  Damen  übel  deuten, 
Daß  sie  wohl  zu  gewissen  Zeiten 
Ihr  Herz  mit  mehrern  teilen  können! 
Doch  dich  kann  man  gar  glücklich  nennen, 
O  du,  des  Hofes  Zierd  und  Ehre! 
Du  schonst  gar  weislich  deins 
Und  hast  gelegentlich  für  jeden  eins, 
Und  wenns  auch  nur  von  Mehl  und  Farben  wäre. 

DER  VIERTE  TEIL  MEINER  SCHRIFTEN 
Berlin  1779  bei  Himburg 

LANGVERDORRTE,  halbverweste  Blätter  vorger 
Jahre, 
Ausgekämmte,  auch  geweiht'  imd  abgeschnittne  Haare, 
Alte  Wämser,  ausgetretne  Schuh  und  schwarzes  Linnen, 
Was  sie  nicht  ums  leidge  Geld  beginnen! 
Haben  sie  für  bar  und  gut 
Neuerdings  dem  Publikum  gegeben. 
Was  man  andern  nach  dem  Tode  tut, 
Tat  man  mir  bei  meinem  Leben. 
Doch  ich  schreibe  nicht  um  Porzellan  noch  Brot, 
Für  die  Himburgs  bin  ich  tot. 

GESANG  DER  GEISTER  ÜBER  DEN  WASSERN 

DES  Menschen  Seele 
Gleicht  dem  Wasser: 
Vom  Himmel  kommt  es, 
Zum  Himmel  steigt  es, 
Und  wieder  nieder 
Zur  Erde  muß  es, 
Ewig  wechselnd. 

Strömt  von  der  hohen, 
Steilen  Felswand 
Der  reine  Strahl, 
Dann  stäubt  er  lieblich 


1775/86  WEIMAR  213 

In  Wolkenwellen 
Zum  glatten  Fels, 
Und  leicht  empfangen 
Wallt  er  verschleiernd, 
Leisrauschend 
Zur  Tiefe  nieder. 

Ragen  Klippen 
Dem  Sturz  entgegen. 
Schäumt  er  unmutig 
Stufenweise 
Zum  Abgrund. 

Im  flachen  Bette 

Schleicht  er  das  Wiesental  hin, 

Und  in  dem  glatten  See 

Weiden  ihr  Antlitz 

Alle  Gestirne. 

Wind  ist  der  Welle 
Lieblicher  Buhler; 
Wind  mischt  vom  Grund  aus 
Schäumende  Wogen. 

Seele  des  Menschen, 
Wie  gleichst  du  dem  Wasser! 
Schicksal  des  Menschen, 
Wie  gleichst  du  dem  Wind! 


CHRISTOPH  KAUFMANN 

von  Winterthur  im  Gefolge  Lavaters,  der  seine  frömmelnd 
physiognomisierende  Spionerei  zu  adeln  sich  Gottes  Spür- 
hund zu  nennen  beliebte. 

ALS  Gottes  Spürhund  hat  er  frei 
Manch  Schelmenstück  getrieben, 
Die  Gottesspur  ist  nun  vorbei, 
Der  Hund  ist  ihm  geblieben. 


a  1 4  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

AXIOM 

FREUND,  wer  ein  Lump  ist,  bleibt  ein  Lump, 
Zu  Wagen,  Pferd  und  Fuße; 
Drum  glaub  an  keinen  Lumpen  je, 
An  keines  Lumpen  Buße. 

ANLIEGEN 

O  schönes  Mädchen  du, 
Du  mit  dem  schwarzen  Haar, 
Die  du  ans  Fenster  trittst, 
Auf  dem  Balkone  stehst! 
Und  stehst  du  wohl  umsonst? 
O  stündest  du  für  mich 
Und  zögst  die  Klinke  los. 
Wie  glücklich  war  ich  da! 
Wie  schnell  sprang  ich  hinauf! 

AN  SEINE  SPRÖDE 

SIEHST  du  die  Pomeranze? 
Noch  hängt  sie  an  dem  Baume; 
Schon  ist  der  März  verflossen, 
Und  neue  Blüten  kommen. 
Ich  trete  zu  dem  Baume 
Und  sage:  Pomeranze, 
Du  reife  Pomeranze, 
Du  süße  Pomeranze, 
Ich  schüttle,  fühl,  ich  schüttle, 
O  fall  in  meinen  Schoß! 

NÄHE 

WIE  du  mir  oft,  geliebtes  Kind, 
Ich  weiß  nicht  wie,  so  fremde  bist! 
Wenn  wir  im  Schwann  der  vielen  Menschen  sind, 
Das  schlägt  mir  alle  Freude  nieder. 
Doch  ja,  wenn  alles  still  und  finster  um  uns  ist. 
Erkenn  ich  dich  an  deinen  Küssen  wieder. 


1775/86  WEIMAR  215 

ER  UND  SEIN  NAME 

BEI  allen  Musen  und  Grazien  sagt  an  mir,  ihr  Deutschen! 
Euren  ersten  Dichter,  den  alle  Götter  geehret, 
Der  mit  Geistesschritten  von  Sonne  zu  Sonne  gewandelt, 
Der  in  die  Tiefen  der  Liebe  sich  wie  ein  Engel  gesenket, 
Diesen  göttlichen  Mann,  ihr  nennt  ihn  Kiopstock?  den 

Namen 
Gebt  ihr  einem  Dichter,  dem  keiner  zu  sanft  und  zu  hoch 

war? 
Ja,  dies  ist  der  Name,  den  wir  verehren  und  lieben. 
Haltet  hier,  und  widmet  euch  der  Feier  stiller  Betrachtung! 
Ach,  der  Gute  hat  leider  endlich  altshändyscher  Ahndung 
Böse  Schuld  bezahlt!  aus  seinen  Höhen  und  Tiefen 
Sich   in   das  Stein-  und  Gebeinreich   der  Lettern  und 

Silben  begeben. 
Mit  dem  eignen  Sinne,  der  großen  Dingen  geziemte, 
Heftet  er  sich  ans  Kleinste,   und  so  klopstockt  er  die 

Sprache. 


KÖNIGLICH  GEBET 

HA,  ich  bin  Herr  der  Welt!  mich  lieben 
Die  Edlen,  die  mir  dienen. 
Ha,  ich  bin  Herr  der  Welt!  ich  Hebe 
Die  Edlen,  denen  ich  gebiete, 
O  gib  mir,  Gott  im  Himmel!  daß  ich  mich 
Der  Höh  und  Lieb  nicht  überhebe. 


MENSCHENGEFÜHL 

ACH,  ihr  Götter!  große  Götter 
In  dem  weiten  Himmel  droben! 
Gäbet  ihr  uns  auf  der  Erde 
Festen  Sinn  und  guten  Mut, 
O  wir  ließen  euch,  ihr  Guten, 
Euren  weiten  Himmel  droben! 


2i6  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

WECHSELLIED  ZUM  TANZE 
Die  Gleichgültigen 

KOMM  mit,  o  Schöne,  komm  mit  mir  zum  Tanze; 
Tanzen  gehöret  zum  festlichen  Tag. 
Bist  du  mein  Schatz  nicht,  so  kannst  du  es  werden, 
Wirst  du  es  nimmer,  so  tanzen  wir  doch. 
Komm  mit,  o  Schöne,  komm  mit  mir  zum  Tanze; 
Tanzen  verherrlicht  den  festlichen  Tag. 

Die  Zärtlichen 
Ohne  dich,  Liebste,  was  wären  die  Feste? 
Ohne  dich,  Süße,  was  wäre  der  Tanz? 
Wärst  du  mein  Schatz  nicht,  so  möcht  ich  nicht  tanzen, 
Bleibst  du  es  immer,  ist  Leben  ein  Fest. 
Ohne  dich.  Liebste,  was  wären  die  Feste? 
Ohne  dich,  Süße,  was  wäre  der  Tanz? 

Die  Gleichgültigen 
Laß  sie  nur  lieben,  und  laß  du  uns  tanzen! 
Schmachtende  Liebe  vermeidet  den  Tanz. 
Schlingen  wir  fröhlich  den  drehenden  Reihen, 
Schleichen  die  andern  zum  dämmernden  Wald. 
Laß  sie  nur  lieben,  und  laß  du  uns  tanzen! 
Schmachtende  Liebe  vermeidet  den  Tanz. 

Die  Zärtlichen 
Laß  sie  sich  drehen,  und  laß  du  uns  wandeln! 
Wandeln  der  Liebe  ist  himmlischer  Tanz. 
Amor,  der  nahe,  der  höret  sie  spotten, 
Rächet  sich  einmal,  und  rächet  sich  bald. 
Laß  sie  sich  drehen,  und  laß  du  uns  wandeln! 
Wandeln  der  Liebe  ist  himmlischer  Tanz. 

LIEBHABER  IN  ALLEN  GESTALTEN 

ICH  wollt,  ich  war  ein  Fisch, 
So  hurtig  und  frisch; 
Und  kämst  du  zu  ariglen. 
Ich  würde  nicht  manglen. 
Ich  wollt,  ich  war  ein  Fisch, 
So  hurtig  und  frisch. 


1775/86  WEIMAR  217 

Ich  wollt,  ich  war  ein  Pferd, 
Da  war  ich  dir  wert. 
O  war  ich  ein  Wagen, 
Bequem  dich  zu  tragen. 
Ich  wollt,  ich  war  ein  Pferd, 
Da  war  ich  dir  wert. 

Ich  wollt,  ich  wäre  Gold, 
Dir  immer  im  Sold; 
Und  tatst  du  was  kaufen, 
Kam  ich  wieder  gelaufen. 
Ich  wollt,  ich  wäre  Gold, 
Dir  immer  im  Sold. 

Ich  wollt,  ich  war  treu, 
Mein  Liebchen  stets  neu; 
Ich  wollt  mich  verheißen. 
Wollt  nimmer  verreisen. 
Ich  wollt,  ich  war  treu, 
Mein  Liebchen  stets  neu. 

Ich  wollt,  ich  war  alt 
Und  runzlig  vmd  kalt; 
Tatst  du  mirs  versagen, 
Da  könnt  michs  nicht  plagen. 
Ich  wollt,  ich  war  alt 
Und  runzlig  und  kalt. 

War  ich  Affe  sogleich 
Voll  neckender  Streich; 
Hätt  was  dich  verdrossen. 
So  macht  ich  dir  Possen. 
War  ich  Affe  sogleich 
Voll  neckender  Streich. 

War  ich  gut  wie  ein  Schaf, 
Wie  der  Löwe  so  brav; 
Hätt  Augen  wie's  Lüchschen 
Und  Listen  wie's  Füchschen. 
War  ich  gut  wie  ein  Schaf, 
Wie  der  Löwe  so  brav. 


a  1 8  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Was  alles  ich  war, 
Das  gönnt  ich  dir  sehr; 
Mit  fürstlichen  Gaben, 
Du  solltest  mich  haben. 
Was  alles  ich  war, 
Das  gönnt  ich  dir  sehr. 

Doch  bin  ich,  wie  ich  bin. 
Und  nimm  mich  nur  hin! 
Willst  du  Beßre  besitzen, 
So  laß  dir  sie  schnitzen. 
Ich  bin  nun,  wie  ich  bin; 
So  nimm  mich  nur  hin! 


EIN  jeder  hat  sein  Ungemach: 
Stein  zieht  den  alten  Ochsen  nach, 
Der  Herzog  jungen  Hasen. 
Der  Prinz  ist  gutgesinnt  fürs  Bett, 
Und  ach,  wenn  ich  ein  Misel  hätt, 
So  schwätzt  ich  nicht  mit  Basen. 
* 

Es  fahret  die  poetsche  Wut 
In  uxisrer  Freunde  junges  Blut, 
Es  siedet  über  und  über. 
Apollo,  laß  es  ja  dabei 
Und  mache  sie  dagegen  frei 
Von  jedem  andren  Fieber. 


WANDRERS  NACHTLIED 

ÜBER  allen  Gipfeln 
Ist  Ruh, 
In  allen  Wipfeln 
Spürest  du 
Kaum  einen  Hauch; 
Die  Vögelein  schweigen  im  Walde. 
Warte  nur,  balde 
Ruhest  du  auch. 


1775/86  WEIMAR  219 

MEINE  GÖITIN 

WELCHER  Unsterblichen 
Soll  der  höchste  Preis  sein? 
Mit  niemand  streit  ich, 
Aber  ich  geb  ihn 
Der  ewig  beweglichen, 
Immer  neuen, 
Seltsamen  Tochter  Jovis, 
Seinem  Schoßkinde, 
Der  Phantasie. 

Denn  ihr  hat  er 

Alle  Launen, 

Die  er  sonst  nur  allein 

Sich  vorbehält, 

Zugestanden 

Und  hat  seine  Freude 

An  der  Törin. 

Sie  mag  rosenbekränzt 
Mit  dem  Lilienstengel 
Blumentäler  betreten, 
Sommervögeln  gebieten 
Und  leichtnährenden  Tau 
Mit  Bienenlippen 
Von  Blüten  saugen; 

Oder  sie  mag 

Mit  fliegendem  Haar 

Und  düsterm  Blicke 

Im  Winde  sausen 

Um  Felsenwände, 

Und  tausendfarbig, 

Wie  Morgen  und  Abend, 

Immer  wechselnd 

Wie  Mondesblicke, 

Den  Sterblichen  scheinen. 

Laßt  uns  alle 
Den  Vater  preisen! 


220  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Den  alten,  hohen, 
Der  solch  eine  schöne, 
Unverwelkliche  Gattin 
Dem  sterblichen  Menschen 
Gesellen  mögen! 

Denn  uns  allein 
Hat  er  sie  verbunden 
Mit  Himmelsband 
Und  ihr  geboten, 
In  Freud  und  Elend 
Als  treue  Gattin 
Nicht  zu  entweichen. 

Alle  die  andern 
Armen  Geschlechter 
Der  kinderreichen, 
Lebendigen  Erde 
Wandeln  und  weiden 
In  dunkelm  Genuß 
Und  trüben  Schmerzen 
Des  augenblicklichen 
Beschränkten  Lebens, 
Gebeugt  vom  Joche 
Der  Notdurft. 

Uns  aber  hat  er 
Seine  gewandteste, 
Verzärtelte  Tochter, 
Freut  euch!  gegönnt. 
Begegnet  ihr  lieblich. 
Wie  einer  Geliebten! 
Laßt  ihr  die  Würde 
Der  Frauen  im  Haus! 

Und  daß  die  alte 
Schwiegermutter  Weisheit 
Das  zarte  Seelchen 
Ja  nicht  beleidge! 


I 


1775/86  WEIMAR  221 

Doch  kenn  ich  ihre  Schwester, 
Die  ältere,  gesetztere, 
Meine  stille  Freundin: 
O  daß  die  erst 
Mit  dem  Lichte  des  Lebens 
Sich  von  mir  wende, 
Die  edle  Treiberin, 
Trösterin  Hofihung! 

UM  Mitternacht,  wenn  die  Menschen  erst  schlafen, 
Dann  scheinet  uns  der  Mond, 
Dann  leuchtet  uns  der  Stern; 
Wir  wandeln  und  singen 
Und  tanzen  erst  gern. 

Um  Mittemacht,  wenn  die  Menschen  erst  schlafen. 
Auf  Wiesen,  an  den  Erlen 
Wir  suchen  unsern  Raum 
Und  wandlen  und  singen 
Und  tanzen  einen  Traum. 

[An  Charlotte  v.  Stein] 

ZUM  Tanze  schick  ich  dir  den  Strauß 
Mit  himmelfarbnem  Band, 
Und  siehst  du  andern  freundlich  aus. 
Reichst  andren  deine  Hand, 
So  denk  auch  an  ein  einsam  Haus 
Und  an  ein  schöner  Band. 


AUS  Kötschaus  Toren  reichet  euch 
Ein  alter  Hexenmeister 
Konfekt  und  süßen  roten  Wein 
Durch  einen  seiner  Geister. 

Der  sollt,  wenn  er  nicht  heiser  war, 
Euch  auch  dies  Liedchen  singen; 
Doch  wird  er  einen  holden  Gruß 
Von  mir  euch  überbringen. 


«22  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Kein  Wetter  kann  der  arme  Tropf 
Am  hohen  Himmel  machen; 
Sonst  sollt  euch  Sonne,  Mond  und  Stern 
Zu  eurer  Reise  lachen. 

Genießet,  weil  ihr  süße  seid, 

Auch  etwas  Süßes  gerne, 

Und  denkt  bei  Scherz  und  Fröhlichkeit 

An  einen  in  der  Feme! 

Der  gerne  möcht,  mit  mancher  Lust 
Euch  Schönen  zu  vergnügen, 
An  jedem  Weg,  in  jedem  Busch 
Im  Hinterhalte  liegen. 

Den  ihr  drum  als  Oresten  saht, 
Als  Scapin  sich  gebärden, 
Und  der  nun  möcht  zu  eurem  Spaß 
Auch  Wirt  von  Kötschau  werden. 


SAG  ichs  euch,  geliebte  Bäume? 
Die  ich  ahndevoll  gepflanzt, 
Als  die  wunderbarsten  Trätune 
Morgenrötlich  mich  umtanzt. 
Ach,  ihr  wißt  es,  wie  ich  liebe. 
Die  so  schön  mich  wiederliebt. 
Die  den  reinsten  meiner  Triebe 
Mir  noch  reiner  wiedergibt. 

Wachset  wie  aus  meinem  Herzen, 

Treibet  in  die  Luft  hinein, 

Denn  ich  grub  viel  Freud  und  Schmerzen 

Unter  eure  Wurzeln  ein. 

Bringet  Schatten,  traget  Früchte, 

Neue  Freude  jeden  Tag; 

Nur  daß  ich  sie  dichte,  dichte. 

Dicht  bei  ihr  genießen  mag. 


1775/86  WEIMAR  223 

EPIPHANIASFEST 

DIE  heiigen  drei  König'  mit  ihrem  Stern, 
Sie  essen,  sie  trinken,  und  bezahlen  nicht  gern; 
Sie  essen  gern,  sie  trinken  gern, 
Sie  essen,  trinken,  und  bezahlen  nicht  gem. 

Die  heiigen  drei  König'  sind  kommen  allhier, 
Es  sind  ihrer  drei  und  sind  nicht  ihrer  vier; 
Und  wenn  zu  dreien  der  vierte  war. 
So  war  ein  heiiger  drei  König  mehr. 

Ich  erster  bin  der  weiß  und  auch  der  schön, 

Bei  Tage  solltet  ihr  erst  mich  sehn! 

Doch  ach,  mit  allen  Spezerein 

Werd  ich  sein  Tag  kein  Mädchen  mir  erfrein. 

Ich  aber  bin  der  braun  und  bin  der  lang, 
Bekannt  bei  Weibern  wohl  und  bei  Gesang. 
Ich  bringe  Gold  statt  Spezerein, 
Da  werd  ich  überall  willkommen  sein. 

Ich  endlich  bin  der  schwarz  tmd  bin  der  klein 
Und  mag  auch  wohl  einmal  recht  lustig  sein. 
Ich  esse  gern,  ich  trinke  gern. 
Ich  esse,  trinke  und  bedanke  mich  gern. 

Die  heiigen  drei  König'  sind  wohlgesinnt, 
Sie  suchen  die  Mutter  und  das  Kind; 
Der  Joseph  fromm  sitzt  auch  dabei. 
Der  Ochs  und  Esel  liegen  auf  der  Streu. 

Wir  bringen  Myrrhen,  wir  bringen  Gold, 
Dem  Weihrauch  sind  die  Damen  hold; 
Und  haben  wir  Wein  von  gutem  Gewächs, 
So  trinken  wir  drei  so  gut  als  ihrer  sechs. 

Da  wir  nun  hier  schöne  Herrn  und  Fraun, 
Aber  keine  Ochsen  und  Esel  schaun, 
So  sind  wir  nicht  am  rechten  Ort 
Und  ziehen  unseres  Weges  weiter  fort. 


224  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

DIE  NEKTARTROPFEN 

ALS  Minerva,  jenen  Liebling, 
Den  Prometheus,  2u  begünstgen, 
Eine  volle  Nektarschale 
Von  dem  Himmel  niederbrachte, 
Seine  Menschen  zu  beglücken 
Und  den  Trieb  zu  holden  Künsten 
Ihrem  Busen  einzuflößen, 
Eilte  sie  mit  schnellen  Füßen, 
Daß  sie  Jupiter  nicht  sähe; 
Und  die  goldne  Schale  schwankte, 
Und  es  fielen  wenig  Tropfen 
Auf  den  grünen  Boden  nieder. 

Emsig  waren  drauf  die  Bienen 
Hinterher  und  saugten  fleißige 
Kam  der  Schmetterling  geschäftig. 
Auch  ein  Tröpfchen  zu  erhaschen; 
Selbst  die  ungestalte  Spinne 
Kroch  herbei  und  sog  gewaltig. 

Glücklich  haben  sie  gekostet, 
Sie  imd  andre  zarte  Tierchen! 
Denn  sie  teilen  mit  dem  Menschen 
Nun  das  schönste  Glück,  die  Kunst. 

[An  Amalie  v.  Stein] 

DER  dieses  Bild  der  Einsamkeit  gemacht, 
Hat  oft  an  dich  in  Einsamkeit  gedacht. 

DER  Reiter  kommt  auf  weichem  Grund  geritten 
Und  gibt  sein  steif  Persönchen  uns  zum  besten. 
Willkommen  sei  er  bei  den  Winterfesten, 
Der  schönsten  Dame  reit  er  vor  dem  Schlitten. 

[An  den  Herzog  Karl  August] 

SO  groß  als  die  Begierde  war  in  mir, 
Die  altgeliebten  Bilder  zu  erlangen. 
Mit  gleicher  Lust  geb  ich  sie  dir 
Und  scheine  sie  dadurch  erst  zu  empfangen. 


1775/86  WEIMAR  225 

VERSUCHUNG 

REICHTE  die  schädliche  Frucht  einst  Mutter  Eva  dem 
Gatten, 
Ach!  vom  törichten  Biß  kränkelt  das  ganze  Geschlecht. 
Nun  vom  heiligen  Leibe,  der  Seelen  speiset  und  heilet. 
Kostest  du,  Lydia,  fromm,  liebliches  büßendes  Kind! 
Darum  schick  ich  dir  eilig  die  Frucht  voll  irdischer  Süße, 
Daß  der  Himmel  dich  nicht  deinem  Geliebten  entzieh. 

DER  Segen  wird  gesprochen! 
Die  Riesin  liegt  in  den  Wochen; 
Drei  Wölfe  sind  ausgekrochen. 
Sie  liegt  zwischen  Eis  und  Nebel  und  Schnee, 
Tränke  gern  Eicheln-  und  Rübenkaffee, 
Wenn  sie  ihn  nur  hätte! — 
Da  läuft  die  Maus! — 
Kind,  geh  zu  Bette 
Und  lösche  die  Lichter  aus! 

NACHTGEDANKEN 

EUCH  bedaur  ich,  unglückselge  Sterne, 
Die  ihr  schön  seid  und  so  herrlich  scheinet, 
Dem  bedrängten  Schiffer  gerne  leuchtet, 
Unbelohnt  von  Göttern  imd  von  Menschen: 
Denn  ihr  liebt  nicht,  kanntet  nie  die  Liebe! 
Unaufhaltsam  führen  ewge  Stunden 
Eure  Reihen  durch  den  weiten  Himmel. 
Welche  Reise  habt  ihr  schon  vollendet! 
Seit  ich  weilend  in  dem  Arm  der  Liebsten 
Euer  und  der  Mittemacht  vergessen. 

DER  BECHER 

EINEN  wohlgeschnitzten  vollen  Becher 
Hielt  ich  drückend  in  den  beiden  Händen, 
Sog  begierig  süßen  Wein  vom  Rande, 
Gram  und  Sorg  auf  einmal  zu  vertrinken. 

GOETHE  XIV  15. 


t26  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Amor  trat  herein  iind  fand  mich  sitzen, 
Und  er  lächelte  bescheidenweise, 
Als  den  Unverständigen  bedauernd: 

"Freund,  ich  kenn  ein  schöneres  Gefäße, 
Wert,  die  ganze  Seele  drein  zu  senken; 
Was  gelobst  du,  wenn  ich  dir  es  gönne, 
Es  mit  anderm  Nektar  dir  erfülle?" 

O  wie  freundlich  hat  er  Wort  gehalten! 
Da  er,  Lida,  dich  mit  sanfter  Neigung 
Mir,  dem  lange  Sehnenden,  geeignet. 

Wenn  ich  deinen  lieben  Leib  umfasse 
Und  von  deinen  einzig  treuen  Lippen 
Langbewahrter  Liebe  Balsam  koste, 
Selig  Sprech  ich  dann  zu  meinem  Geiste: 

Nein,  ein  solch  Gefäß  hat,  außer  Amom, 
Nie  ein  Gott  gebildet  noch  besessen! 
Solche  Formen  treibet  nicht  Vulkanus 
Mit  den  sinnbegabten,  feinen  Hämmern! 
Auf  belaubten  Hügeln  mag  Lyäus 
Durch  die  ältsten,  klügsten  seiner  Faunen 
Ausgesuchte  Trauben  keltern  lassen. 
Selbst  geheimnisvoller  Gärung  vorstehn: 
Solchen  Trank  verschafft  ihm  keine  Sorgfalt! 

AN  LIDA 

DEN  Einzigen,  Lida,  welchen  du  lieben  kannst, 
Forderst  du  ganz  für  dich,  und  mit  Recht. 
Auch  ist  er  einzig  dein. 
Denn  seit  ich  von  dir  bin, 
Scheint  mir  des  schnellsten  Lebens 
Lärmende  Bewegung 

Nur  ein  leichter  Flor,  durch  den  ich  deine  Gestalt 
Immerfort  wie  in  Wolken  erblicke: 
Sie  leuchtet  mir  freundlich  und  treu. 
Wie  durch  des  Nordlichts  bewegliche  Strahlen 
Ewige  Sterne  schimmern. 


1775/86  WEIMAR  227 

VERSUS  MEMORIALES 

IJVVOCA  VIT  wir  rufen  laut, 
\^Reminiscere  o  war  ich  Braut! 
Die  Oculi  gehn  hin  und  her; 
Laetare  drüber  nicht  so  sehr. 
O  Judica  uns  nicht  so  streng! 
Palmarum  streuen  wir  die  Meng. 
Auf  Oster-Eier  freun  sich  hie 
Viel  Quasi  modo  geniti. 
Misericordias  brauchen  wir  all, 
Jubilate  ist  ein  seltner  Fall. 
Cantate  freut  der  Menschen  Sinn, 
Rogate  bringt  nicht  viel  Gewinn. 
Exaudi  uns  zu  dieser  Frist, 
Spiritus,  der  du  der  letzte  bist. 

HARFENSPIELER 

WER  sich  der  Einsamkeit  ergibt, 
Ach!  der  ist  bald  allein; 
Ein  jeder  lebt,  ein  jeder  hebt 
Und  läßt  ihn  seiner  Pein. 

Ja!  laßt  mich  meiner  Qual! 
Und  kann  ich  nur  einmal 
Recht  einsam  sein. 
Dann  bin  ich  nicht  allein. 

Es  schleicht  ein  Liebender  lauschend  sacht, 

Ob  seine  Freundin  allein? 

So  überschleicht  bei  Tag  und  Nacht 

Mich  Einsamen  die  Pein, 

Mich  Einsamen  die  Qual. 

Ach,  werd  ich  erst  einmal 

Einsam  im  Grabe  sein. 

Da  läßt  sie  mich  allein! 


2  28  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

UNGLEICHE  HEIRAT 

SELBST  ein  so  himmlisches  Paar  fand  nach  der  Ver- 
bindung sich  ungleich: 
Psyche  ward  älter  und  klug,  Amor  ist  immer  noch  Kind. 

ERKANNTES  GLÜCK 

WAS  bedächtlich  Natur  sonst  unter  viele  verteilet, 
Gab  sie  mit  reichlicher  Hand  alles  der  Einzigen, 

ihr. 
Und  die  so  herrlich  Begabte,  von  vielen  so  innig  Verehrte, 
Gab  ein  liebend  Geschick  freundlich  dem  Glücklichen, 

mir. 

HEILIGE  FAMILIE 

Ödes  süßen  Kindes,  und  o  der  glücklichen  Mutter, 
Wie  sie  sich  einzig  in  ihm,  wie  es  in  ihr  sich  ergetzt! 
Welche  Wonne  gewährte  der  Blick  auf  dies  herrliche  Bild 

mir, 
Stund  ich  Armer  nicht  so  heilig,  wie  Joseph,  dabei! 

DIE  KRÄNZE 

T/'  LOPSTOCK  will  uns  vom  Pindus  entfernen;  wir  sollen 
i\-  nach  Lorbeer 

Nicht  mehr  geizen,  uns  soll  inländische  Eiche  genügen; 
Und  doch  führet  er  selbst  den  überepischen  Kreuzzug 
Hin  auf  Golgathas  Gipfel,  ausländische  Götter  zu  ehren! 
Doch,  aufweichen  Hügel  er  wolle,  versamml  er  die  Engel, 
Lasse  beim  Grabe  des  Guten  verlassene  Redliche  weinen: 
Wo  ein  Held  und  Heiliger  starb,  wo  ein  Dichter  gesungen. 
Uns  im  Leben  und  Tod  ein  Beispiel  trefflichen  Mutes, 
Hohen  Menschenwertes  zu  hinterlassen,  da  knieen 
Billig  alle  Völker  in  Andachtswonne,  verehren 
Dorn-  und  Lorbeerkranz,  und  was  ihn  geschmückt  und 

gepeinigt. 


1775/86  WEIMAR  229 

GEWEIHTER  PLATZ 

WENN  zu  den  Reihen  der  Nymphen,  versammelt 
in  heiliger  Mondnacht, 
Sich  die  Grazien  heimlich  herab  vom  Olympus  gesellen: 
Hier  belauscht  sie  der  Dichter  und  hört  die  schönen  Ge- 
sänge, 
Sieht  verschwiegener  Tänze  geheimnisvolle  Bewegung. 
Was  der  Himmel  nur  Herrliches  hat,  was  glücklich  die  Erde 
Reizendes  immer  gebar,  das  erscheint  dem  wachenden 

Träumer. 
Alles  erzählt  er  den  Musen,  und  daß  die  Götter  nicht  zürnen, 
Lehren  die  Musen  ihn  gleich  bescheiden  Geheimnisse  spre- 
chen. 

ERLKÖNIG 

WER  reitet  so  spät  durch  Nacht  und  Wind? 
Es  ist  der  Vater  mit  seinem  Kind; 
Er  hat  den  Knaben  wohl  in  dem  Arm, 
Er  faßt  ihn  sicher,  er  hält  ihn  warm. 

Mein  Sohn,  was  birgst  du  so  bang  dein  Gesicht: — 
Siehst,  Vater,  du  den  Erlkönig  nicht? 
Den  Erlenkönig  mit  Krön  und  Schweif? — 
Mein  Sohn,  es  ist  ein  Nebelstreif. — 

"Du  liebes  Kind,  komm,  geh  mit  mir! 
Gar  schöne  Spiele  spiel  ich  mit  dir; 
Manch  bunte  Blumen  sind  an  dem  Strand, 
Meine  Mutter  hat  manch  gülden  Gewand." 

Mein  Vater,  mein  Vater,  rmd  hörest  du  nicht, 
Was  Erlenkönig  mir  leise  verspricht? — 
Sei  ruhig,  bleibe  ruhig,  mein  Kind; 
In  dürren  Blättern  säuselt  der  Wind. — 

"Willst,  feiner  Knabe,  du  mit  mir  gehn? 
Meine  Töchter  sollen  dich  warten  schön; 
Meine  Töchter  führen  den  nächtlichen  Reihn, 
Und  wiegen  imd  tanzen  imd  singen  dich  ein." 


230  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Mein  Vater,  mein  Vater,  und  siehst  du  nicht  dort 
Erlkönigs  Töchter  am  düstern  Ort? — 
Mein  Sohn,  mein  Sohn,  ich  seh  es  genau: 
Es  scheinen  die  alten  Weiden  so  grau. — 

"Ich  liebe  dich,  mich  reizt  deine  schöne  Gestalt; 
Und  bist  du  nicht  willig,  so  brauch  ich  Gewalt." 
Mein  Vater,  mein  Vater,  jetzt  faßt  er  mich  an! 
Erlkönig  hat  mir  ein  Leids  getan! — 

Dem  Vater  grausets,  er  reitet  geschwind, 
Er  hält  in  Armen  das  ächzende  Kind, 
Erreicht  den  Hof  mit  Müh  und  Not; 
In  seinen  Armen  das  Kind  war  tot. 

AUF  MIEDINGS  TOD 

WELCH  ein  Getümmel  füllt  Thaliens  Haus? 
Welch  ein  geschäftig  Volk  eilt  ein  und  aus? 
Von  hohlen  Brettern  tönt  des  Hammers  Schlag, 
Der  Sonntag  feiert  nicht,  die  Nacht  wird  Tag. 
Was  die  Erfindimg  still  und  zart  ersann, 
Beschäftigt  laut  den  rohen  Zimmermann. 
Ich  sehe  Hauenschild  gedankenvoll; 
Ists  Türk,  ists  Heide,  den  er  kleiden  soll? 
Und  Schumann  froh,  als  war  er  schon  bezahlt, 
Weil  er  einmal  mit  ganzen  Farben  malt. 
Ich  sehe  Thielens  leicht  bewegten  Schritt, 
Der  lustger  wird,  je  mehr  er  euch  verschnitt. 
Der  Jude  Elkan  läuft  mit  manchem  Rest, 
Und  diese  Gärung  deutet  auf  ein  Fest. 

Allein,  wie  viele  hab  ich  hererzählt, 

Und  nenn  ihn  nicht,  den  Mann,  der  nie  gefehlt. 

Der  sinnreich  schnell,  mit  schmerzbeladner  Brust, 

Den  Lattenbau  zu  fügen  wohl  gewußt. 

Das  Brettgerüst,  das,  nicht  von  ihm  belebt. 

Wie  ein  Skelett  an  toten  Drähten  schwebt. 

Wo  ist  er?  sagt! — Ihm  war  die  Kunst  so  lieb, 
Daß  Kolik  nicht,  nicht  Husten  ihn  vertrieb. 


1775/86  WEIMAR  231 

"Er  Hegt  so  krank,  so  schlimm  es  nie  noch  war!" 
Ach,  Freunde!  Weh!  Ich  fühle  die  Gefahr; 
Hält  Krankheit  ihn  zurück,  so  ist  es  Not, 
Er  ist  nicht  krank,  nein,  Kinder,  er  ist  tot! 

Wie?  Mieding  tot?  erschallt  bis  unters  Dach 
Das  hohle  Haus,  vom  Echo  kehrt  ein  Ach! 
Die  Arbeit  stockt,  die  Hand  wird  jedem  schwer, 
Der  Leim  wird  kalt,  die  Farbe  fließt  nicht  mehr; 
Ein  jeder  steht  betäubt  an  seinem  Ort, 
Und  nur  der  Mittwoch  treibt  die  Arbeit  fort. 

Ja,  Mieding  tot!    O  scharret  sein  Gebein 
Nicht  undankbar  wie  manchen  andern  ein! 
Laßt  seinen  Sarg  eröffnet,  tretet  her. 
Klagt  jedem  Bürger,  der  gelebt  wie  er, 
Und  laßt  am  Rand  des  Grabes,  wo  wir  stehn. 
Die  Schmerzen  in  Betrachtung  übergehn. 

O  Weimar!  dir  fiel  ein  besonder  Los!  5 

Wie  Bethlehem  in  Juda,  klein  und  groß. 
Bald  wegen  Geist  und  Witz  beruft  dich  weit 
Europens  Mund,  bald  wegen  Albernheit. 
Der  stille  Weise  schaut  und  sieht  geschwind, 
Wie  zwei  Extreme  nah  verschwistert  sind. 
Eröflfoe  du,  die  du  besondre  Lust 
Am  Guten  hast,  der  Rührung  deine  Brust! 

Und  du,  o  Muse,  rufe  weit  und  laut 

Den  Namen  aus,  der  heut  uns  still  erbaut! 

Wie  manchen,  wert  und  unwert,  hielt  mit  Glück 

Die  sanfte  Hand  von  ewger  Nacht  zurück; 

O  laß  auch  Miedings  Namen  nicht  vergehn! 

Laß  ihn  stets  neu  am  Horizonte  stehn! 

Nenn  ihn  der  Welt,  die  kriegrisch  oder  fein 

Dem  Schicksal  dient  und  glaubt  ihr  Herr  zu  sein, 

Dem  Rad  der  Zeit  vergebens  widersteht, 

Verwirrt,  beschäftigt  und  betäubt  sich  dreht; 

Wo  jeder,  mit  sich  selbst  genug  geplagt, 

So  selten  nach  dem  nächsten  Nachbar  fragt, 


232  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Doch  gern  im  Geist  nach  fernen  Zonen  eilt 
Und  Glück  und  Übel  mit  dem  Fremden  teilt. 
Verkünde  laut  und  sag  es  überall: 
Wo  Einer  fiel,  seh  jeder  seinen  Fall! 

Du,  Staatsmann,  tritt  herbei!    Hier  liegt  der  Mann, 
Der,  so  wie  du,  ein  schwer  Geschäft  begann; 
Mit  Lust  zum  Werke  mehr  als  zvun  Gewinn 
Schob  er  ein  leicht  Gerüst  mit  leichtem  Sinn, 
Den  Wunderbau,  der  äußerlich  entzückt, 
Indes  der  Zaubrer  sich  im  Winkel  drückt. 
Er  wars,  der  säumend  manchen  Tag  verlor, 
So  sehr  ihn  Autor  und  Akteur  beschwor; 
Und  dann  zuletzt,  wenn  es  zum  Treffen  ging, 
Des  Stückes  Glück  an  schwache  Fäden  hing. 

Wie  oft  trat  nicht  die  Herrschaft  schon  herein! 
Es  ward  gepocht,  die  Symphonie  fiel  ein. 
Daß  er  noch  kletterte,  die  Stangen  trug, 
Die  Seile  zog  und  manchen  Nagel  schlug. 
Oft  glückt's  ihm,  kühn  betrog  er  die  Gefahr; 
Doch  auch  ein  Bock  macht'  ihm  kein  graues  Haar. 

Wer  preist  genug  des  Mannes  kluge  Hand, 
Wenn  er  aus  Draht  elastsche  Federn  wand, 
Vielfältge  Pappen  auf  die  Lättchen  schlug. 
Die  Rolle  fügte,  die  den  Wagen  trug; 
Von  Zindel,  Blech,  gefärbt  Papier  und  Glas, 
Dem  Ausgang  lächelnd,  rings  umgeben  saß? 
So,  treu  dem  unermüdlichen  Beruf, 
War  ers,  der  Held  imd  Schäfer  leicht  erschuf. 
Was  alles  zarte,  schöne  Seelen  rührt. 
Ward  treu  von  ihm,  nachahmend,  ausgeführt: 
Des  Rasens  Grün,  des  Wassers  Silberfall, 
Der  Vögel  Sang,  des  Donners  lauter  Knall, 
Der  Laube  Schatten  und  des  Mondes  Licht- 
Ja  selbst  ein  Ungeheur  erschreckt'  ihn  nicht. 

Wie  die  Natur  manch  widerwärtge  Kraft 
Verbindend  zwingt,  und  streitend  Körper  schafit: 


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1775/86  WEIMAR  233 

So  zwang  er  jedes  Handwerk,  jeden  Fleiß; 
Des  Dichters  Welt  entstand  auf  sein  Geheiß. 
Und,  so  verdient,  gewährt  die  Muse  nur 
Den  Namen  ihm — Direktor  der  Natur. 

Wer  faßt  nach  ihm,  voll  Kühnheit  und  Verstand, 

Die  vielen  Zügel  mit  der  Einen  Hand? 

Hier,  wo  sich  jeder  seines  Weges  treibt, 

Wo  ein  Faktotum  unentbehrlich  bleibt; 

Wo  selbst  der  Dichter,  heimlich  voll  Verdruß, 

Im  Fall  der  Not  die  Lichter  putzen  muß. 

O  sorget  nicht!   Gar  viele  regt  sein  Tod! 
Sein  Witz  ist  nicht  zu  erben,  doch  sein  Brot; 
Und,  ungleich  ihm,  denkt  mancher  Ehrenmann: 
Verdien  ichs  nicht,  wenn  ichs  nur  essen  kann. 

Was  stutzt  ihr?  Seht  den  schlecht  verzierten  Sarg, 
Auch  das  Gefolg  scheint  euch  gering  und  karg; 
Wie!  ruft  ihr,  wer  so  künstlich  und  so  fein, 
So  wirksam  war,  muß  reich  gestorben  sein! 
Warum  versagt  man  ihm  den  Trauerglanz, 
Den  äußern  Anstand  letzter  Ehre  ganz? 

Nicht  so  geschwind!   Das  Glück  macht  alles  gleich. 
Den  Faulen  und  den  Tätgen,  Arm  und  Reich. 
Zum  Gütersammeln  war  er  nicht  der  Mann; 
Der  Tag  verzehrte,  was  der  Tag  gewann. 
Bedauert  ihn,  der,  schaffend  bis  ans  Grab, 
Was  künstlich  war,  und  nicht  was  Vorteil  gab. 
In  Hoffnung  täglich  weniger  erwarb, 
Vertröstet  lebte  und  vertröstet  starb. 

Nun  laßt  die  Glocken  tönen,  und  zuletzt 
Werd  er  mit  lauter  Trauer  beigesetzt! 
Wer  ists,  der  ihm  ein  Lob  zu  Grabe  bringt. 
Eh  noch  die  Erde  rollt,  das  Chor  verklingt? 

Ihr  Schwestern,  die  ihr  bald  auf  Thespis  Karm, 
Geschleppt  von  Eseln  und  umschrien  von  Narm, 
Vor  Hunger  kaum,  vor  Schande  nie  bewahrt. 
Von  Dorf  zu  Dorf,  euch  feilzubieten,  fahrt; 


234  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Bald  wieder,  durch  der  Menschen  Gunst  beglückt. 

In  Herrlichkeit  der  Welt  die  Welt  entzückt; 

Die  Mädchen  eurer  Art  sind  selten  karg, 

Kommt,  gebt  die  schönsten  Kränze  diesem  Sarg! 

Vereinet  hier  teilnehmend  euer  Leid, 

Zahlt,  was  ihr  ihm,  was  ihr  uns  schuldig  seid! 

Als  euem  Tempel  grause  Glut  verheert, 

Wart  ihr  von  uns  drum  weniger  geehrt? 

Wie  viel  Altäre  stiegen  vor  euch  auf! 

Wie  manches  Rauchwerk  brachte  man  euch  drauf! 

An  wie  viel  Plätzen  lag,  vor  euch  gebückt, 

Ein  schwer  befriedigt  Publikum  entzückt! 

In  engen  Hütten  und  im  reichen  Saal, 

Auf  Höhen  Ettersburgs,  in  Tiefurts  Tal, 

Im  leichten  Zelt,  auf  Teppichen  der  Pracht, 

Und  unter  dem  Gewölb  der  hohen  Nacht, 

Erschient  ihr,  die  ihr  vielgestaltet  seid, 

Im  Reitrock  bald  und  bald  im  Galakleid. 

Auch  das  Gefolg,  das  um  euch  sich  ergießt, 
Dem  der  Geschmack  die  Türen  ekel  schließt. 
Das  leichte,  tolle,  scheckige  Geschlecht, 
Es  kam  zuhauf,  imd  immer  kam  es  recht. 

An  weiße  Wand  bringt  dort  der  Zauberstab 

Ein  Schattenvolk  aus  mythologschem  Grab. 

Im  Possenspiel  regt  sich  die  alte  Zeit, 

Gutherzig,  doch  mit  Ungezogenheit. 

Was  Gallier  und  Brite  sich  erdacht, 

Ward,  wohlverdeutscht,  hier  Deutschen  vorgebracht; 

Und  oftmals  liehen  Wärme,  Leben,  Glanz 

Dem  armen  Dialog — Gesang  und  Tanz. 

Des  Karnevals  zerstreuter  Fiitterwelt 

Ward  sinnreich  Spiel  und  Handlung  zugesellt. 

Dramatisch  selbst  erschienen  hergesandt 

Drei  Könige  aus  fernem  Morgenland; 

Und  sittsam  bracht  auf  reinlichem  Altar 

Dianens  Priesterin  ihr  Opfer  dar. 

Nun  ehrt  uns  auch  in  dieser  Trauerzeit! 

Gebt  uns  ein  Zeichen!  denn  ihr  seid  nicht  weit. 


1775/86  WEIMAR  235 

Ihr  Freunde,  Platz!  Weicht  einen  kleinen  Schritt! 
Seht,  wer  da  kommt  und  festlich  näher  tritt! 
Sie  ist  es  selbst — die  Gute  fehlt  uns  nie — 
Wir  sind  erhört,  die  Musen  senden  sie. 
Ihr  kennt  sie  wohl;  sie  ists,  die  stets  gefällt: 
Als  eine  Blume  zeigt  sie  sich  der  Welt, 
Zum  Muster  wuchs  das  schöne  Bild  empor, 
Vollendet  nun,  sie  ists  und  stellt  es  vor. 
Es  gönnten  ihr  die  Musen  jede  Gunst, 
Und  die  Natur  erschuf  in  ihr  die  Kunst. 
So  häuft  sie  willig  jeden  Reiz  auf  sich, 
Und  selbst  dein  Name  ziert,  Corona,  dich. 

Sie  tritt  herbei.  Seht  sie  gefällig  stehn! 
Nur  absichtslos,  doch  wie  mit  Absicht  schön. 
Und  hocherstaunt  seht  ihr  in  ihr  vereint 
Ein  Ideal,  das  Künstlern  nur  erscheint. 

Anständig  fuhrt  die  leis  erhobne  Hand 
Den  schönsten  Kranz,  umknüpft  von  Trauerband. 
Der  Rose  frohes,  volles  Angesicht, 
Das  treue  Veilchen,  der  Narzisse  Licht, 
Vielfältger  Nelken,  eitler  Tulpen  Pracht, 
Von  Mädchenhand  geschickt  hervorgebracht, 
Durchschlungen  von  der  Myrte  sanfter  Zier, 
Vereint  die  Kunst  zum  Trauerschmucke  hier; 
Und  durch  den  schwarzen,  leichtgeknüpften  Flor 
Sticht  eine  Lorbeerspitze  still  hervor. 

Es  schweigt  das  Volk.  Mit  Augen  voller  Glanz 
Wirft  sie  ins  Grab  den  wohlverdienten  Kranz. 
Sie  öfifnet  ihren  Mund,  und  lieblich  fließt 
Der  weiche  Ton,  der  sich  ums  Herz  ergießt. 
Sie  spricht:  Den  Dank  für  das,  was  du  getan, 
Geduldet,  nimm,  du  Abgeschiedner,  an! 
Der  Gute,  wie  der  Böse,  müht  sich  viel, 
Und  beide  bleiben  weit  von  ihrem  Ziel. 
Dir  gab  ein  Gott  in  holder,  steter  Kraft 
Zu  deiner  Kunst  die  ewge  Leidenschaft. 


85«  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Sie  wars,  die  dich  zur  bösen  Zeit  erliielt, 
Mit  der  du  krank,  als  wie  ein  Kind,  gespielt, 
Die  auf  den  blassen  Mund  ein  Lächeln  rief, 
In  deren  Arm  dein  müdes  Haupt  entschlief! 
Ein  jeder,  dem  Natur  ein  Gleiches  gab, 
Besuche  pilgernd  dein  bescheiden  Grab! 
Fest  steh  dein  Sarg  in  wohlgegönnter  Ruh; 
Mit  lockrer  Erde  deckt  ihn  leise  zu, 
Und  sanfter  als  des  Lebens  liege  dann 
Auf  dir  des  Grabes  Bürde,  guter  Mann! 

[An  Charlotte  v.  Stein] 

DAS  Gänslein  rot  im  Domino 
Sieht  in  die  Welt  so  leicht  und  froh 
Und  zeigt  sich  als  ein  Meisterstück 
Aus  der  hochgräflichen  Fabrik. 
Doch  zierlich,  wie  das  Schätzchen  steht, 
Gehts  ihm,  wie's  vielen  Leuten  geht; 
Denn  es  ist,  ich  gesteh  es  gern, 
Die  Schale  besser  als  der  Kern. 
Und  viel  zu  loben  find  ich  da 
Den  Schneider  mehr  als  den  Papa. 
Doch  ach,  warum  kommt  so  geputzt, 
So  überzierlich  aufgestutzt, 
Das  liebe  schöne  Kind  so  weit, 
So  ferne  her  zur  stillen  Zeit? 
Ach,  wären  wir  noch  allzvunal 
Im  hellen,  hohen  Palmensaal! 
Sie  führte  dann  auf  jenem  Plan 
Auch  einen  großen  Aufzug  an, 
Wenn  alle,  die  ihr  ähnlich  sein, 
Pathetisch  stiegen  hinterdrein. 
Doch  diese  Freuden  sind  nun  aus. 
Drum  mach  nur  die  Honneurs  vom  Haus 
Und  lad  uns  Freunde,  wie  wir  sind. 
Mit  diesem  allerliebsten  Kind 
In  eine  kleine  Assemblee, 
Zu  einem  wohlfrisierten  Tee. 


1775/86  WEIMAR  237 

Dann  laß  uns  schwätzen,  laß  uns  sitzen, 
Erzählen  und  die  Ohren  spitzen, 
Und  wohl  Solls  ihr  mit  Groß  und  Klein 
Au  sein  de  sa  fatnille  sein. 

[An  Luise  v.  Göchhausen  und  ihre  Tee-Gesellschaftl 

O  Kinder,  still!  reicht  meinen  Lehren 
Ein  unbefangen,  willig  Ohr! 
Das  werte  Gänslein  zu  verehren, 
Setzt  ihr  ihm  Tee  und  Waffeln  vor. 

Allein  ich  kanns  euch  nicht  verstecken. 

Wenn  auch  die  Wahrheit  nicht  gefällt: 

Das,  was  euch  schmeckt,  wird  ihr  nicht  schmecken; 

Sie  kommt  aus  einer  andern  Welt. 

Denn  Fremde  gehn  auf  ihrer  Reise 
Von  Orten  nur  vergnügt  davon, 
Traktiert  man  sie  auf  ihre  Weise, 
Und  loben  dann  den  guten  Ton. 

Seht,  wie  sie  ekel  ihren  Schnabel 
Vor  euren  Leckerbissen  schließt 
Und,  wie  der  Kranich  in  der  Fabel, 
Von  flachen  Schüsseln  nichts  genießt. 

Drum  send  ich  euch,  sie  zu  beglücken, 
Des  Hafers  goldne  Körner  hier. 
Und  richtet  ja,  sie  zu  entzücken, 
Mit  dem  Diskurs  euch  auch  nach  ihr. 


ERWÄHLTER  FELS 

HIER  im  Stillen  gedachte  der  Liebende  seiner  Ge- 
liebten; 
Heiter  sprach  er  zu  mir:  Werde  mir  Zeuge,  du  Stein! 
Doch  erhebe  dich  nicht,  du  hast  noch  viele  Gesellen; 
Jedem  Felsen  der  Flur,  die  mich,  den  Glücklichen,  nährt, 


238  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Jedem  Baume  des  Walds,  um  den  ich  wandernd  mich 

schlinge: 
Denkmal  bleibe  des  Glücks!  ruf  ich  ihm  weihend  und  froh. 
Doch  die  Stimme  verleih  ich  nur  dir,  wie  unter  der  Menge 
Einen  die  Muse  sich  wählt,  freundlich  die  Lippen  ihm 

küßt. 


FRAGE  nicht  nach  mir,  und  was  ich  im  Herzen  verwahre, 
Ewige  Stille  geziemt  ohne  Gelübde  dem  Mann. 
Was  ich  zu  sagen  vermöchte,  ist  jetzo  schon  kein  Ge- 
heimnis; 
Nur  diesen  Namen  verdient,  was  sich  mir  selber  verbirgt. 


A 


RM  an  Geiste  kommt  heut  spät  dein  Geliebter  vor  dich; 
Arm  an  Liebe  kommt  er  weder  frühe  noch  spät. 


EINSAMKEIT 

DIE  ihr  Felsen  und  Bäume  bewohnt,  o  heilsame 
Nymphen, 
Gebet  jeglichem  gern,  was  er  im  stillen  begehrt! 
Schaffet  dem  Traurigen  Trost,  dem  Zweifelhaften  Beleh- 
rung, 
Und  dem  Liebenden  gönnt,  daß  ihm  begegne  sein  Glück. 
Denn  euch  gaben  die  Götter,  was  sie  den  Menschen  ver- 
sagten: 
Jeglichem,  der  euch  vertraut,  tröstlich  und  hilflich  zusein. 

LÄNDLICHES  GLÜCK 

SEID,  o  Geister  des  Hains,  o  seid,  ihr  Nymphen  des 
Flusses, 
Eurer  Entfernten  gedenk,  eueren  Nahen  zur  Lust! 
Weihend  feierten  sie  im  stillen  die  ländlichen  Feste; 
Wir,  dem  gebahnten  Pfad  folgend,  beschleichen  das 

Glück. 
Amor  wohne  mit  uns,  es  macht  der  himmlische  Knabe 
Gegenwärtige  lieb,  und  die  Entfernten  euch  nah. 


1775/86  WEIMAR  239 

FERNE 

KÖNIGEN,  sagt  man,  gab  die  Natur  vor  andern  Ge- 
bomen 
Eines  längeren  Anns  weithinaus  fassende  Kraft. 
Doch  auch  mir,  dem  Geringen,  verlieh  sie  das  fürstliche 

Vorrecht: 
Denn  ich  fasse  von  fem,  halte  dich,  Lida,  mir  fest. 

DER  PARK 

WELCH  ein  himmUscher  Garten  entspringt  aus  Öd 
imd  aus  Wüste, 
Wird  und  lebet  und  glänzt  herrlich  im  Lichte  vor  mir? 
Wohl  den  Schöpfer  ahmet  ihr  nach,  ihr  Götter  der  Erde! 
Fels  und  See  tmd  Gebüsch,  Vögel  und  Fisch  und  Ge- 
wild. 
Nur,  daß  euere  Stätte  sich  ganz  zum  Eden  vollende. 
Fehlet  ein  Glücklicher  hier,  fehlt  euch  am  Sabbat  die 

Ruh. 

PHILOMELE 

DICH  hat  Amor  gewiß,  o  Sängerin,  füttemd  erzogen; 
Kindisch  reichte  der  Gott  dir  mit  dem  Pfeile  die 

Kost. 
So,  durchdrungen  von  Gift  die  harmlosatmende  Kehle, 
Trifft  mit  der  Liebe  Gewalt  nun  Philomele  das  Herz. 

MAN  lauft,  man  drängt,  man  reißt  mich  mit! 
Was  hat  das  zu  bedeuten? 
Sechs  Pferde  mit  gemeßnem  Schritt 
Erblick  ich  schon  von  weiten. 
Ein  Dichter,  der  so  manches  litt. 
Fährt  her,  begaSt  von  Leuten, 
Steigt  aus  und  kommt  mit  stolzem  Tritt, 
Begrüßt  von  allen  Seiten. 
Doch  kommt  ein  Wurm  im  Herzen  mit 
Und  läßt  ihn  vieles  leiden; 
Er  muß  bei  stolzem  Tritt  und  Schritt 


«40  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Ein  armes  Volk  beneiden. 
O  Pegase!  o  nimm  ihn  mit 
In  der  Begeistrung  Weiten! 
Er  gibt  gewiß  für  Einen  Ritt 
Das  Sechsgespann  mit  Freuden. 

DEINEM  SCHREIBTISCHE 

MICH  erbaute  zuerst  ein  Denker,  weihte  der  Liebe, 
Weihte  der  Freimdschaft  mich  ein,  stillem  Genüsse 

der  Welt. 
Doch  es  ward  die  Stadt  ihm  zu  eng,  er  eilte  von  dannen. 
Ließ  dem  Freunde  mich  stehn,   der  mich  nun  emsig 

besitzt. 
Der,  dem  schönen  Gefilde,  den  holden  Stunden  entsagend. 
Sich  der  Mühe  zu  weihn,  wählte  die  engere  Stadt. 

[An  Herders  Frau] 

DIES  kleine  Stück  gehört,  so  klein  es  ist. 
Zur  Hälfte  dein,  wie  du  beim  ersten  Blick 
Erkennen  wirst,  gehört  euch  beiden  zu. 
Die  ihr  schon  lang  für  Eines  geltet.   Drum 
Verzeih,  wenn  ich  so  kühn  und  ohngefragt, 
Und  noch  dazu  vielleicht  nicht  ganz  geschickt, 
Was  er  dem  Volke  nahm,  dem  Volk  zurück- 
Gegeben  habe.    Denn  wir  andern,  die 
Wir  jeden  Tag  berupft  zu  Bette  gehn 
Und  dennoch  kleine,  ausgestopfte,  bunte. 
Erlogen -wahre  Vögel  auf  den  Markt 
Zu  bringen,  von  den  Kunden  solcher  Lust 
Gefordert  werden,  könnens  wahrlich  nicht 
Aus  eignen  Mitteln  immer,  müssen  still. 
Was  da  ein  Pfau,  ein  Rabe  dort,  und  was 
Ein  andrer  hier  verloren,  sammlend  schleichen. 

Und  wenn  du  nun,  wie  man  durch  einen  Blick 
Zum  Händedruck,  durch  den  zu  einem  Kuß 
Gelockt  wird,  es  durch  diese  Blätter  wirst, 
Zu  sehn,  was  man  gedruckt  nicht  lesen  kann. 


1775/86  WEIMAR  241 

Weil  es  gespielt  und  nicht  gesprochen  wird, 

Auch  wohl  gesprochen  wird,  doch  schlecht  geschrieben 

Sich  ausnimmt,  o  so  komm;  ich  lade  dich 

In  deren  Namen  ein,  die  unserm  Spiele 

Den  Raum  gibt  und  die  Nacht  mn  uns  erhellt. 

Doch  darfst  du,  Mütterchen,  dem  feuchten  Reich 

Des  Erlenkönigs  dich  bei  kühler  Nacht 

Nicht  anvertrauen,  so  entschädge  dich 

Ein  Zauberschatten,  zeige  dir  im  Bild 

Den  schönen  Blick,  wie  Wald  und  Fluß  im  Tal 

Auf  einmal  rege  wird,  imd  wie  die  Nacht 

Von  Feuern  leuchtet  um  ein  loses  Kind. 

[An  Charlotte  v.  Stein] 

VON  mehr  als  Einer  Seite  verwaist, 
Klag  ich  um  deinen  Abschied  hier; 
Nicht  allein  meine  Liebe  verreist, 
Meine  Tugend  verreist  mit  dir. 

Denn  ach,  bald  wird  in  dumpfes  Unbehagen 

Die  schönste  Stimmung  umgewandt. 

Die  Leidenschaft  heißt  mich  an  frischen  Tagen 

Nach  dem  und  jenem  Gute  jagen. 

Und  denk  ich  es  recht  sicher  heim  zu  tragen, 

Spielt  mirs  der  Leichtsinn  aus  der  Hand. 

Bald  reizt  mich  die  Gefahr,  ein  Abenteur  zu  wagen, 

Ich  stürze  mich  hinein  und  halte  mutig  stand; 

Doch  seitwärts  fährt  die  Lust  auf  ihrem  Taubenwagen, 

Die  Luft  wird  balsamreich,  mein  Herz  gerät  in  Brand. 

Mein  Schutzgeist,  eil,  es  ihr  zu  sagen, 

Durchstreiche  schnell  das  ferne  Land. 

Sie  soll  nicht  schelten,  soll  den  Freund  beklagen; 

Und  bitte  sie  zu  Lindrung  meiner  Plagen 

Um  das  geheimnisvolle  Band; 

Sie  trägts,  und  oft  hat  mirs  ihr  Blick  versprochen  pp. 

BIN  so  in  Lieb  zu  ihr  versunken. 
Als  hätt  ich  von  ihrem  Blut  getrunken. 

GOETHE  XIV  16. 


«4«  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

DER  SÄNGER 

WAS  hör  ich  draußen  vor  dem  Tor, 
Was  auf  der  Brücke  schallen? 
Laß  den  Gesang  vor  unserm  Ohr 
Im  Saale  widerhallen! 
Der  König  sprachs,  der  Page  lief; 
Der  Knabe  kam,  der  König  rief: 
Laßt  mir  herein  den  Alten! 

Gegrüßet  seid  mir,  edle  Herrn, 

Gegrüßt  ihr,  schöne  Damen! 

Welch  reicher  Himmel!    Stern  bei  Stern! 

Wer  kennet  ihre  Namen? 

Im  Saal  voll  Pracht  und  Herrlichkeit 

Schließt,  Augen,  euch;  hier  ist  nicht  Zeit, 

Sich  staimend  zu  ergetzen. 

Der  Sänger  drückt'  die  Augen  ein 
Und  schlug  in  vollen  Tönen; 
Die  Ritter  schauten  mutig  drein, 
Und  in  den  Schoß  die  Schönen. 
Der  König,  dem  das  Lied  gefiel. 
Ließ,  ihn  zu  ehren  für  sein  Spiel, 
Eine  goldne  Kette  holen. 

Die  goldne  Kette  gib  mir  nicht, 
Die  Kette  gib  den  Rittern, 
Vor  deren  kühnem  Angesicht 
Der  Feinde  Lanzen  splittern; 
Gib  sie  dem  Kanzler,  den  du  hast, 
Und  laß  ihn  noch  die  goldne  Last 
Zu  andern  Lasten  tragen. 

Ich  singe,  wie  der  Vogel  singt, 
Der  in  den  Zweigen  wohnet; 
Das  Lied,  das  aus  der  Kehle  dringt, 
Ist  Lohn,  der  reichlich  lohnet. 
Doch  darf  ich  bitten,  bitt  ich  eins: 
Laß  mir  den  besten  Becher  Weins 
In  purem  Golde  reichen. 


1775/86  WEIMAR  243 

Er  setzt'  ihn  an,  er  trank  ihn  aus: 

O  Trank  voll  süßer  Labe! 

O  wohl  dem  hochbeglückten  Haus, 

Wo  das  ist  kleine  Gabe! 

Ergehts  euch  wohl,  so  denkt  an  mich, 

Und  danket  Gott  so  warm,  als  ich 

Für  diesen  Tnmk  euch  danke. 


HARFENSPIELER 

WER  nie  sein  Brot  mit  Tränen  aß, 
Wer  nie  die  kummervollen  Nächte 
Auf  seinem  Bette  weinend  saß. 
Der  kennt  euch  nicht,  ihr  himmlischen  Mächte. 

Ihr  führt  ins  Leben  vms  hinein, 
Ihr  laßt  den  Armen  schuldig  werden, 
Dann  überlaßt  ihr  ihn  der  Pein: 
Denn  alle  Schuld  rächt  sich  auf  Erden. 


FEIER  DER  GEBURTSSTUNDE  DES  ERBPRINZEN 
KARL  FRIEDRICH 

den  15.  Februar  1783,  gegen  Morgen 

VOR  vierzehn  Tagen  harrten  wir 
In  dieser  nächtlichen  Stunde, 
Noch  zweifelhaft,  auf  unser  Glück, 
Mit  zugeschloßnem  Munde. 

Nach  vierzehn  Tagen  kommen  wir, 
Die  Stimme  zu  erheben. 
Zu  rufen:  Endlich  ist  er  da! 
Er  lebt,  und  er  wird  leben! 

Nach  vierzehn  Jahren  wollen  wir, 
Dies  Ständchen  wieder  bringen, 
Zu  seiner  ersten  Jünglingszeit 
Ein  Segenslied  zu  singen. 


244  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Nach  vierzehnhundert  Jahren  wird 
Zwar  mancher  von  uns  fehlen, 
Doch  soll  man  dann  Karl  Friedrichs  Glück 
Und  Güte  noch  erzählen. 


HERZLICH  bat  ich  die  Muse,  mich  liebliche  Worte 
zu  lehren 
Heute  zur  Feier  des  Tags;  doch  sie  erhörte  mich  nicht. 
Besser  lehrt  mich  das  Kochbuch,  ein  eßbares  Opfer  zu 

bringen; 
Wenn  es  dein  Völklein  genießt,  mehr'  es  die  Feier  des 

Tags. 

ILMENAU 
am  3.  September  1783 

ANMUTIG  Tal!  du  immergrüner  Hain! 
Mein  Herz  begrüßt  euch  wieder  auf  das  beste; 
Entfaltet  mir  die  schwerbehrmgnen  Äste, 
•Nehmt  freundlich  mich  in  eure  Schatten  ein. 
Erquickt  von  euren  Höhn,  am  Tag  der  Lieb  und  Lust, 
Mit  frischer  Luft  und  Balsam  meine  Brust! 

Wie  kehrt  ich  oft  mit  wechselndem  Geschicke, 

Erhabner  Berg!  an  deinen  Fuß  zurücke. 

O  laß  mich  heut  an  deinen  sachten  Höhn 

Ein  jugendhch,  ein  neues  Eden  sehn! 

Ich  hab  es  wohl  auch  mit  um  euch  verdienet: 

Ich  sorge  still,  indes  ihr  ruhig  grünet. 

Laßt  mich  vergessen,  daß  auch  hier  die  Welt 

So  manch  Geschöpf  in  Erdefesseln  hält. 

Der  Landmann  leichtem  Sand  den  Samen  anvertraut 

Und  seinen  Kohl  dem  frechen  Wilde  baut, 

Der  Knappe  karges  Brot  in  Klüften  sucht. 

Der  Köhler  zittert,  wenn  der  Jäger  flucht. 

Verjüngt  euch  mir,  wie  ihr  es  oft  getan, 

Als  fing'  ich  heut  ein  neues  Leben  an. 


1775/86  WEIMAR  245 

Ihr  seid  mir  hold,  ihr  gönnt  mir  diese  Träume, 
Sie  schmeicheln  mir  und  locken  alte  Reime. 
Mir  wieder  selbst,  von  allen  Menschen  fern, 
Wie  bad  ich  mich  in  euren  Düften  gern! 
Melodisch  rauscht  die  hohe  Tanne  wieder, 
Melodisch  eilt  der  Wasserfall  hernieder; 
Die  Wolke  sinkt,  der  Nebel  drückt  ins  Tal, 
Und  es  ist  Nacht  und  Dämmrung  auf  einmal. 

Im  finstem  Wald,  beim  Liebesblick  der  Sterne, 
Wo  ist  mein  Pfad,  den  sorglos  ich  verlor? 
Welch  seltne  Stimmen  hör  ich  in  der  Ferne? 
Sie  schallen  wechselnd  an  dem  Fels  empor. 
Ich  eile  sacht,  zu  sehn,  was  es  bedeutet, 
Wie  von  des  Hirsches  Ruf  der  Jäger  still  geleitet. 

Wo  bin  ich?  ists  ein  Zaubermärchen -Land? 
Welch  nächtliches  Gelag  am  Fuß  der  Felsenwand? 
Bei  kleinen  Hütten,  dicht  mit  Reis  bedecket. 
Seh  ich  sie  froh  ans  Feuer  hingestrecket. 
Es  dringt  der  Glanz  hoch  durch  den  Fichten-Saal, 
Am  niedem  Herde  kocht  ein  rohes  Mahl; 
Sie  scherzen  laut,  indessen,  bald  geleeret. 
Die  Flasche  frisch  im  Kreise  wiederkehret. 

Sagt,  wem  vergleich  ich  diese  mimtre  Schar? 

Von  wannen  kommt  sie?  um  wohin  zu  ziehen? 

Wie  ist  an  ihr  doch  alles  wunderbar! 

Soll  ich  sie  grüßen?  soll  ich  vor  ihr  fliehen? 

Ist  es  der  Jäger  wildes  Geisterheer? 

Sinds  Gnomen,  die  hier  Zauberkünste  treiben? 

Ich  seh  im  Busch  der  kleinen  Feuer  mehr; 

Es  schaudert  mich,  ich  wage  kaum,  zu  bleiben. 

Ists  der  Ägyptier  verdächtiger  Aufenthalt? 

Ist  es  ein  flüchtiger  Fürst  wie  im  Ardenner-Wald? 

Soll  ich  Verirrter  hier  in  den  verschlungnen  Gründen 

Die  Geister  Shakespeares  gar  verkörpert  finden? 

Ja,  der  Gedanke  führt  mich  eben  recht: 

Sie  sind  es  selbst,  wo  nicht  ein  gleich  Geschlecht! 

Unbändig  schwelgt  ein  Geist  in  ihrer  Mitten, 

Und  durch  die  Roheit  fühl  ich  edle  Sitten. 


246  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Wie  nennt  ihr  ihn?    Wer  ists,  der  dort  gebückt 
Nachlässig  stark  die  breiten  Schultern  drückt? 
Er  sitzt  zunächst  gelassen  an  der  Flamme, 
Die  markige  Gestalt  aus  altem  Heldenstamme. 
Er  saugt  begierig  am  geliebten  Rohr, 
Es  steigt  der  Dampf  an  seiner  Stirn  empor. 
Gutmütig  trocken  weiß  er  Freud  und  Lachen 
Im  ganzen  Zirkel  laut  zu  machen, 
Wenn  er  mit  ernstlichem  Gesicht 
Barbarisch  bunt  in  fremder  Mundart  spricht. 

Wer  ist  der  andre,  der  sich  nieder 
An  einen  Sturz  des  alten  Baumes  lehnt 
Und  seine  langen,  feingestalten  Glieder 
Ekstatisch  faul  nach  allen  Seiten  dehnt 
Und,  ohne  daß  die  Zecher  auf  ihn  hören, 
Mit  Geistesflug  sich  in  die  Höhe  schwingt 
Und  von  dem  Tanz  der  himmelhohen  Sphären 
Ein  monotones  Lied  mit  großer  Inbrunst  singt? 

Doch  scheinet  allen  etwas  zu  gebrechen; 

Ich  höre  sie  auf  einmal  leise  sprechen, 

Des  Jünghngs  Ruhe  nicht  zu  unterbrechen, 

Der  dort  am  Ende,  wo  das  Tal  sich  schließt. 

In  einer  Hütte,  leicht  gezimmert, 

Vor  der  ein  letzter  Blick  des  kleinen  Feuers  schimmert, 

Vom  Wasserfall  umrauscht,  des  milden  Schlafs  genießt. 

Mich  treibt  das  Herz,  nach  jener  Kluft  zu  wandern, 

Ich  schleiche  still  und  scheide  von  den  andern. 

Sei  mir  gegrüßt,  der  hier  in  später  Nacht 
Gedankenvoll  an  dieser  Schwelle  wacht! 
Was  sitzest  du  entfernt  von  jenen  Freuden? 
Du  scheinst  mir  auf  was  Wichtiges  bedacht. 
Was  ists,  daß  du  in  Sinnen  dich  verlierest, 
Und  nicht  einmal  dein  kleines  Feuer  schürest? 

"O  frage  nicht!  denn  ich  bin  nicht  bereit, 
Des  Fremden  Neugier  leicht  zu  stillen; 
Sogar  verbitt  ich  deinen  guten  Willen: 
Hier  ist  zu  schweigen  und  zu  leiden  Zeit. 


1775/86  WEIMAR  247 

Ich  bin  dir  nicht  imstande  selbst  zu  sagen, 
Woher  ich  sei,  wer  mich  hierher  gesandt; 
Von  fremden  Zonen  bin  ich  her  verschlagen 
Und  durch  die  Freundschaft  festgebannt. 

Wer  kennt  sich  selbst?  wer  weiß,  was  er  vermag? 

Hat  nie  der  Mutige  Verwegnes  unternommen? 

Und  was  du  tust,  sagt  erst  der  andre  Tag, 

War  es  zum  Schaden  oder  Frommen. 

Ließ  nicht  Prometheus  selbst  die  reine  Himmelsglut 

Auf  frischen  Ton  vergötternd  niederfließen? 

Und  könnt  er  mehr  als  irdisch  Blut 

Durch  die  belebten  Adern  gießen? 

Ich  brachte  reines  Feuer  vom  Altar; 

Was  ich  entzündet,  ist  nicht  reine  Flamme. 

Der  Sturm  vermehrt  die  Glut  imd  die  Gefahr, 

Ich  schwanke  nicht,  indem  ich  mich  verdamme. 

Und  wenn  ich  unklug  Mut  und  Freiheit  sang 
Und  Redlichkeit  und  Freiheit  sonder  Zwang, 
Stolz  auf  sich  selbst  und  herzliches  Behagen, 
Erwarb  ich  mir  der  Menschen  schöne  Gunst; 
Doch  ach!  ein  Gott  versagte  mir  die  Kunst, 
Die  arme  Kunst,  mich  künstlich  zu  betragen. 
Nun  sitz  ich  hier,  zugleich  erhoben  und  gedrückt, 
Unschuldig  tmd  gestraft,  und  schuldig  vmd  beglückt. 

Doch  rede  sacht!  denn  imter  diesem  Dach 

Ruht  all  mein  Wohl  und  all  mein  Ungemach: 

Ein  edles  Herz,  vom  Wege  der  Natur 

Durch  enges  Schicksal  abgeleitet, 

Das,  ahnungsvoll,  nun  auf  der  rechten  Spur 

Bald  mit  sich  selbst  und  bald  mit  Zauberschatten  streitet 

Und,  was  ihm  das  Geschick  durch  die  Geburt  geschenkt. 

Mit  Müh  und  Schweiß  erst  zu  erringen  denkt. 

Kein  liebevolles  Wort  kann  seinen  Geist  enthüllen 

Und  kein  Gesang  die  hohen  Wogen  stillen. 

Wer  kann  der  Raupe,  die  am  Zweige  kriecht, 
Von  ihrem  künftgen  Futter  sprechen? 
Und  wer  der  Puppe,  die  am  Boden  liegt, 


2  48  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Die  zarte  Schale  helfen  durchzubrechen? 
Es  kommt  die  Zeit,  sie  drängt  sich  selber  los 
Und  eilt  auf  Fittichen  der  Rose  in  den  Schoß. 

Gewiß,  ihm  geben  auch  die  Jahre 

Die  rechte  Richtung  seiner  Kraft, 

Noch  ist,  bei  tiefer  Neigung  für  das  Wahre, 

Ihm  Irrtum  eine  Leidenschaft. 

Der  Vorwitz  lockt  ihn  in  die  Weite, 

Kein  Fels  ist  ihm  zu  schroff,  kein  Steg  zu  schmal; 

Der  Unfall  lauert  an  der  Seite 

Und  stürzt  ihn  in  den  Arm  der  Qual. 

Dann  treibt  die  schmerzlich  überspannte  Regung 

Gewaltsam  ihn  bald  da,  bald  dort  hinaus, 

Und  von  unmutiger  Bewegung 

Ruht  er  unmutig  wieder  aus. 

Und  düster  wild  an  heitern  Tagen, 

Unbändig,  ohne  froh  zu  sein. 

Schläft  er,  an  Seel  und  Leib  verwundet  imd  zerschlagen, 

Auf  einem  harten  Lager  ein: 

Indessen  ich  hier,  still  und  atmend  kaum, 

Die  Augen  zu  den  freien  Sternen  kehre 

Und,  halb  erwacht  und  halb  im  schweren  Traum, 

Mich  kaum  des  schweren  Traums  erwehre." 

Verschwinde,  Traum! 

Wie  dank  ich,  Musen,  euch! 
Daß  ihr  mich  heut  auf  einen  Pfad  gestellet. 
Wo  auf  ein  einzig  Wort  die  ganze  Gegend  gleich 
Zum  schönsten  Tage  sich  erhellet; 
Die  Wolke  flieht,  der  Nebel  fällt, 

Die  Schatten  sind  hinweg,  Ihr  Götter,  Preis  und  Wonne! 
Es  leuchtet  mir  die  wahre  Sonne, 
Es  lebt  mir  eine  schönre  Welt; 
Das  ängstliche  Gesicht  ist  in  die  Luft  zerronnen, 
Ein  neues  Leben  ists,  es  ist  schon  lang  begonnen. 

Ich  sehe  hier,  wie  man  nach  langer  Reise 
Im  Vaterland  sich  wiederkennt. 
Ein  ruhig  Volk  in  stillem  Fleiß  e 


1775/86  WEIMAR  249 

Benutzen,  was  Natur  an  Gaben  ihm  gegönnt. 

Der  Faden  eilet  von  dem  Rocken 

Des  Webers  raschem  Stuhle  zu, 

Und  Seil  und  Kübel  wird  in  längrer  Ruh 

Nicht  am  verbrochnen  Schachte  stocken; 

Es  wird  der  Trug  entdeckt,  die  Ordnung  kehrt  zurück, 

Es  folgt  Gedeihn  und  festes  irdsches  Glück. 

So  mög,  o  Fürst,  der  Winkel  deines  Landes 
Ein  Vorbild  deiner  Tage  sein! 
Du  kennest  lang  die  Pflichten  deines  Standes 
Und  schränkest  nach  und  nach  die  freie  Seele  ein. 
Der  kann  sich  manchen  Wunsch  gewähren, 
Der  kalt  sich  selbst  und  seinem  Willen  lebt; 
Allein  wer  andre  wohl  zu  leiten  strebt, 
Muß  fähig  sein,  viel  zu  entbehren. 

So  wandle  du — der  Lohn  ist  nicht  gering — 

Nicht  schwankend  hin,  wie  jener  Sämann  ging, 

Daß  bald  ein  Korn,  des  Zufalls  leichtes  Spiel, 

Hier  auf  den  Weg,  dort  zwischen  Domen  fiel; 

Nein!  streue  klug  wie  reich,  mit  männlich  steter  Hand, 

Den  Segen  aus  auf  ein  geackert  Land; 

Dann  laß  es  ruhn:  die  Ernte  wird  erscheinen 

Und  dich  beglücken  und  die  Deinen. 

[In  das  Stammbuch  von  Mr.  Brak] 

WILL  der  Knabe  nicht  hören,  was  der  erfahrene 
Mann  spricht? 
Muß  der  Jüngling  stets  irren?  und  schwerbetrogen  die 

Männer 
Wieder  zu  Knaben  sich  wünschen,  nur  um  sich  selber  zu 

folgen? 


250  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

DAS  GÖTTLICHE 

EDEL  sei  der  Mensch, 
Hilfreich  und  gut! 
Denn  das  allein 
Unterscheidet  ihn 
Von  allen  Wesen, 
Die  wir  kennen. 

Heil  den  unbekannten 

Höhern  Wesen, 

Die  wir  ahnen! 

Ihnen  gleiche  der  Mensch; 

Sein  Beispiel  lehr  uns 

Jene  glauben. 

Denn  unfühlend 

Ist  die  Natur: 

Es  leuchtet  die  Sonne 

Über  Bös'  und  Gute, 

Und  dem  Verbrecher 

Glänzen  wie  dem  Besten 

Der  Mond  und  die  Sterne. 

Wind  und  Ströme, 
Donner  und  Hagel 
Rauschen  ihren  Weg 
Und  ergreifen 
Vorüber  eilend 
Einen  um  den  andern. 

Auch  so  das  Glück 
Tappt  unter  die  Menge, 
Faßt  bald  des  Knaben 
Lockige  Unschuld, 
Bald  auch  den  kahlen 
Schuldigen  Scheitel. 

Nach  ewigen,  ehrnen, 
Großen  Gesetzen 
Müssen  wir  alle 
Unseres  Daseins 
Kreise  vollenden. 


D 


1775/86  WEIMAR  251 

Nur  allein  der  Mensch 
Vermag  das  Unmögliche: 
Er  unterscheidet, 
Wählet  und  richtet; 
Er  kann  dem  Augenblick 
Dauer  verleihen. 

Er  allein  darf 
Den  Guten  lohnen, 
Den  Bösen  strafen. 
Heilen  und  retten, 
Alles  Irrende,  Schweifende 
Nützlich  verbinden. 

Und  wir  verehren 

Die  Unsterblichen, 

Als  wären  sie  Menschen, 

Täten  im  Großen, 

Was  der  Beste  im  Kleinen 

Tut  oder  möchte. 

Der  edle  Mensch 
Sei  hilfreich  und  gut! 
Unermüdet  schaff  er 
Das  Nützliche,  Rechte, 
Sei  uns  ein  Vorbild 
Jener  geahneten  Wesen! 

ENTSCHULDIGUNG 

U  verklagest  das  Weib,  sie  schwanke  von  einem  zum 

andern! 
Tadle  sie  nicht:  sie  sucht  einen  beständigen  Mann. 


NOVEMBERLIED 

DEM  Schützen,  doch  dem  alten  nicht, 
Zu  dem  die  Sonne  flieht. 
Der  uns  ihr  fernes  Angesicht 
Mit  Wolken  überzieht; 


252  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Dem  Knaben  sei  dies  Lied  geweiht, 
Der  zwischen  Rosen  spielt, 
Uns  höret  und  zur  rechten  Zeit 
Nach  schönen  Herzen  zielt. 

Durch  ihn  hat  uns  des  Winters  Nacht, 
So  häßlich  sonst  und  rauh, 
Gar  manchen  werten  Freund  gebracht 
Und  manche  liebe  Frau. 

Von  nun  an  soll  sein  schönes  Bild 
Am  Sternenhimmel  stehn. 
Und  er  soll  ewig,  hold  und  mild, 
Uns  auf-  und  untergehn. 

MIGNON 

KENNST  du  das  Land,  wo  die  Zitronen  blühn, 
Im  dunkeln  Laub  die  Gold-Orangen  glühn, 
Ein  sanfter  Wind  vom  blauen  Himmel  weht, 
Die  Myrte  still  und  hoch  der  Lorbeer  steht, 
Kennst  du  es  wohl: 

Dahin!    Dahin 
Möcht  ich  mit  dir,  o  mein  Geliebter,  ziehn. 

Kennst  du  das  Haus?  Auf  Säulen  ruht  sein  Dach, 
Es  glänzt  der  Saal,  es  schimmert  das  Gemach, 
Und  Marmorbilder  stehn  und  sehn  mich  an: 
Was  hat  man  dir,  du  armes  Kind,  getan? 
Kennst  du  es  wohl? 

Dahin!    Dahin 
Möcht  ich  mit  dir,  o  mein  Beschützer,  ziehn. 

Kennst  du  den  Berg  und  seinen  Wolkensteg? 
Das  Maultier  sucht  im  Nebel  seinen  Weg, 
In  Höhlen  wohnt  der  Drachen  alte  Brut, 
Es  stürzt  der  Fels  und  über  ihn  die  Flut; 
Kennst  du  ihn  wohl? 

Dahin!    Dahin 
Geht  unser  Weg!  o  Vater,  laß  uns  ziehn! 


1775/86  WEIMAR  253 

JUGENDLICH  kommt  sie  vom  Himmel,  tritt  vor  den 
Priester  vmd  Weisen 
Unbekleidet,  die  Göttin;  still  blickt  sein  Auge  zm-  Erde. 
Dann  ergreift  er  das  Rauchfaß  und  hüllt  demütig  verehrend 
Sie  in  durchsichtigen  Schleier,  daß  wir  sie  zu  schauen  er- 
tragen. 

WAS  ich  leugnend  gestehe  und  offenbarend  ver- 
berge, 
Ist  mir  das  einzige  Wohl,  bleibt  mir  ein  reichlicher 

Schatz. 
Ich  vertrau  es  dem  Felsen,  damit  der  Einsame  rate, 
Was  in  der  Einsamkeit  mich,  was  in  der  Welt  mich 

beglückt. 

FELSEN  sollten  nicht  Felsen  und  Wüsten  Wüsten  nicht 
bleiben. 
Drum  stieg  Amor  herab,  sieh,  und  es  lebte  die  Welt. 
Auch  belebt  er  mir  die  Höhle  mit  himmlischem  Lichte, 
Zwar  der  Hoffnung  nur,  doch  ward  die  Hoffnung  erfüllt. 

ZUEIGNUNG 

DER  Morgen  kam;  es  scheuchten  seine  Tritte 
Den  leisen  Schlaf,  der  mich  gelind  umfing, 
Daß  ich,  erwacht,  aus  meiner  stillen  Hütte 
Den  Berg  hinauf  mit  frischer  Seele  ging; 
Ich  freute  mich  bei  einem  jeden  Schritte 
Der  neuen  Blume,  die  voll  Tropfen  hing; 
Der  junge  Tag  erhob  sich  mit  Entzücken, 
Und  alles  war  erquickt,  mich  zu  erquicken. 

Und  wie  ich  stieg,  zog  von  dem  Fluß  der  Wiesen 
Ein  Nebel  sich  in  Streifen  sacht  hervor; 
Er  wich  und  wechselte,  mich  zu  umfließen, 
Und  wuchs  geflügelt  mir  ums  Haupt  empor: 
Des  schönen  Blicks  sollt  ich  nicht  mehr  genießen, 
Die  Gegend  deckte  mir  ein  trüber  Flor; 
Bald  sah  ich  mich  von  Wolken  wie  umgössen 
Und  mit  mir  selbst  in  Dämmnmg  eingeschlossen. 


254  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Auf  einmal  schien  die  Sonne  durchzudringen, 
Im  Nebel  ließ  sich  eine  Klarheit  sehn. 
Hier  sank  er,  leise  sich  hinabzuschwingen, 
Hier  teilt'  er  steigend  sich  um  Wald  und  Höhn. 
Wie  hofft  ich  ihr  den  ersten  Gruß  zu  bringen! 
Sie  hofft  ich  nach  der  Trübe  doppelt  schön. 
Der  luftge  Kampf  war  lange  nicht  vollendet. 
Ein  Glanz  umgab  mich,  und  ich  stand  geblendet. 

Bald  machte  mich,  die  Augen  aufzuschlagen, 
Ein  innrer  Trieb  des  Herzens  wieder  kühn, 
Ich  könnt  es  nur  mit  schnellen  Blicken  wagen. 
Denn  alles  schien  zu  brennen  und  zu  glühn. 
Da  schwebte,  mit  den  Wolken  hergetragen, 
Ein  göttlich  Weib  vor  meinen  Augen  hin. 
Kein  schöner  Bild  sah  ich  in  meinem  Leben, 
Sie  sah  mich  an  und  blieb  verweilend  schweben. 

Kennst  du  mich  nicht?  sprach  sie  mit  einem  Munde 
Dem  aller  Lieb  und  Treue  Ton  entfloß: 
Erkennst  du  mich,  die  ich  in  manche  Wunde 
Des  Lebens  dir  den  reinsten  Balsam  goß? 
Du  kennst  mich  wohl,  an  die,  zu  ewgem  Bunde, 
Dein  strebend  Herz  sich  fest  und  fester  schloß. 
Sah  ich  dich  nicht  mit  heißen  Herzenstränen 
Als  Knabe  schon  nach  mir  dich  eifrig  sehnen? 

Ja!  rief  ich  aus,  indem  ich  selig  nieder 

Zur  Erde  sank,  lang  hab  ich  dich  gefühlt; 

Du  gabst  mir  Ruh,  wenn  durch  die  jungen  Glieder 

Die  Leidenschaft  sich  rastlos  durchgewühlt; 

Du  hast  mir  wie  mit  himmlischem  Gefieder 

Am  heißen  Tag  die  Stirne  sanft  gekühlt; 

Du  schenktest  mir  der  Erde  beste  Gaben, 

Und  jedes  Glück  will  ich  durch  dich  nur  haben! 

Dich  nenn  ich  nicht.    Zwar  hör  ich  dich  von  vielen 
Gar  oft  genannt,  und  jeder  heißt  dich  sein^ 
Ein  jedes  Auge  glaubt  auf  dich  zu  zielen. 
Fast  jedem  Auge  wird  dein  Strahl  zur  Pein. 


1775/86  WEIMAR  255 

Ach,  da  ich  irrte,  hatt  ich  viel  Gespielen, 

Da  ich  dich  kenne,  bin  ich  fast  allein; 

Ich  muß  mein  Glück  nur  mit  mir  selbst  genießen, 

Dein  holdes  Licht  verdecken  und  verschließen. 

Sie  lächelte,  sie  sprach:  Du  siehst,  wie  klug, 
Wie  nötig  wars,  euch  wenig  zu  enthüllen! 
Kaum  bist  du  sicher  vor  dem  gröbsten  Trug, 
Kaum  bist  du  Herr  vom  ersten  Kinderwillen, 
So  glaubst  du  dich  schon  Übermensch  genug. 
Versäumst  die  Pflicht  des  Mannes  zu  erfüllen! 
Wieviel  bist  du  von  andern  unterschieden? 
Erkenne  dich,  leb  mit  der  Welt  in  Frieden! 

Verzeih  mir,  rief  ich  aus,  ich  meint  es  gut; 

Soll  ich  mnsonst  die  Augen  offen  haben? 

Ein  froher  Wille  lebt  in  meinem  Blut, 

Ich  kenne  ganz  den  Wert  von  deinen  Gaben! 

Für  andre  wächst  in  mir  das  edle  Gut, 

Ich  kann  und  will  das  Pfund  nicht  mehr  vergraben! 

Warum  sucht  ich  den  Weg  so  sehnsuchtsvoll. 

Wenn  ich  ihn  nicht  den  Brüdern  zeigen  soll? 

Und  wie  ich  sprach,  sah  mich  das  hohe  Wesen 
Mit  einem  Blick  mitleidger  Nachsicht  an; 
Ich  konnte  mich  in  ihrem  Auge  lesen, 
Was  ich  verfehlt  imd  was  ich  recht  getan. 
Sie  lächelte,  da  war  ich  schon  genesen. 
Zu  neuen  Freuden  stieg  mein  Geist  heran; 
Ich  konnte  nun  mit  innigem  Vertrauen 
Mich  zu  ihr  nahn  und  ihre  Nähe  schauen. 

Da  reckte  sie  die  Hand  aus  in  die  Streifen 
Der  leichten  Wolken  und  des  Dufts  umher; 
Wie  sie  ihn,  faßte,  ließ  er  sich  ergreifen, 
Er  ließ  sich  ziehn,  es  war  kein  Nebel  mehr. 
Mein  Auge  könnt  im  Tale  wieder  schweifen, 
Gen  Himmel  blickt  ich,  er  war  hell  und  hehr. 
Nur  sah  ich  sie  den  reinsten  Schleier  halten. 
Er  floß  imi  sie  und  schwoll  in  tausend  Falten. 


256  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Ich  kenne  dich,  ich  kenne  deine  Schv;ächen, 
Ich  weiß,  was  Gutes  in  dir  lebt  und  glimmt! 
— So  sagte  sie,  ich  hör  sie  ewig  sprechen,— 
Empfange  hier,  was  ich  dir  lang  bestimmt; 
Dem  Glücklichen  kann  es  an  nichts  gebrechen, 
Der  dies  Geschenk  mit  stiller  Seele  nimmt: 
Aus  Morgenduft  gewebt  und  Sonnenklarheit, 
Der  Dichtung  Schleier  aus  der  Hand  der  Wahrheit. 

Und  wenn  es  dir  und  deinen  Freunden  schwüle 
Am  Mittag  wird,  so  wirf  ihn  in  die  Luft! 
Sogleich  umsäuselt  Abendwindes  Kühle, 
Umhaucht  euch  Blumen -Würzgeruch  und  Duft. 
Es  schweigt  das  Wehen  banger  Erdgefühle. 
Zum  Wolkenbette  wandelt  sich  die  Gruft, 
Besänftiget  wird  jede  Lebenswelle, 
Der  Tag  wird  lieblich,  und  die  Nacht  wird  helle. 

So  kommt  denn,  Freunde,  wenn  auf  euren  Wegen 

Des  Lebens  Bürde  schwer  und  schwerer  drückt. 

Wenn  eure  Bahn  ein  frischemeuter  Segen 

Mit  Blumen  ziert,  mit  goldnen  Früchten  schmückt, 

Wir  gehn  vereint  dem  nächsten  Tag  entgegen! 

So  leben  wir,  so  wandeln  wir  beglückt. 

Und  dann  auch  soll,  wenn  Enkel  um  uns  trauern, 

Zu  ihrer  Lust  noch  unsre  Liebe  dauern. 


[An  Charlotte  v.  Stein.] 

GEWISS,  ich  wäre  schon  so  ferne,  ferne, 
So  weit  die  Welt  nur  offen  liegt,  gegangen, 
Bezwängen  mich  nicht  übermächtge  Sterne, 
Die  mein  Geschick  an  deines  angehangen, 
Daß  ich  in  dir  nun  erst  mich  kennen  lerne. 
Mein  Dichten,  Trachten,  Hofifen  und  Verlangen 
Allein  nach  dir  und  deinem  Wesen  drängt. 
Mein  Leben  nur  an  deinem  Leben  hängt. 


1775/86  WEIMAR  257 

WARNUNG 

WECKE  den  Amor  nicht  auf!    Noch  schläft  der 
liebliche  Knabe; 
Geh,  vollbring  dein  Geschäft,  wie  es  der  Tag  dir  gebeut! 
So  der  Zeit  bedienet  sich  klug  die  sorgliche  Mutter, 
Wenn  ihr  Knäbchen  entschläft,  denn  es  erwacht  nur 

zu  bald. 


ANTWORTEN  BEI  EINEM  GESELLSCHAFTLICHEN 
FRAGESPIEL 

Die  Dajne 

WAS  ein  weiblich  Herz  erfreue 
In  der  klein-  und  großen  Welt? 
Ganz  gewiß  ist  es  das  Neue, 
Dessen  Blüte  stets  gefäUt; 
Doch  viel  werter  ist  die  Treue, 
Die,  auch  in  der  Früchte  Zeit, 
Noch  mit  Blüten  uns  erfreut. 

Der  junge  Herr 

Paris  war  in  Wald  und  Höhlen 
Mit  den  Nymphen  wohl  bekannt, 
Bis  ihm  Zeus,  um  ihn  zu  quälen, 
Drei  der  Himmlischen  gesandt; 
Und  es  fühlte  wohl  im  Wählen, 
In  der  alt-  und  neuen  Zeit, 
Niemand  mehr  Verlegenheit. 

Der  Erfahrne 

Geh  den  Weibern  zart  entgegen, 
Du  gewinnst  sie,  auf  mein  Wort; 
Und  wer  rasch  ist  und  verwegen. 
Kommt  vielleicht  noch  besser  fort; 
Doch  wem  wenig  dran  gelegen 
Scheinet,  ob  er  reizt  und  rührt, 
Der  beleidigt,  der  verführt. 

GOETHE  XIV  17. 


858  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Der  Zufriedne 
Vielfach  ist  der  Menschen  Streben, 
Ihre  Unrah,  ihr  Verdruß; 
Auch  ist  manches  Gut  gegeben, 
Mancher  liebliche  Genuß; 
Doch  das  größte  Glück  im  Leben 
Und  der  reichUchste  Gewirm 
Ist  ein  guter  leichter  Sinn. 

Der  lustige  Rat 
Wer  der  Menschen  töricht  Treiben 
Täglich  sieht  und  täglich  schilt 
Und,  wenn  andre  Narren  bleiben, 
Selbst  für  einen  Narren  gilt, 
Der  trägt  schwerer,  als  zur  Mühle 
Irgendein  beladen  Tier. 
Und,  wie  ich  im  Busen  fiihle, 
Wahrlich!  so  ergeht  es  mir. 


VERSCHIEDENE  EMPFINDUNGEN  AN  EINEM 
PLATZE 

Das  Mädchen 

ICH  hab  ihn  gesehen! 
Wie  ist  mir  geschehen? 
O  himmlischer  Blick! 
Er  kommt  mir  entgegen; 
Ich  weiche  verlegen. 
Ich  schwanke  zurück. 
Ich  irre,  ich  träume! 
Ihr  Felsen,  ihr  Bäume, 
Verbergt  meine  Freude, 
Verberget  mein  Glück! 


Der  Jüngüng 
Hier  muß  ich  sie  finden! 
Ich  sah  sie  verschwinden, 
Ihr  folgte  mein  Blick. 


1775/86  WEIMAR  «59 

Sie  kam  mir  entgegen, 
Dann  trat  sie  verlegen 
Und  schamrot  zurück. 
Ists  Hoffnung,  sinds  Träume? 
Ihr  Felsen,  ihr  Bäume, 
Entdeckt  mir  die  Liebste, 
Entdeckt  mir  mein  Glück! 

Der  Schmachtende 

Hier  klag  ich  verborgen 
Dem  tauenden  Morgen 
Mein  einsam  Geschick. 
Verkannt  von  der  Menge, 
Wie  zieh  ich  ins  Enge 
Mich  stille  zurück! 
O  zärtliche  Seele, 
O  schweige,  verhehle 
Die  ewigen  Leiden, 
Verhehle  dein  Glück! 

Der  Jäger 

Es  lohnet  mich  heute 
Mit  doppelter  Beute 
Ein  gutes  Geschick. 
Der  redliche  Diener 
Bringt  Hasen  und  Hühner 
Beladen  zurück. 
Hier  find  ich  gefangen 
Auch  Vögel  noch  hangen. 
Es  lebe  der  Jäger, 
Es  lebe  sein  Glück! 


ERSTER  VERLUST 

ACH,  wer  bringt  die  schönen  Tage, 
Jene  Tage  der  ersten  Liebe, 
Ach,  wer  bringt  nur  eine  Stunde 
Jener  holden  Zeit  zurück! 


2  6 o  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Einsam  nähr  ich  meine  Wunde, 
Und  mit  stets  erneuter  Klage 
Traur  ich  ums  verlorne  Glück. 

Ach,  wer  bringt  die  schönen  Tage, 
Jene  holde  Zeit  zurück! 

DIE  LEHRER 

ALS  Diogenes  still  in  seiner  Tonne  sich  sonnte, 
Und  Calanus  mit  Lust  stieg  in  das  flammende  Grab: 
Welche  herrliche  Lehre  dem  raschen  Sohn  des  Philippus, 
Wäre  der  Herrscher  der  Welt  nicht  auch  der  Lehre 

zu  groß! 

DEM  ACKERMANN 

FLACH  bedecket  und  leicht  den  goldenen  Samen  die 
Furche, 
Guter!  die  tiefere  deckt  endlich  dein  ruhend  Gebein. 
Fröhlich  gepflügt  und  gesät!  Hier  keimetlebendigeNahrtmg, 
Und  die  Hoffnung  entfernt  selbst  von  dem  Grabe  sich 

nicht. 

ANAKREONS  GRAB 

WO  die  Rose  hier  blüht,  wo  Reben  um  Lorbeer  sich 
schlingen, 
Wo  das  Turtelchen  lockt,  wo  sich  das  Grillchen  ergetzt. 
Welch  ein  Grab  ist  hier,  das  alle  Götter  mit  Leben 

Schön  bepflanzt  und  geziert?  Es  ist  Anakreons  Ruh. 
Frühling,  Sommerund  Herbst  genoß  der  glückliche  Dichter; 
Vor  dem  Winter  hat  ihn  endlich  der  Hügel  geschützt. 

DIE  GESCHWISTER 

SCHLUMMER  und  Schlaf,  zwei  Brüder,  zum  Dienste 
der  Götter  berufen, 
Bat  sich  Prometheus  herab,  seinem  Geschlechte  zum 

Trost; 
Aber,  den  Göttern  so  leicht,  doch  schwer  zu  ertragen  den 

Menschen, 
Ward  nun  ihr  Schlummer  uns  Schlaf,  ward  nun  ihr  Schlaf 

uns  zum  Tod. 


1775/86  WEIMAR  261 

ZEITMASS 

EROS,  wie  seh  ich  dich  hier!   In  jeglichem  Händchen 
die  Sanduhr! 
Wie?  Leichtsinniger  Gott,  missest  du  doppelt  die  Zeit? 
"Langsam  rinnen  aus  einer  die  Stunden  entfernter  Ge- 
liebten; 
Gegenwärtigen  fließt  eilig  die  zweite  herab." 

[An  Fritz  v.  Stein] 

UNGLÜCK  bildet  den  Menschen  und  zwingt  ihn,  sich 
selber  zu  kennen; 
Leiden  gibt  dem  Gemüt  doppeltes  Streben  und  Kraft. 
Uns  lehrt  eigener  Schmerz,  der  andern  Schmerzen  zu  teilen, 

Eigener  Fehler  erhält  Demut  und  billigen  Sinn, 
Mögest  du,  glücklicher  Knabe,  nicht  dieser  Schule  be- 
dürfen, 
Und  nur  die  Fröhlichkeit  dich  führen  die  Wege  des 

Rechts. 

FÜR  EWIG 

DENN  was  der  Mensch  in  seinen  Erdeschranken 
Von  hohem  Glück  mit  Götternamen  nennt: 
Die  Harmonie  der  Treue,  die  kein  Wanken, 
Der  Freundschaft,  die  nicht  Zweifelsorge  kennt; 
Das  Licht,  das  Weisen  nur  zu  einsamen  Gedanken, 
Das  Dichtem  nur  in  schönen  Bildern  brennt — 
Das  hatt  ich  all,  in  meinen  besten  Stunden, 
In  ihr  entdeckt  und  es  für  mich  gefunden. 

WOHIN  er  auch  die  Blicke  kehrt  tmd  wendet. 
Je  mehr  erstaunt  er  über  Kunst  und  Pracht; 
Mit  Vorsatz  scheint  der  Reichtum  hier  verschwendet. 
Es  scheint,  als  habe  sich  nur  alles  selbst  gemacht. 
Soll  er  sich  wundem,  daß  das  Werk  vollendet? 
Soll  er  sich  wimdern,  daß  es  so  erdacht? 
Ihn  dünkt,  als  fang  er  erst,  mit  himmlischem  Entzücken, 
Zu  leben  an  in  diesen  Augenblicken. 


262  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

HERZOG  LEOPOLD  VON  BRAUNSCHWEIG 

DICH  ergriflf  mit  Gewalt  der  alte  Herrscher  des  Flusses, 
Hält  dich  und  teilet  mit  dir  ewig  sein  strömendes 

Reich. 
Ruhig  schlummerst  du  nun  beim  stilleren  Rauschen  der 

Urne, 
Bis  dich  stürmende  Flut  wieder  zu  Taten  erweckt. 
Hilfreich  werde  dem  Volke!    so  wie  du  ein  Sterblicher 

wolltest, 
Und  YoUend  als  ein  Gott,  was  dir  als  Menschen  mißlang. 


MIGNON 

NUR  wer  die  Sehnsucht  kennt, 
Weiß,  was  ich  leide! 
Allein  und  abgetrennt 
Von  aller  Freude, 
Seh  ich  ans  Firmament 
Nach  jener  Seite. 
Ach!  der  mich  liebt  und  kennt, 
Ist  in  der  Weite, 
Es  schwindelt  mir,  es  brennt 
Mein  Eingeweide. 
Nur  wer  die  Sehnsucht  kennt, 
Weiß,  was  ich  leide! 


pn  das  Stammbuch  der  Gräfia  Christine  v.  Brühl] 

WARUM  siehst  du  Tina  verdammt,  den  Sprudel  zu 
trinken? 
Wohl  hat  sie  es  verdient  an  allen,  die  sie  beschädigt 
Und  zu  heilen  vergessen,  die  an  der  Quelle  des  Lethe 
Becher  auf  Becher  nun  schlürfen,  die  gichtischen  Schmerzen 

der  Liebe 
Aus  den  Gliedern  zu  spülen  und,  will  es  ja  nicht  gelingen, 
Bis  zum  Rheumatismus  der  Freundschaft  sich  zu  kurieren. 


1775/86  WEIMAR  263 

[Bänkelsängerlied  xum  Geburtstage  des  Grafen  Hans  Moritz  v.  Brühl] 

EIN  munter  Lied!  Dort  kommt  ein  Chor 
Von  Freunden  her,  sich  zu  ergötzen; 
Was  sang  ich  ihnen  Bessers  vor 
Als  von  dem  Mann,  den  alle  schätzen? 
Von  seinem  Leben  ward  uns  heut 
Der  erste  frohe  Tag  gegeben, 
Und,  die  ihr  seine  Freunde  seid. 
Heut  fing  er  an,  füir  euch  zu  leben. 

Hier  seht  ihr  seiner  Tage  Lauf, 
Und  was  man  sieht,  ist  leicht  zu  hören. 
Hier  geht  der  Sonnenstrahl  ihm  auf; 
Wer  darf  des  Kindes  Ruhe  stören? 
Es  ruht  und  wächst  der  teure  Sohn, 
Seht  nur  die  roten,  vollen  Backen; 
Doch  glaubet  mir,  er  hatte  schon 
Den  Schelmen  faustendick  im  Nacken. 

Hier  galoppiert  er  früh  imd  spat, 
Hier  steht  er  wirklich  auf  dem  Kopfe, 
Und  hier  als  männlicher  Soldat 
Mit  Degen,  Hut  und  langem  Zopfe. 
Ihr  seht,  der  Feinde  Macht  ist  groß, 
Sie  dröhn  mit  Schwertern  und  Kanonen; 
Er  kommandiert,  er  eilt  drauflos. 
Er  siegt  imd  weiß  nun  zu  verschonen. 

Hier  ruht  er  von  Strapazen  aus 
Und  denkt  einmal  in  Ruh  zu  leben; 
Allein  Herr  Amor  lacht  ihn  aus 
Und  will  ihm  was  zu  wachen  geben. 
Er  zeiget  ihm  das  schönste  Bild, 
Das  einem  Zaubrer  er  gestohlen; 
Es  eilt  der  Held,  entzündet  wild. 
Und  will  sich  seine  Schöne  holen. 

Wie  bald  sie  einig  worden  sind. 
Das  kann  ich  nicht  gewiß  erzählen; 
Genug,  er  hascht  das  schöne  Kind 
Und  läßt  es  nicht  an  Küssen  fehlen. 


2  64  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

O  große  Lust!  Doch  übergroß 

Läßt  ihn  das  Glück  die  Lust  empfinden, 

Einmal  auf  der  Geliebten  Schoß 

Ein  artig  Murmelchen  zu  finden. 

Nun  fühlt  er  seinen  neuen  Stand 
Und  fügt  sich  in  den  Vater- Orden, 
Er  gräbt  vmd  hacket  frisch  das  Land, 
Wie's  Adam  einst  befehligt  worden. 
Und  so  versorgt  er  erst  das  Haus, 
Dann  bricht  er  allerschönste  Rosen, 
Er  schmückt  dem  Weibchen  Lauben  aus 
Und  setzt  sich  drein,  sie  liebzukosen. 

Bald  kommt  die  Wißbegier  ihn  an: 
Hier  seht  ihr  ihn  botanisch  jagen, 
Hier,  wie  Enceladus  getan, 
Ein  echtes  Kabinettstück  tragen. 
Doch  nichts  geht  über  seine  Lust, 
Wenn  er  den  Freunden  Feste  feiert, 
Mit  freier  Seele,  treuer  Brust 
Der  edlen  Seelen  Bund  erneuert. 

Hier  hätt  ich  fast  den  Schluß  gemacht. 
Ich  habe  schon  zu  lang  gesungen. 
Was  seh  ich?  Hier  ist  Mitternacht, 
Er  sitzt,  vom  Dichtergeist  durchdrungen, 
Er  zählt  und  sinnt  und  reimt  und  flicht, 
Für  wen  es  sei,  muß  ich  erfahren: 
Es  ist  ein  zärtliches  Gedicht 
Für  seine  Frau  nach  vierzehn  Jahren! 

Drimi  singen  wir  den  braven  Mann, 
Den  braven  Vater,  braven  Gatten 
Und  braven  Freund j  wer  singen  kann. 
Den  Felsen,  Wäldern,  Fluß  und  Matten! 
Und  wer  nicht  singen  kann,  der  schreit, 
Und  wer  nicht  tanzen  kann,  muß  springen. 
Hoch  lebe  Moritz!  Lebe  weit! 
Nun  gebet  mir  den  Lohn  fürs  Singen. 


1775/86  WEIMAR  265 

[An  die  Gräfin  Christine  v.  Brühl] 

AUF  den  Auen  wandlen  wir 
Und  bleiben  glücklich  ohne  Gedanken, 
Am  Hügel  schwebt  des  Abschieds  Laut, 
Es  bringt  der  West  den  Fluß  herab 
Ein  leises  Lebewohl. 
Und  der  Schmerz  ergreift  die  Brust, 
Und  der  Geist  schwankt  hin  imd  her, 
Und  sinkt  und  steigt  und  sinkt. 
Von  weiten  winkt  die  Wiederkehr 
Und  sagt  der  Seele  Freude  zu. 
Ist  es  so?  Ja!  Zweifle  nicht. 

NEUE  HEILIGE 

ALLE  schöne  Sünderinnen, 
Die  zu  Heiligen  sich  geweint, 
Sind,  um  Herzen  zu  gewinnen. 
All  in  Eine  nun  vereint. 
Seht  die  Mutterlieb,  die  Tränen, 
Ihre  Reu  und  ihre  Pein! 
Statt  Marien  Magdalenen 
Soll  nun  Sankt  Oliva  sein. 

ALS  der  Undankbare  floh,  o  Göttin  ewiger  Treue, 
Fleht  ich  ihn  nicht  zurück,  fleht  ich:  Verzeih  du  ihm! 

nur. 
Du  ergriffst  ihn  gewaltig  und  hast  ihn  übel  gebändigt; 
Graue  Locke  hält  nun  ihn,  den  Beweglichen,  fest. 

GESPRÄCH  ZWISCHEN  SCHILDWACHE  UND 
FREUND  HEIN  AM  COBURGER  TOR 

[Mit  einem  Bilde  von  Kraus  für  Musäus] 
Schildwache 

*  ^  Preund  Hein 

Ich  bin  Freund  Hein. 
Lass  Er  mich  herein! 


2  66  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Schildwache 
Er  sieht  so  hager  und  so  bleich, 
Eher  einem  Toten  als  einem  Lebenden  gleich; 
Er  kommt  von  keinem  gesunden  Ort. 
Zeig  Er  mir  erst  seinen  Passeport. 

Freund  Hein 
Mein  Paß  ist  diese  Sense  hier, 
Tür,  Tor  und  Schlagbaum  öffnet  sie  mir. 
Mich  hält  in  meinem  raschen  Lauf 
Selbst  eine  Armee  en  front  nicht  auf. 
Will  Er  mich  noch  weiter  schikanieren, 
Werd  ich  über  Ihn  wegmarschieren, 
Kein  lautes  Wörtchen  mit  Ihm  sprechen, 
Den  Kieler  Wandrer  an  Ihm  rächen. 


[An  Charlotte  v.  SteinJ 

WOHER  sind  wir  geboren? 
Aus  Lieb. 
Wie  wären  wir  verloren? 

Ohn  Lieb. 
Was  hilft  ims  überwinden? 

Die  Lieb. 
Kann  man  auch  Liebe  finden? 

Durch  Lieb. 
Was  läßt  nicht  lange  weinen? 

Die  Lieb. 
Was  soll  uns  stets  vereinen? 

Die  Lieb. 


[Auf  Lavaters  'Lied  eines  Christen  an  Christus'] 

DU  bist!  du  bist!  sagt  Lavater.   Du  bist!! 
Du  bist!!!  du  bist!!!!  du  bist  Herr  Jesus  Christ!!!!! 
Er  wiederholte  nicht  so  heftig  Wort  und  Lehre, 
Wenn  es  ganz  just  mit  dieser  Sache  wäre. 


I786-I788 

REISE  NACH  KARLSBAD 

UND  ITALIEN 


[An  Karoline  v.  Staupitz] 

O  Schöne  mit  dem  weißen  Stabe, 
Du  kleiner,  guter,  holder  Schatz, 
Verlasse  mit  der  schönsten  Gabe 
Gesunder  Freude  diesen  Platz. 

Und  denkest  du  an  alle  Stäbe, 

Die  schwarz  und  braun,  so  bunt  als  schön, 

Gemodelt  aus  dem  Holz  der  Rebe 

Am  Sprudel  auf  und  nieder  gehn — 

Und  denkest  du  an  alle  Schätze, 
Die  neben  dir,  geliebtes  Kind, 
Mit  dem  holdseligsten  Geschwätze 
Des  Saales  beste  Zierde  sind — 

Dann  denk  auch,  daß  in  letzten  Wochen 
Du  einem  späten  Gast  gelacht. 
Der,  wenn  er  im  Plural  gesprochen, 
Sich  doch  den  Singular  gedacht. 


ABSCHIED  AN  DEN  HERZOG  KARL  AUGUST  IM 
NAMEN  DER  ENGELHÄUSER  BÄUERINNEN 

IST  es  denn  wahr,  was  man  gesagt? 
Dem  lieben  Himmel  seis  geklagt! 
Verlassest  du  die  Königsstadt, 
Die  dir  so  viel  zu  danken  hat? 
Denn  bis  zu  uns  nach  Engelhaus 
Erschallet  lang  dein  Ruhm  heraus. 
Daß  deine  Freundlichkeit  imd  Gnad 
Allen  dreifach  gesegnet  das  Bad; 
Denn  nicht  der  Pole  freut  sich  dein, 
Es  freut  sich  nicht  der  Jud  allein, 
Es  freut  sich  dein  auch  jeder  Christ, 
Daß  du  so  mild  gewesen  bist. 
Und  wer  das  nicht  erkennen  wollt. 
Für  einen  Heiden  gelten  sollt. 
Doch  die  nach  dir  am  meisten  schaun, 
Sind  gewiß  alle  schöne  Fraun, 


270  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Die  du,  o  edler  Brunnengast! 

Löblich  und  fein  gewartet  hast; 

Die  beißen  alle  mit  Verdruß 

Aufs  Muß  als  eine  harte  Nuß. 

Es  scheinet  ihnen  alles  alt, 

Das  Tal  zu  weit,  der  Sprudel  kalt; 

Ein  Strom  aus  ihren  Augen  quillt, 

Der  ärger  als  die  Tepel  schwillt; 

Und  flöss  der  Strom  den  Berg  hinauf, 

Er  hielte  dich  im  Reisen  auf. 

In  deren  Namen  stehen  wir, 

Von  Engelhaus  die  Nymphen,  hier 

Und  wünschen  dir  zur  frühen  Zeit 

Von  allen  Heiligen  das  Geleit. 

So  viel  Kanonenschüsse  geschwind 

Vorm  Elefanten  gefallen  sind, 

So  manchen  Fall  Gurofsky  erzählt 

Und  keuscher  Frauen  Ohren  quält, 

So  manche  Kollatschen  man  früh  und  spat 

Bei  dem  Kmfürsten  gebacken  hat: 

So  vielen  Segen  nimm  mit  fort 

Von  dem  heilsamen  schönen  Ort; 

Und  wie  vom  heißen  Sprudel-Trieb 

Dir  niemals  was  im  Leibe  blieb, 

So  laß  in  deines  Herzens  Schrein 

Die  Freunde  desto  fester  sein. 


COPHTISCHES  LIED 

LASSET  Gelehrte  sich  zanken  und  streiten, 
Streng  und  bedächtig  die  Lehrer  auch  sein! 
Alle  die  Weisesten  aller  der  Zeiten 
Lächeln  und  winken  und  stimmen  mit  ein: 
Töricht,  auf  Beßrung  der  Toren  zu  harren! 
Kinder  der  Klugheit,  o  habet  die  Narren 
Eben  zum  Narren  auch,  wie  sichs  gehört! 

Merlin  der  Alte,  im  leuchtenden  Grabe, 
Wo  ich  als  Jüngling  gesprochen  ihn  habe, 


1786/8  REISE  NACH  KARLSBAD  UND  ITALIEN  2  7 1 

Hat  mich  mit  ähnlicher  Antwort  belehrt: 
Töricht,  auf  Beßrang  der  Toren  zu  harren! 
Kinder  der  Klugheit,  o  habet  die  Narren 
Eben  zum  Narren  auch,  wie  sichs  gehört! 

Und  auf  den  Höhen  der  indischen  Lüfte 
Und  in  den  Tiefen  ägyptischer  Grüfte 
Hab  ich  das  heilige  Wort  nur  gehört: 
Töricht,  auf  Beßnmg  der  Toren  zu  harren! 
Kinder  der  Klugheit,  o  habet  die  Narren 
Eben  zum  Nairen  auch,  wie  sichs  gehört! 


EIN  ANDRES 

GEH!  gehorche  meinen  Winken, 
Nutze  deine  jungen  Tage, 
Lerne  zeitig  klüger  sein: 
Auf  des  Glückes  großer  Wage 
Steht  die  Zunge  selten  ein; 
Du  mußt  steigen  oder  sinken. 
Du  mußt  herrschen  imd  gewiimen, 
Oder  dienen  und  verlieren, 
Leiden  oder  triumphieren, 
Amboß  oder  Hammer  sein. 


[An  den  Herzog  Karl  August] 

DU  sorgtest  freundlich,  mir  den  Pfad 
Mit  Lieblingsblumen  zu  bestreun. 
Still  tätig  danke  dir  mein  Leben 
Für  alles  Gute,  was  du  mir  erzeigt... 
Fügst  du  dazu  die  Sorge  für  dich  selbst, 
So  geh  ich  ohne  Wünsche  fröhlich  hin; 
Denn  nur  gemeinsam  Wohl  beglückt  Verbundne. 


272  LYRISCHE  DICHTUNGEN- 

AMOR  ALS  LANDSCHAFTSMALER 

SASS  ich  früh  auf  einer  Felsenspitze, 
Sah  mit  starren  Augen  in  den  Nebel; 
Wie  ein  grau  grundiertes  Tuch  gespannet, 
Deckt'  er  alles  in  die  Breit  und  Höhe. 

Stellt'  ein  Knabe  sich  mir  an  die  Seite, 
Sagte:  Lieber  Freund,  wie  magst  du  starrend 
Auf  das  leere  Tuch  gelassen  schauen? 
Hast  du  denn  zum  Malen  und  zum  Bilden 
Alle  Lust  auf  ewig  wohl  verloren? 

Sah  ich  an  das  Kind,  und  dachte  heimlich: 
Will  das  Bübchen  doch  den  Meister  machen! 

Willst  du  immer  trüb  und  müßig  bleiben. 
Sprach  der  Knabe,  kann  nichts  Kluges  werden; 
Sieh,  ich  will  dir  gleich  ein  Bildchen  malen. 
Dich  ein  hübsches  Bildchen  malen  lehren. 

Und  er  richtete  den  Zeigefinger, 
Der  so  rötlich  war  wie  eine  Rose, 
Nach  dem  weiten  ausgespannten  Teppich, 
Fing  mit  seinem  Finger  an,  zu  zeichnen. 

Oben  malt'  er  eine  schöne  Sonne, 
Die  mir  in  die  Augen  mächtig  glänzte. 
Und  den  Saum  der  Wolken  macht'  er  golden, 
Ließ  die  Strahlen  durch  die  Wolken  dringen; 
Malte  dann  die  zarten  leichten  Wipfel 
Frisch  erquickter  Bäume,  zog  die  Hügel, 
Einen  nach  dem  andern,  frei  dahinter; 
Unten  ließ  ers  nicht  an  Wasser  fehlen, 
Zeichnete  den  Fluß  so  ganz  natürlich, 
Daß  er  schien  im  Sonnenstrahl  zu  glitzern, 
Daß  er  schien  am  hohen  Rand  zu  rauschen. 

Ach,  da  standen  Blumen  an  dem  Flusse, 

Und  da  waren  Farben  auf  der  Wiese, 

Gold  und  Schmelz  und  Purpur  imd  ein  Grünes, 


1786/8  REISE  NACH  KARLSBAD  UND  ITALIEN  273 

Alles  wie  Smaragd  und  wie  Karfunkel! 
Hell  und  rein  lasiert'  er  drauf  den  Himmel 
Und  die  blauen  Berge  fern  und  femer, 
Daß  ich,  ganz  entzückt  und  neugeboren, 
Bald  den  Maler,  bald  das  Bild  beschaute. 

Hab  ich  doch,  so  sagt'  er,  dir  bewiesen, 
Daß  ich  dieses  Handwerk  gut  verstehe; 
Doch  es  ist  das  Schwerste  noch  zurücke. 

Zeichnete  darnach  mit  spitzem  Finger 
Und  mit  großer  Sorgfalt  an  dem  Wäldchen, 
Grad  ans  Ende,  wo  die  Sonne  kräftig 
Von  dem  hellen  Boden  widerglänzte, 
Zeichnete  das  allerliebste  Mädchen, 
Wohlgebildet,  zierlich  angekleidet, 
Frische  Wangen  unter  braunen  Haaren, 
Und  die  Wangen  waren  von  der  Farbe 
Wie  das  Fingerchen,  das  sie  gebildet. 

O  du  Knabe!  rief  ich,  welch  ein  Meister 
Hat  in  seine  Schule  dich  genommen, 
Daß  du  so  geschwind  und  so  natürlich 
Alles  klug  beginnst  und  gut  vollendest? 

Da  ich  noch  so  rede,  sieh,  da  rühret 

Sich  ein  Windchen  und  bewegt  die  Gipfel, 

Kräuselt  alle  Wellen  auf  dem  Flusse, 

Füllt  den  Schleier  des  vollkommnen  Mädchens, 

Und,  was  mich  Erstaunten  mehr  erstaunte, 

Fängt  das  Mädchen  an,  den  Fuß  zu  rühren, 

Geht  zu  kommen,  nähert  sich  dem  Orte, 

Wo  ich  mit  dem  losen  Lehrer  sitze. 

Da  nun  alles,  alles  sich  bewegte. 
Bäume,  Fluß  und  Blumen  und  der  Schleier 
Und  der  zarte  Fuß  der  AUerschönsten, 
Glaubt  ihr  wohl,  ich  sei  auf  meinem  Felsen 
Wie  ein  Felsen  still  imd  fest  geblieben? 

GOETHE  XIV  18 


2  74  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

CUPIDO,  loser,  eigensinniger  Knabe! 
Du  batst  mich  um  Quartier  auf  einige  Stunden, 
Wie  viele  Tag'  und  Nächte  bist  du  geblieben! 
Und  bist  nun  herrisch  und  Meister  im  Hause  geworden! 

Von  meinem  breiten  Lager  bin  ich  vertrieben; 

Nun  sitz  ich  an  der  Erde,  Nächte  gequälet; 

Dein  Mutwill  schüret  Flamm  auf  Flamme  des  Herdes, 

Verbrennet  den  Vorrat  des  Winters  und  senget  mich  Armen. 

Du  hast  mir  mein  Geräte  verstellt  und  verschoben; 
Ich  such  und  bin  wie  blind  und  irre  geworden. 
Du  lärmst  so  imgeschickt;  ich  fürchte,  das  Seelchen 
Entflieht,  um  dir  zu  entfliehn,  imd  räumet  die  Hütte. 


1788-1793  WEIMAR 

REISE  NACH  VENEDIG,  NACH  SCHLESIEN 
UND  IN  DIE  RHEINLANDE 


LIEBEBEDÜRFNIS 

WER  vernimmt  mich?  ach,  wem  soll  ichs  klagen? 
Weis  vernähme,  würd  er  mich  bedauern? 
Ach,  die  Lippe,  die  so  manche  Freude 
Sonst  genossen  hat  und  sonst  gegeben, 
Ist  gespalten,  imd  sie  schmerzt  erbärmlich. 
Und  sie  ist  nicht  etwa  wund  geworden, 
Weil  die  Liebste  mich  zu  wild  ergriffen, 
Hold  mich  angebissen,  daß  sie  fester 
Sich  des  Freunds  versichernd  ihn  genösse: 
Nein,  das  zarte  Lippchen  ist  gesprungen. 
Weil  nun  über  Reif  und  Frost  die  Winde 
Spitz  tmd  scharf  und  lieblos  mir  begegnen. 

Und  mm  soll  mir  Saft  der  edlen  Traube, 
Mit  dem  Saft  der  Bienen  bei  dem  Feuer 
Meines  Herds  vereinigt,  Lindrung  schaffen. 
Ach,  was  will  das  helfen,  mischt  die  Liebe 
Nicht  ein  Tröpfchen  ihres  Balsams  drunter? 

DER  BESUCH 

MEINE  Liebste  wollt  ich  heut  beschleichen, 
Aber  ihre  Türe  war  verschlossen. 
Hab  ich  doch  den  Schlüssel  in  der  Tasche! 
Öfifn  ich  leise  die  geliebte  Türe! 

Auf  dem  Saale  fand  ich  nicht  das  Mädchen, 
Fand  das  Mädchen  nicht  in  ihrer  Stube; 
Endlich,  da  ich  leis  die  Kammer  öfl&ie, 
Find  ich  sie,  gar  zierlich  eingeschlafen, 
Angekleidet,  auf  dem  Sofa  liegen. 

Bei  der  Arbeit  war  sie  eingeschlafen: 
Das  Gestrickte  mit  den  Nadeln  ruhte 
Zwischen  den  gefaltnen  zarten  Händen; 
Und  ich  setzte  mich  an  ihre  Seite, 
Ging  bei  mir  zu  Rat,  ob  ich  sie  weckte. 

Da  betrachtet  ich  den  schönen  Frieden, 
Der  auf  ihren  Augenlidern  ruhte: 
Auf  den  Lippen  war  die  stille  Treue, 
Auf  den  Wangen  Lieblichkeit  zu  Hause, 


278  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Und  die  Unschuld  eines  guten  Herzens 
Regte  sich  im  Busen  hin  und  wieder. 
Jedes  ihrer  Glieder  lag  gefällig, 
Aufgelöst  vom  süßen  Götterbalsam. 

Freudig  saß  ich  da,  und  die  Betrachtimg 
Hielte  die  Begierde,  sie  zu  wecken, 
Mit  geheimen  Banden  fest  und  fester. 

O  du  Liebe,  dacht  ich,  kann  der  Schlummer, 
Der  Verräter  jedes  falschen  Zuges, 
Kann  er  dir  nicht  schaden,  nichts  entdecken, 
Was  des  Freundes  zarte  Meinung  störte? 

Deine  holden  Augen  sind  geschlossen. 
Die  mich  offen  schon  allein  bezaubern; 
Es  bewegen  deine  süßen  Lippen 
Weder  sich  zur  Rede  noch  zum  Kusse; 
Aufgelöst  sind  diese  Zauberbande 
Deiner  Arme,  die  mich  sonst  umschlingen, 
Und  die  Hand,  die  reizende  Gefährtin 
Süßer  Schmeicheleien,  unbeweglich. 
Wärs  ein  Irrtum,  wie  ich  von  dir  denke, 
War  es  Selbstbetrug,  wie  ich  dich  liebe, 
Müßt  ichs  jetzt  entdecken,  da  sich  Amor 
Ohne  Binde  neben  mich  gestellet. 

Lange  saß  ich  so  und  freute  herzlich 
Ihres  Wertes  mich  und  meiner  Liebe; 
Schlafend  hatte  sie  mir  so  gefallen, 
Daß  ich  mich  nicht  traute,  sie  zu  wecken. 

Leise  leg  ich  ihr  zwei  Pomeranzen 

Und  zwei  Rosen  auf  das  Tischchen  nieder; 

Sachte,  sachte  schleich  ich  meiner  Wege. 

ÖflBiet  sie  die  Augen,  meine  Gute, 
Gleich  erblickt  sie  diese  bunte  Gabe, 
Staunt,  wie  immer  bei  verschloßnen  Türen 
Dieses  freundliche  Geschenk  sich  finde. 


1788/93  WEIMAR  279 

Seh  ich  diese  Nacht  den  Engel  wieder, 
O  wie  freut  sie  sich,  vergilt  mir  doppelt 
Dieses  Opfer  meiner  zarten  Liebe. 

MORGENKLAGEN 

Odu  loses,  leidigliebes  Mädchen, 
Sag  mir  an:  womit  hab  ichs  verschuldet. 
Daß  du  mich  auf  diese  Folter  spannest, 
Daß  du  dein  gegeben  Wort  gebrochen? 

Drucktest  doch  so  freundlich  gestern  abend 
Mir  die  Hände,  lispeltest  so  Heblich: 
Ja,  ich  komme,  komme  gegen  Morgen 
Ganz  gewiß,  mein  Freund,  auf  deine  Stube. 

Angelehnet  ließ  ich  meine  Türe, 

Hatte  wohl  die  Angeln  erst  geprüfet 

Und  mich  recht  gefreut,  daß  sie  nicht  knarrten. 

Welche  Nacht  des  Wartens  ist  vergangen! 
Wacht  ich  doch  und  zählte  jedes  Viertel; 
Schlief  ich  ein  auf  wenig  Augenblicke, 
War  mein  Herz  beständig  wach  gebheben. 
Weckte  mich  von  meinem  leisen  Schlummer. 

Ja,  da  segnet  ich  die  Finsternisse, 
Die  so  ruhig  alles  überdeckten. 
Freute  mich  der  allgemeinen  Stille, 
Horchte  lauschend  immer  in  die  Stille, 
Ob  sich  nicht  ein  Laut  bewegen  möchte. 

"Hätte  sie  Gedanken,  wie  ich  denke. 
Hätte  sie  Gefühl,  wie  ich  empfinde. 
Würde  sie  den  Morgen  nicht  erwarten, 
Würde  schon  in  dieser  Stunde  kommen." 

Hüpft'  ein  Kätzchen  oben  übern  Boden, 
Knisterte  das  Mäuschen  in  der  Ecke, 
Regte  sich,  ich  weiß  nicht  was,  im  Hause, 
Immer  hofft  ich,  deinen  Schritt  zu  hören. 
Immer  glaubt  ich,  deinen  Tritt  zu  hören. 


2^o  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Und  so  lag  ich  lang  und  immer  länger, 
Und  es  fing  der  Tag  schon  an  zu  grauen, 
Und  es  rauschte  hier  und  rauschte  dorten. 

"Ist  es  ihre  Türe?    Wärs  die  meine!" 
Daß  ich,  aufgestemmt  in  meinem  Bette, 
Schaute  nach  der  halb  erhellten  Türe, 
Ob  sie  nicht  sich  wohl  bewegen  möchte. 
Angelehnet  blieben  beide  Flügel 
Auf  den  leisen  Angeln  ruhig  hangen. 

Und  der  Tag  ward  immer  hell-  und  heller; 
Hört  ich  schon  des  Nachbars  Türe  gehen, 
Der  das  Taglohn  zu  gewinnen  eilet, 
Hört  ich  bald  darauf  die  Wagen  rasseln, 
War  das  Tor  der  Stadt  nun  auch  eröffnet, 
Und  es  regte  sich  der  ganze  Plunder 
Des  bewegten  Marktes  durcheinander. 

Ward  nun  in  dem  Haus  ein  Gehn  und  Kommen 
Auf  und  ab  die  Stiegen,  hin  imd  wieder 
Knarrten  Türen,  klapperten  die  Tritte; 
Und  ich  konnte,  wie  vom  schönen  Leben, 
Mich  noch  nicht  von  meiner  Hoffnung  scheiden, 

Endlich,  als  die  ganz  verhaßte  Sonne 
Meine  Fenster  traf  und  meine  Wände, 
Sprang  ich  auf  imd  eilte  nach  dem  Garten, 
Meinen  heißen,  sehnsuchtsvollen  Atem 
Mit  der  kühlen  Morgenluft  zu  mischen. 
Dir  vielleicht  im  Garten  zu  begegnen: 
Und  nun  bist  du  weder  in  der  Laube 
Noch  im  hohen  Lindengang  zu  finden. 


i 


1788/93  WEIMAR  281 

FRECH  UND  FROH 

LIEBESQUAL  verschmäht  mein  Herz, 
Sanften  Jammer,  süßen  Schmerz; 
Nur  vom  Tüchtgen  will  ich  wissen, 
Heißem  Äugeln,  derben  Küssen. 
Sei  ein  armer  Hund  erfrischt 
Von  der  Lust,  mit  Pein  gemischt! 
Mädchen,  gib  der  frischen  Brust 
Nichts  von  Pein  und  alle  Lust! 

[Römische  Elegien] 

SAGET,  Steine,  mir  an,  o  sprecht,  ihr  hohen  Paläste! 
Straßen,  redet  ein  Wort!  Genius,  regst  du  dich  nicht? 
Ja,  es  ist  alles  beseelt  in  deinen  heiligen  Mauern, 

Ewige  Roma;  nur  mir  schweiget  noch  alles  so  still. 
O  wer  flüstert  mir  zu,  an  welchem  Fenster  erblick  ich 

Einst  das  holde  Geschöpf,  das  mich  versengend  erquickt: 
Ahn  ich  die  Wege  noch  nicht,  durch  die  ich  immer  und 

immer. 

Zu  ihr  und  von  ihr  zu  gehn,  opfre  die  köstliche  Zeit? 

Noch  betracht  ich  Kirch  und  Palast,  Ruinen  und  Säulen, 

Wie  ein  bedächtiger  Mann  schickHch  die  Reise  benutzt. 

Doch  bald  ist  es  vorbei;  dann  wird  ein  einziger  Tempel, 

Amors  Tempel,  nur  sein,  der  den  Geweihten  empfängt. 

Eine  Welt  zwar  bist  du,  o  Rom;  doch  ohne  die  Liebe 

Wäre  die  Welt  nicht  die  Welt,  wäre  denn  Rom  auch 

nicht  Rom. 

EHRET,  wen  ihr  auch  wollt!  Nun  bin  ich  endlich  ge- 
borgen! 
Schöne  Damen  imd  ihr,  Herren  der  feineren  Welt, 
Fraget  nach  Oheim  und  Vetter  vmd  alten  Muhmen  und 

Tanten, 
Und  dem  gebundnen  Gespräch  folge  das  traimge  Spiel. 
Auch  ihr  Übrigen  fahret  mir  wohl,  in  großen  imd  kleinen 
Zirkeln,  die  ihr  mich  oft  nah  der  Verzweiflung  gebracht. 
Wiederholet,  politisch  und  zwecklos,  jegliche  Meinung, 
Die  den  Wandrer  mit  Wut  über  Europa  verfolgt. 


282  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

So  verfolgte  das  Liedchen  ^^Malbrough"  den  reisenden 

Briten 

Einst  von  Paris  nach  Li  vorn,  dann  von  Livomo  nach 

Rom, 
Weiter  nach  Napel  hinunter;   und  war  er  nach  Smyrna 

gesegelt, 

Malbrough!  empfing  ihn  auch  dort!  Malbrough!  im  Hafen 

das  Lied. 
Und  so  mußt  ich  bis  jetzt  auf  allen  Tritten  und  Schritten 

Schelten  hören  das  Volk,  schelten  der  Könige  Rat. 
Nun  entdeckt  ihr  mich  nicht  so  bald  in  meinem  Asyle, 

Das  mir  Amor  der  Fürst,  königlich  schützend,  verlieh. 
Hier  bedecket  er  mich  mit  seinem  Fittich;  die  Liebste 

Fürchtet,  römisch  gesinnt,  wütende  Gallier  nicht; 
Sie  erkundigt  sich  nie  nach  neuer  Märe,  sie  spähet 

Sorglich  den  Wünschen  des  Manns,  dem  sie  sich  eig- 
nete, nach. 
Sie  ergötzt  sich  an  ihm,  dem  freien,  rüstigen  Fremden, 

Der  von  Bergen  und  Schnee,  hölzernen  Häusern  erzählt; 
Teilt  die  Flammen,  die  sie  in  seinem  Busen  entzündet, 

Freut  sich,  daß  er  das  Gold  nicht  wie  der  Römer  bedenkt. 
Besser  ist  ihr  Tisch  nun  bestellt;  es  fehlet  an  Kleidern, 

Fehlet  am  Wagen  ihr  nicht,  der  nach  der  Oper  sie  bringt. 
Mutter  und  Tochter  erfreun  sich  ihres  nordischen  Gastes, 

Und  der  Barbare  beherrscht  römischen  Busen  und  Leib. 

LASS  dich,  Geliebte,  nicht  reun,  daß  du  mir  so  schnell 
dich  ergeben! 
Glaub  es,  ich  denke  nicht  frech,  denke  nicht  niedrig 

von  dir. 
Vielfach  wirken  die  Pfeile  des  Amor:  einige  ritzen. 

Und  vom  schleichenden  Gift  kranket  auf  Jahre  das  Herz. 
Aber  mächtig  befiedert,  mit  frisch  geschliffener  Schärfe 

Dringen  die  andern  ins  Mark,  zünden  behende  das  Blut. 
In  der  heroischen  Zeit,  da  Götter  und  Göttinnen  liebten, 
Folgte  Begierde  dem  BHck,  folgte  Genuß  der  Begier. 
Glaubst  du,  es  habe  sich  lange  die  Göttin  der  Liebe  be- 
sonnen. 
Als  im  Idäischen  Hain  einst  ihr  Anchises  gefiel? 


1788/93  WEIMAR  283 

Hätte  Luna  gesäumt,  den  schönen  Schläfer  zu  küssen, 

O,  so  hätt  ihn  geschwind,  neidend,  Aurora  geweckt. 
Hero  erblickte  Leandern  am  lauten  Fest,  und  behende 

Stürzte  der  Liebende  sich  heiß  in  die  nächtliche  Flut. 
Rhea  Sylvia  wandelt,  die  fürstliche  Jungfrau,  der  Tiber 

Wasser  zu  schöpfen,  hinab,  und  sie  ergreifet  der  Gott. 
So  erzeugte  die  Söhne  sich  Mars!— Die  Zwillinge  tränket 

Eine  Wölfin,  und  Rom  nennt  sich  die  Fürstin  der  Welt. 


FROMM  sind  wir  Liebende,  still  verehren  wir  alle  Dä- 
monen, 

Wünschen  uns  jeglichen  Gott,  jegliche  Göttin  geneigt. 
Und  so  gleichen  wir  euch,  o  römische  Sieger!  Den  Göttern 

Aller  Völker  der  Welt  bietet  ihr  Wohnungen  an, 
Habe  sie  schwarz  imd  streng  aus  altem  Basalt  der  Ägypter, 

Oder  ein  Grieche  sie  weiß,  reizend,  aus  Marmor  geformt. 
Doch  verdrießet  es  nicht  die  Ewigen,  wenn  wir  besonders 

Weihrauch  köstlicher  Art  Einer  der  Göttlichen  streun. 
Ja,  wir  bekennen  euch  gern:  es  bleiben  imsre  Gebete, 

Unser  täglicher  Dienst  Einer  besonders  geweiht. 
Schalkhaft,  munter  und  ernst  begehen  wir  heimliche  Feste, 

Und  das  Schweigen  geziemt  allen  Geweihten  genau. 
Eh  an  die  Ferse  lockten  wir  selbst  durch  gräßliche  Taten 

Uns  die  Erinnyen  her,  wagten  es  eher,  des  Zeus 
Hartes  Gericht  am  rollenden  Rad  und  am  Felsen  zu  dulden. 

Als  dem  reizenden  Dienst  unser  Gemüt  zu  entziehn. 
Diese  Göttin,  sie  heißt  Gelegenheit^  lernet  sie  kennen! 

Sie  erscheinet  euch  oft,  immer  in  andrer  Gestalt. 
Tochter  des  Proteus  möchte  sie  sein,  mit  Thetis  gezeuget, 

Deren  verwandelte  List  manchen  Heroen  betrog. 
So  betriegt  mm  die  Tochter  den  Unerfahrnen,  den  Blöden: 

Schlummernde  necket  sie  stets.  Wachende  fliegt  sie 

vorbei; 
Gern  ergibt  sie  sich  nur  dem  raschen,  tätigen  Manne, 

Dieser  findet  sie  zahm,  spielend  und  zärtlich  und  hold. 
Einst  erschien  sie  auch  mir,  ein  bräimliches  Mädchen,  die 

Haare 


284  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Kurze  Locken  ringelten  sich  ums  zierliche  Hälschen, 
Ungeflochtenes  Haar  krauste  vom  Scheitel  sich  auf. 

Und  ich  verkannte  sie  nicht,  ergrifif  die  Eilende,  lieblich 
Gab  sie  Umarmung  und  Kuß  bald  mir  gelehrig  zurück. 

O  wie  war  ich  beglückt!— Doch  stille,  die  Zeit  ist  vorüber, 
Und  umwunden  bin  ich,  römische  Flechten,  von  euch. 


FROH  empfind  ich  mich  nun  auf  klassischem  Boden  be- 
geistert; 
Vor-  und  Mitwelt  spricht  lauter  und  reizender  mir. 
Hier  befolg  ich  den  Rat,  durchblättre  die  Werke  der  Alten 

Mit  geschäftiger  Hand,  täglich  mit  neuem  Genuß. 
Aber  die  Nächte  hindurch  hält  Amor  mich  anders  be- 
schäftigt; 
Werd  ich  auch  halb  nur  gelehrt,  bin  ich  doch  doppelt 

beglückt. 
Und  belehr  ich  mich  nicht,  indem  ich  des  lieblichen  Busens 

Formen  spähe,  die  Hand  leite  die  Hüften  hinab? 
Dann  versteh  ich  den  Marmor  erst  recht;  ich  denk  und 

vergleiche. 
Sehe  mit  fühlendem  Aug,  fühle  mit  sehender  Hand. 
Raubt  die  Liebste  denn  gleich  mir  einige  Stunden  des 

Tages, 
Gibt  sie  Stunden  der  Nacht  mir  zur  Entschädigung  hin. 
Wird  doch  nicht  immer  geküßt,  es  wird  vernünftig  ge- 
sprochen; 
Überfällt  sie  der  Schlaf,  lieg  ich  und  denke  mir  viel. 
Oftmals  hab  ich  auch  schon  in  ihren  Armen  gedichtet 

Und  des  Hexameters  Maß  leise  mit  fingernder  Hand 
Ihr  auf  den  Rücken  gezählt.    Sie  atmet  in  heblichem 

Schlummer, 
Und  es  durchglühet  ihr  Hauch  mir  bis  ins  Tiefste  die 

Brust. 
Amor  schüret  die  Lamp  indes  und  denket  der  Zeiten, 
Da  er  den  nämlichen  Dienst  seinen  Triumvirn  getan. 


1788/93  WEIMAR  285 

KANNST  du,  o  Grausamer!  mich  in  solchen  Worten 
betrüben? 
Reden  so  bitter  und  hart  liebende  Männer  bei  euch? 
Wenn  das  Volk  mich  verklagt,  ich  muß  es  dulden!  und 

bin  ich 
Etwa  nicht  schuldig?   Doch  ach!  schuldig  nur  bin  ich 

mit  dir! 

Diese  Kleider,  sie  sind  der  neidischen  Nachbarin  Zeugen, 

Daß  die  Witwe  nicht  mehr  einsam  den  Gatten  beweint. 

Bist  du  ohne  Bedacht  nicht  oft  bei  Mondschein  gekommen, 

Grau,  im  dunkeln  Surtout,  hinten  genmdet  das  Haar? 

Hast  du  dir  scherzend  nicht  selbst  die  geistliche  Maske 

gewählet? 
Solls  ein  Prälate  denn  sein!  gut,  der  Prälate  bist  du. 
In  dem  geistlichen  Rom,  kaum  scheint  es  zu  glauben, 

doch  schwör  ich: 
Nie  hat  ein  Geistlicher  sich  meiner  Umarmung  gefreut. 
Arm  war  ich  leider!  und  jung,  und  wohlbekannt  den  Ver- 
führern; 
Falconieri  hat  mir  oft  in  die  Augen  gegafft. 
Und  ein  Kuppler  Albanis  mich,  mit  gewichtigen  Zetteln, 
Bald  nach  Ostia,  bald  nach  den  vier  Bnmnen  gelockt. 
Aber  wer  nicht  kam,  war  das  Mädchen.    So  hab  ich  von 

Herzen 

Rotstrumpf  immer  gehaßt  und  Violettstrumpf  dazu. 

Denn  "ihr  Mädchen  bleibt  am  Ende  doch  die  Betrognen," 

Sagte  der  Vater,  wenn  auch  leichter  die  Mutter  es  nahm. 

Und  so  bin  ich  denn  auch  am  Ende  betrogen!   Du  zürnest 

Nvu"  zum  Scheine  mit  mir,  ,weil  du  zu  fliehen  gedenkst. 

Geh!    Ihr  seid  der  Frauen  nicht  wert!    Wir  tragen  die 

Kinder 
Unter  dem  Herzen,   und  so  tragen  die  Treue  wir  auch; 
Aber  ihr  Männer,  ihr  schüttet  mit  eurer  Kraft  und  Begierde 

Auch  die  Liebe  zugleich  in  den  Umarmungen  aus!" 
Also  sprach  die   Geliebte  und  nahm  den  Kleinen  vom 

Stuhle, 
Drückt'  ihn  küssend  ans  Herz,  Tränen  entquollen  dem 

BHck. 


2  86  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Und  wie  saß  ich  beschämt,  daß  Reden  feindlicher 

Menschen 
Dieses  liebliche  Bild  mir  zu  beflecken  vermocht! 
Dunkel  brennt  das  Feuer  nur  augenblicklich  und  dampfet, 
Wenn  das  Wasser  die  Glut  stürzend  und  jählings  ver- 
hüllt; 
Aber    sie  reinigt  sich  schnell,  verjagt  die  trübenden 

Dämpfe, 
Neuer  und  mächtiger  dringt  leuchtende  Flamme  hinauf. 


Owie  fiihl  ich  in  Rom  mich  so  froh!  gedenk  ich  der 
Zeiten, 
Da  mich  ein  graulicher  Tag  hinten  im  Norden  umfing, 
Trübe  der  Himmel  und  schwer  auf  meine  Scheitel  sich 

senkte. 
Färb-  und  gestaltlos  die  Welt  lun  den  Ermatteten  lag. 
Und  ich  über  mein  Ich,  des  unbefriedigten  Geistes 

Düstre  Wege  zu  spähn,  still  in  Betrachtung  versank. 
Nun  umleuchtet  der  Glanz  des  helleren  Äthers  die  Stirne; 

Phöbus  rufet,  der  Gott,  Formen  und  Farben  hervor. 
Sternhell  glänzet  die  Nacht,  sie  klingt  von  weichen  Ge- 
sängen, 
Und  mir  leuchtet  der  Mond  heller  als  nordischer  Tag. 
Welche   Seligkeit   ward   mir  Sterblichem!    Träiun   ich.' 

Empfanget 
Dein  ambrosisches  Haus,  Jupiter  Vater,  den  Gast.^ 
Ach!  hier  lieg  ich  imd  strecke  nach  deinen  Knieen  die 

Hände 
Flehend  aus.    O  vernimm,  Jupiter  Xenius,  mich! 
Wie  ich  hereingekommen,  ich  kanns  nicht  sagen:  es  faßte 
Hebe  den  Wandrer  und  zog  mich  in  die  Hallen  heran. 
Hast  du  ihr  einen  Heroen  herauf  zu  führen  geboten? 

Irrte  die  Schöne.^  Vergib!  Laß  mir  des  Irrtums  Gewinn! 

Deine  Tochter  Fortuna,  sie  auch!  Die  herrlichsten  Gaben 

Teilt  als  ein  Mädchen  sie  aus,  wie  es  die  Laune  gebeut. 

Bist  du  der  wirtliche  Gott?  O  dann  so  verstoße  den  Gast- 

freimd 
Nicht  von  deinem  Olymp  wieder  zur  Erde  hinab! 


1788/93  WEIMAR  287 

"Dichter!  wohin  versteigest  du  dich?"— Vergib  mir;  der 

hohe 

Kapitolinische  Berg  ist  dir  ein  zweiter  Olymp. 
Dulde  mich,  Jupiter,  hier,  und  Hermes  führe  mich  später, 

Cestius'  Mal  vorbei,  leise  zum  Orkus  hinab. 

WENN  du  mir  sagst,  du  habest  als  Kind,  Geliebte, 
den  Menschen 
Nicht  gefallen,  und  dich  habe  die  Mutter  verschmäht. 
Bis  du  größer  geworden  und  still  dich  entwickelt,  ich 

glaub  es: 
Gerne  denk  ich  mir  dich  als  ein  besonderes  Kind. 
Fehlet  Bildung  und  Farbe  doch  auch  der  Blüte  des  Wein- 

stocks, 
Wenn  die  Beere,  gereift,  Menschen  und  Götter  entzückt. 

HERBSTLICH  leuchtet  die  Flamme  vom  ländlich  ge- 
selligen Herde, 
Knistert  und  glänzet,  wie  rasch!  sausend  vom  Reisig 

empor. 
Diesen  Abend  erfreut  sie  mich  mehr;  denn  eh  noch  zur 

Kohle 
Sich  das  Bündel  verzehrt,  unter  die  Asche  sich  neigt. 
Kommt  mein  liebliches  Mädchen.   Dann  flammen  Reisig 

und  Scheite, 

Und  die  erwärmete  Nacht  wird  uns  ein  glänzendes  Fest. 

Morgen  frühe  geschäftig  verläßt  sie  das  Lager  der  Liebe, 

Weckt  aus  der  Asche  behend  Flammen  aufs  neue  hervor. 

Denn  vor  andern  verlieh  der  Schmeichlerin  Amor  die  Gabe, 

Freude  zu  wecken,  die  kaum  still  wie  zu  Asche  versank. 

ALEXANDER  und  Cäsar  und  Heinrich  und  Friedrich, 
die  Großen, 
Gäben  die  Hälfte  mir  gern  ihres  erworbenen  Ruhms, 
Könnt  ich  aiif  Eine  Nacht  dies  Lager  jedem  vergönnen; 

Aber  die  armen,  sie  hält  strenge  des  Orkus  Gewalt. 

Freue  dich  also,  Lebendger,  der  lieberwärmeten  Stätte, 

Ehe  den  fliehenden  Fuß  schauerlich  Lethe  dir  netzt. 


2  88  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

EUCH,  o  Grazien,  legt  die  wenigen  Blätter  ein  Dichter 
Auf  den  reinen  Altar,  Knospen  der  Rose  dazu. 
Und  er  tut  es  getrost.    Der  Künstler  freuet  sich  seiner 

Werkstatt,  wenn  sie  um  ihn  immer  ein  Pantheon  scheint. 
Jupiter  senket  die  göttliche  Stirn,  und  Juno  erhebt  sie; 

Phöbus  schreitet  hervor,  schüttelt  das  lockige  Haupt; 

Trocken  schauet  Minerva  herab,  und  Hermes,  der  leichte, 

Wendet  zur  Seite  den  Blick,  schalkisch  und  zärtlich 

zugleich. 
Aber  nach  Bacchus,  dem  weichen,  dem  träumenden,  hebet 

Cythere 
Blicke  der  süßen  Begier,  selbst  in  dem  Marmor  noch 

feucht. 
Seiner  Umarmung  gedenket  sie  gern  und  scheinet  zu  fragen: 
Sollte  der  herrliche  Sohn  uns  an  der  Seite  nicht  stehn? 

AMOR  bleibet  ein  Schalk,  und  wer  ihm  vertraut,  ist 
betrogen! 

Heuchelnd  kam  er  zu  mir:  "Diesmal  nur  traue  mir  noch. 
Redlich  mein  ichs  mit  dir:  du  hast  dein  Leben  und  Dichten, 

Dankbar  erkenn  ich  es  wohl,  meiner  Verehrimg  geweiht. 
Siehe,  dir  bin  ich  nun  gar  nach  Rom  gefolget;  ich  möchte 

Dir  im  fremden  Gebiet  gern  was  Gefälliges  tun. 
Jeder  Reisende  klagt,  er  finde  schlechte  Bewirtung; 

Welchen  Amor  empfiehlt,  köstlich  bewirtet  ist  er. 
Du  betrachtest  mit  Staunen  die  Trümmern  alter  Gebäude 

Und  durchwandelst  mit  Sinn  diesen  geheiligten  Raum. 
Du  verehrest  noch  mehr  die  werten  Reste  des  Bildens 

Einziger  Künstler,  die  stets  ich  in  der  Werkstatt  besucht. 
Diese  Gestalten,  ich  formte  sie  selbst!  Verzeih  mir,  ich 

prahle 

Diesmal  nicht;  du  gestehst,  was  ich  dir  sage,  sei  wahr. 
Ntm  du  mir  lässiger  dienst,  wo  sind  die  schönen  Gestalten, 

Wo  die  Farben,  der  Glanz  deiner  Erfindungen  hin.^ 
Denkst  du  nun  wieder  zu  bilden,  o  Freund?    Die  Schule 

der  Griechen 

Blieb  noch  ofi"en,  das  Tor  schlössen  die  Jahre  nicht  zu. 
Ich,  der  Lehrer,  bin  ewig  jung,  und  liebe  die  Jungen, 

Altklug  lieb  ich  dich  nicht!  Munter!  Begreife  mich  wohl! 


1788/93   VVEIMAR  289 

War  das  Antike  doch  neu,  da  jene  Glücklichen  lebten! 

Lebe  glücklich,  und  so  lebe  die  Vorzeit  in  dir! 
Stoff  zum  Liede,  wo  nimmst  du  ihn  her?   Ich  muß  dir  ihn 

geben, 
Und  den  höheren  Stil  lehret  die  Liebe  dich  nur." 
Also  sprach  der  Sophist.  Wer  widersprach  ihm?  und  leider 
Bin  ich  zu  folgen  gewöhnt,  wenn  der  Gebieter  befiehlt. — 
Nun,  verräterisch  hält  er  sein  Wort,  gibt  Stoff  zu  Gesängen, 
Ach!  und  raubt  mir  die  Zeit,  Kraft  und  Besinnung  zu- 
gleich; 
Blick  und  Händedruck,  und  Küsse,  gemütliche  Worte, 
Silben  köstlichen  Sinns  wechselt  ein  liebendes  Paar, 
Da  wird  Lispeln  Geschwätz,  wird  Stottern  liebliche  Rede: 

Solch  ein  Hymnus  verhallt  ohne  prosodisches  Maß. 
Dich,  Aurora,  wie  kannt  ich  dich  sonst  als  Freundin  der 

Musen! 
Hat,  Aurora,  dich  auch  Amor,  der  lose,  verführt? 
Du  erscheinest  mir  nun  als  seine  Freundin,  und  weckest 

Mich  an  seinem  Altar  wieder  zum  festlichen  Tag. 
Find  ich  die  Fülle  der  Locken  an  meinem  Busen!    Das 

Köpfchen 
Ruhet  und  drücket  den  Arm,  der  sich  dem  Halse  be- 
quemt. 
Welch  ein  freudig  Erwachen,  erhieltet  ihr,  ruhige  Stunden, 
Mir  das  Denkmal  der  Lust,  die  in  den  Schlaf  uns  ge- 
wiegt!— 
Sie  bewegt  sich  im  Schlummer  und  sinkt  auf  die  Breite 

des  Lagers, 
Weggewendet;  und  doch  läßt  sie  mir  Hand  noch  in  Hand. 
Herzliche  Liebe  verbindet  uns  stets  und  treues  Verlangen, 

Und  den  Wechsel  behielt  nur  die  Begierde  sich  vor. 
Einen  Druck  der  Hand,  ich  sehe  die  himmlischen  Augen 
Wieder  offen. — O  nein!  laßt  auf  der  Bildimg  mich  ruhn! 
Bleibt  geschlossen!  ihr  macht  mich  verwirrt  tmd  trunken, 

ihr  raubet 
Mir  den  stillen  Genuß  reiner  Betrachtung  zu  früh. 
Diese  Formen,  wie  groß!  wie  edel  gewendet  die  Glieder! 
Schlief  Ariadne  so  schön:  Theseus,  du  konntest  ent- 

fliehn? 

OOETHS  XIV  19. 


2  90  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Diesen  Lippen  ein  einziger  Kuß!  O  Theseus,nun  scheide! 
Blick  ihr  ins  Auge!  Sie  wacht! — Ewig  nun  hält  sie  dich 

fest. 

ZÜNDE  mir  Licht  an,  Knabe!— "Noch  ist  es   hell. 
Ihr  verzehret 
Öl  und  Docht  nur  umsonst.    Schließet  die  Läden  doch 

nicht! 
Hinter  die  Häuser  entwich,  nicht  hinter  den  Berg,  uns 

die  Sonne! 
Ein  halb  Stündchen  noch  währts  bis  zum  Geläute  der 

Nacht.  "- 
Unglückseliger!  geh  und  gehorch!    Mein  Mädchen  er- 
wart ich. 
Tröste  mich,  Lämpchen,  indes,  lieblicherBote  der  Nacht! 

CÄSARN  war  ich  wohl  nie  zu  fernen  Britannen  gefolget, 
Florus  hätte  mich  leicht  in  die  Popine  geschleppt! 
Denn  mir  bleiben  weit  mehr  die  Nebel  des   traurigen 

Nordens, 
Als  ein  geschäftiges  Volk  südlicher  Flöhe  verhaßt. 
Und  noch  schöner  von  heut  an  seid  mir  gegrüßet,  ihr 

Schenken, 
Osterien,  wie  euch  schicklich  der  Römer  benennt; 
Denn  ihr  zeigtet  mir  heute  die  Liebste,  begleitet  vom 

Oheim, 

Den  die  Gute  so  oft,  mich  zu  besitzen,  betriegt. 

Hier  stand  unser  Tisch,  den  Deutsche  vertraulich  umgaben; 

Drüben  suchte  das  Kind  neben  der  Mutter  den  Platz, 

Rückte  vielmals  die  Bank  und  wüßt  es  artig  zu  machen, 

Daß  ich  halb  ihr  Gesicht,  völlig  den  Nacken  gewann. 

Lauter  sprach  sie,  als  hier  die  Römerin  pfleget,  kredenzte. 

Blickte  gewendet  nach  mir,  goß  und  verfehlte  das  Glas. 

Wein  floß  über  den  Tisch,  und  sie,  mit  zierlichem  Finger, 

Zog  auf  dem  hölzernen  Blatt  Kreise  der  Feuchtigkeit  hin. 

Meinen  Namen  verschlang  sie  dem  ihrigen;  immer  begierig 

Schaut  ich  dem  Fingerchen  nach,  und  sie  bemerkte 

mich  wohl. 


1788/93  WEIMAR  291 

Endlich  zog  sie  behende  das  Zeichen  der  römischen  Fünfe 
Und  ein  Strichlein  davor.    Schnell,  und  sobald  ichs 

gesehn, 
Schlang  sie  Kreise  durch  Kreise,  die  Lettern  und  Zififem 

zu  löschen; 
Aber  die  köstliche  Vier  blieb  mir  ins  Auge  geprägt. 
Stumm  war  ich  sitzen  geblieben,  und  biß  die  glühende 

Lippe, 
Halb  aus  Schalkheit  und  Lust,  halb  aus  Begierde,  mir 

wund. 
Erst  noch  so  lange  bis  Nacht!  dann  noch  vier  Stunden 

zu  warten! 
Hohe  Sonne,  du  weilst,  und  du  beschauest  dein  Rom! 
Größeres  sähest  du  nichts  imd  wirst  nichts  Größeres 

sehen, 
Wie  es  dein  Priester  Horaz  in  der  Entzückung  versprach. 
Aber  heute  verweile  mir  nicht,  und  wende  die  Blicke 

Von  dem  Siebengebirg  früher  und  williger  ab! 
Einem  Dichter  zuliebe  verkürze  die  herrlichen  Stunden, 

Die  mit  begierigem  Blick  selig  der  Maler  genießt; 
Glühend  blicke  noch  schnell  zu  diesen  hohen  Fassaden, 

Kuppeln  und  Säulen  zuletzt  und  Obelisken  herauf; 
Stürze  dich  eilig  ins  Meer,  um  morgen  früher  zu  sehen, 

Was  Jahrhunderte  schon  göttliche  Lust  dir  gewährt: 

Diese  feuchten,  mit  Rohr  so  lange  bewachsnen  Gestade, 

Diese  mit  Bäumen  und  Busch  düster  beschatteten  Höhn. 

Wenig  Hütten  zeigten  sie  erst;  dann  sahst  du  auf  einmal 

Sie  vom  wimmelnden  Volk  glücklicher  Räuber  belebt. 

Alles  schleppten  sie  drauf  an  diese  Stätte  zusammen; 

Kaum  war  das  übrige  Rund  deiner  Betrachtung  noch 

wert. 
Sahst  eine  Welt  hier  entstehn,  sahst  dann  eine  Welt  hier 

in  Trümmern, 
Aus  den  Trümmern  aufs  neu  fast  eine  größere  Welt! 
Daß  ich  diese  noch  lange  von  dir  beleuchtet  erblicke. 

Spinne  die  Parze  mir  klug  langsam  den  Faden  herab. 
Aber  sie  eile  herbei,  die  schön  bezeichnete  Stunde! — 
Glücklich!  hör  ich  sie  schon?  Nein;  doch  ich  höre  schon 

Drei. 


292  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

So,  ihr  lieben  Musen,  betrogt  ihr  wieder  die  Länge 
Dieser  Weile,  die  mich  von  der  Gehebten  getrennt. 

Lebet  wohl!    Nun  eil  ich,  und  furcht  euch  nicht  zu  be- 

leidgen; 
Denn  ihr  Stolzen,  ihr  gebt  Amom  doch  immer  den  Rang. 


WARUM  bist  du,  Geliebter,  nicht  heute  zur  Vigne 
gekommen? 
Einsam,  wie  ich  versprach,  wartet  ich  oben  auf  dich." — 
Beste,  schon  war  ich  hinein;  da  sah  ich  zum  Glücke  den 

Oheim 
Neben  den  Stöcken,  bemüht,  hin  sich  tmd  her  sich  zu 

drehn. 
Schleichend  eilt  ich  hinaus! — "O  welch  ein  Irrtiun  ergriflf 

dich! 
Eine  Scheuche  nur  wars,  was  dich  vertrieb!  Die  Gestalt 
Flickten  wir  emsig  zusammen  aus  alten  Kleidern  und 

Rohren; 
Emsig  half  ich  daran,  selbst  mir  zu  schaden  bemüht." — 
Nun,  des  Alten  Wunsch  ist  erfüllt;  den  losesten  Vogel 
Scheucht'  er  heute,  der  ihm  Gärtchen  und  Nichte  be- 
stiehlt. 


MANCHE  Töne  sind  mir  Verdruß,  doch  bleibet  am 
meisten 
Hundegebell  mir  verhaßt;  kläffend  zerreißt  es  mein  Ohr. 
Einen  Hund  nur  hör  ich  sehr  oft  mit  frohem  Behagen 

Bellend  kläfifen,  den  Hund,  den  sich  der  Nachbar  erzog. 
Denn  er  bellte  mir  einst  mein  Mädchen  an,  da  sie  sich 

heimlich 
Zu  mir  stahl,  und  verriet  unser  Geheimnis  beinah. 
Jetzo,  hör  ich  ihn  bellen,  so  denk  ich  mir  immer:  sie 

kommt  wohl! 
Oder  ich  denke  der  Zeit,  da  die  Erwartete  kam. 


1788/93  WEIMAR  293 

EINES  ist  mir  verdrießlieb  vor  allen  Dingen,  ein  andres 
Bleibt  mir  abscheulich,  empört  jegliche  Faser  in  mir, 
Nur  der  bloße  Gedanke.    Ich  will  es  euch,  Freunde,  ge- 
stehen: 

Gar  verdrießlich  ist  mir  einsam  das  Lager  zu  Nacht. 
Aber  ganz  abscheulich  ists,  auf  dem  Wege  der  Liebe 

Schlangen  zu  fürchten,  und  Gift  unter  den  Rosen  der 

Lust, 
Wenn  im  schönsten  Moment  der  hin  sich  gebenden  Freude 

Deinem  sinkenden  Haupt  lispelnde  Sorge  sich  naht. 
Darum  macht  Faustine  mein  Glück;  sie  teilet  das  Lager 

Gerne  mit  mir,  und  bewahrt  Treue  dem  Treuen  genau. 
Reizendes  Hindernis  will  die  rasche  Jugend;  ich  liebe. 

Mich  des  versicherten  Guts  lange  bequem  zu  erfreun. 
Welche  Seligkeit  ists!  wir  wechseln  sichere  Küsse, 

Atem  und  Leben  getrost  saugen  und  flößen  wir  ein. 
So  erfreuen  wir  uns  der  langen  Nächte,  wir  lauschen, 

Busen  an  Busen  gedrängt,  Stürmen  und  Regen  imd  Guß. 
Und  so  dämmert  der  Morgen  heran;  es  bringen  die  Stunden 

Neue  Blumen  herbei,  schmücken  uns  festlich  den  Tag. 
Gönnet  mir,  o  Quiriten!  das  Glück,  und  jedem  gewähre 

Aller  Güter  der  Welt  erstes  und  letztes  der  Gott! 


ZIERET  Stärke  den  Mann  und  freies  rautiges  Wesen, 
O!  so  ziemet  ihm  fast  tiefes  Geheimnis  noch  mehr. 
Städtebezwingerin  du,  Verschwiegenheit!    Fürstin  der 

Völker! 
Teure  Göttin,  die  mich  sicher  durchs  Leben  geführt, 
Welches  Schicksal  erfahr  ich!  Es  löset  scherzend  die  Muse, 
Amor  löset,  der  Schalk,  mir  den  verschlossenen  Mund. 
Ach,  schon  wird  es  so  schwer,  der  Könige  Schande  ver- 
bergen! 
Weder  die  Krone  bedeckt,  weder  ein  phrygischer  Bund 
Midas'  verlängertes  Ohr;  der  nächste  Diener  entdeckt  es. 
Und  ihm  ängstet  und  drückt  gleich  das  Geheimnis  die 

Brust. 
In  die  Erde  vergrub  er  es  gern,  um  sich  zu  erleichtern: 
Doch  die  Erde  verwahrt  solche  Geheimnisse  nicht; 


294  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Rohre  sprießen  hervor  und  rauschen  und  lispeln  im  Winde: 

Midas!  Midas,  der  Fürst,  trägt  ein  verlängertes  Ohr! 
Schwerer  wird  es  nun  mir,  ein  schönes  Geheimnis  zu 

wahren; 
Ach,  den  Lippen  entquillt  Fülle  des  Herzens  so  leicht! 
Keiner  Freundin  darf  ichs  vertraun:  sie  möchte  mich 

schelten; 
Keinem  Freunde:  vielleicht  brächte  der  Freund  mir 

Gefahr. 
Mein  Entzücken  dem  Hain,  dem  schallenden  Felsen  zu 

sagen, 
Bin  ich  endlich  nicht  jung,  bin  ich  nicht  einsam  genug. 
Dir,  Hexameter,  dir,  Pentameter,  sei  es  vertrauet, 

Wie  sie  des  Tags  mich  erfreut,  wie  sie  des  Nachts  mich 

beglückt. 

Sie,  von  vielen  Männern  gesucht,  vermeidet  die  Schhngen, 

Die  ihr  der  Kühnere  frech,  heimlich  der  Listige  legt; 

Klug  und  zierlich  schlüpft  sie  vorbei  und  kennet  die  Wege, 

Wo  sie  der  Liebste  gewiß  lauschend  begierig  empfängt. 

Zaudre,  Luna,  sie  kommt!  damit  sie  der  Nachbar  nicht  sehe; 

Rausche,  Lüftchen,  im  Laub!  niemand  vernehme  den 

Tritt. 
Und  ihr,  wachset  und  blüht,  geliebte  Lieder,  und  wieget 

Euch  im  leisesten  Hauch  lauer  und  liebender  Luft, 

Und  entdeckt  den  Quiriten,  wie  jene  Rohre  geschwätzig. 

Eines  glücklichen  Paars  schönes  Geheimnis  zuletzt. 


SÜSSE  SORGEN 

WEICHET,  Sorgen,  von  mir!— Doch  ach!  den  sterb- 
lichen Menschen 
Lässet  die  Sorge  nicht  los,  eh  ihn  das  Leben  verläßt. 
Soll  es  einmal  denn  sein,  so  kommt,  ihr  Sorgen  der  Liebe, 
Treibt  die  Geschwister  hinaus,  nehmt  und  behauptet 

mein  Herz! 


1788/93  WEIMAR  295 

KLEIN  ist  unter  den  Fürsten  Germaniens  freilich  der 
meine; 
Kurz  vind  schmal  ist  sein  Land,  mäßig  nur,  was  er  vermag. 
A.ber  so  wende  nach  innen,  so  wende  nach  außen  die  Kräfte 
Jeder,  da  wärs  ein  Fest,  Deutscher  mit  Deutschen  zu 

sein. 
Doch  was  priesest  du  Ihn,  den  Taten  und  Werke  verkünden? 

Und  bestochen  erschien'  deine  Verehrung  vielleicht; 
Denn  mir  hat  er  gegeben,  was  Große  selten  gewähren, 

Neigung,  Muße,  Vertraun,  Felder  und  Garten  und  Haus. 
Niemand  braucht  ich  zu  danken  als  Ihm,  und  manches 

bedurft  ich. 
Der  ich  mich  auf  den  Erwerb  schlecht,  als  ein  Dichter, 

verstand. 
Hat  mich  Europa  gelobt,  was  hat  mir  Europa  gegeben.^ 

Nichts!  Ich  habe,  wie  schwer!  meine  Gedichte  bezahlt. 
Deutschland  ahmte  mich  nach,  und  Frankreich  mochte 

mich  lesen. 
England!  freundlich  empfingst  du  den  zerrütteten  Gast. 
Doch  was  fördert  es  mich,  daß  auch  sogar  der  Chinese 
"Malet,  mit  ängstlicher  Hand,  Werthem  und  Lotten  auf 

Glasr 
Niemals  frug  ein  Kaiser  nach  mir,  es  hat  sich  kein  König 
Um  mich  bekümmert,  und  Er  war  mir  August  und  Mäcen. 

ACH,  mein  Hals  ist  ein  wenig  geschwollen!  so  sagte 
die  Beste 
Ängstlich.— Stille,  mein  Kind!  still!  und  vernehme  das 

Wort: 
Dich  hat  die  Hand  der  Venus  berührt;  sie  deutet  dir  leise. 
Daß  sie  das  Körperchen  bald,  ach!  unaufhaltsam  ver- 
stellt. 
Bald  verdirbt  sie  die  schlanke  Gestalt,  die  zierlichen 

Brüstchen; 
Alles  schwillt  nun,  es  paßt  nirgends  das  neuste  Gewand, 
Sei  nur  ruhig!  es  deutet  die  fallende  Blüte  dem  Gärtner, 
Daß  die  liebliche  Frucht  schwellend  im  Herbste  gedeiht. 


296  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

ACH!  sie  neiget  das  Haupt,  die  holde  Knospe,  wer 
gießet 
Eilig  erquickendes  Naß  neben  die  Wurzel  ihr  hin? 
Daß  sie  froh  sich  entfalte,  die  schönen  Stunden  der  Blüte 
Nicht  zu  frühe  vergehn,  endlich  auch  reife  die  Frucht. 
Aber  auch  mir— mir  sinket  das  Haupt  von  Sorgen  und 

Mühe. 
Liebes  Mädchen!  Ein  Glas  schäumenden  Weines  herbei! 

[In  das  Schattenriß-Album  Johann  Friedrich  v.  Anthings] 

ES  mag  ganz  artig  sein,  wenn  Gleich'  und  Gleiche 
In  Proserpinens  Park  spazieren  gehn, 
Doch  besser  scheint  es  mir,  im  Schattenreiche 
Herrn  Anthings  sich  hier  oben  wiedersehn. 

WONNIGLICH  ists,  die  Geliebte  verlangend   im 
Arme  zu  halten. 
Wenn  ihr  klopfendes  Herz  Liebe  zuerst  dir  gesteht. 
Wonniglicher,  das  Pochen  des  Neulebendigen  fühlen, 
Das  in  dem  lieblichen  Schoß  immer  sich  nährend  be- 
wegt. 
Schon  versucht  es  die  Sprünge  der  raschen  Jugend;  es 

klopfet 
Ungeduldig  schon  an,  sehnt  sich  nach  himmhschem 

Licht. 
Harre  noch  wenige  Tage!    Auf  allen  Pfaden  des  Lebens 
Führen  die  Hören  dich  streng,  wie  es  das  Schicksal 

gebeut. 
Widerfahre  dir,  was  dir  auch  will,  du  wachsender  Liebling- 
Liebe  bildete  dich;  werde  dir  Liebe  zuteil! 

[Römische  Elegie] 

SCHWER  erhalten  wir  uns  den   guten  Namen,   denn 
Fama 
Steht  mit  Amorn,  ich  weiß,  meinem  Gebieter,  in  Streit. 
Wißt  auch  ihr,  woher  es  entsprang,  daß  beide  sich  hassen: 
Alte  Geschichten  sind  das,  und  ich  erzähle  sie  wohl. 


1788/93   WEIMAR  297 

Immer  die  mächtige  Göttin,  doch  war  sie  für  die  Gesell- 
schaft 
Unerträglich,  denn  gern  führt  sie  das  herrschende  Wort; 
Und  so  war  sie  von  je,  bei  allen  Göttergelagen, 

Mit  der  Stimme  von  Erz,  Großen  und  Kleinen  verhaßt, 
So  berühmte  sie  einst  sich  übermütig,  sie  habe 

Jovis  herrlichen  Sohn  ganz  sich  zum  Sklaven  gemacht. 
"Meinen  Herkules  führ  ich  dereinst,  o  Vater  der  Götter," 

Rief  triumphierend  sie  aus,  "wiedergeboren  dir  zu. 
Herkules  ist  es  nicht  mehr,  den  dir  Alkmene  geboren; 
Seine  Verehrung  für  mich  macht  ihn  auf  Erden  zum 

Gott. 
Schaut  er  nach  dem  Olymp,  so  glaubst  du,  er  schaue 

nach  deinen 
Mächtigen  Knieen;  vergib!  nur  in  den  Äther  nach  mir 
Blickt  der  würdigste  Mann;  nur  mich  zu  verdienen,  durch- 
schreitet 
Leicht  sein  mächtiger  Fuß  Bahnen,  die  keiner  betrat; 
Aber  auch  ich  begegn  ihm  auf  seinen  Wegen,  und  preise 

Seinen  Namen  voraus,  eh  er  die  Tat  noch  beginnt. 
Mich  vermählst  du  ihm  einst:  der  Amazonen  Besieger 
Werd  auch  meiner,  und  ihn  nenn  ich  mit  Freuden  Ge- 
mahl!" 
Alles  schwieg;  sie  mochten  nicht  gern  die  Prahlerin  reizen: 
Denn  sie  denkt  sich,  erzürnt,  leicht  was  Gehässiges  aus. 
Amorn  bemerkte  sie  nicht:  er  schlich  beiseite;  den  Helden 
Bracht  er  mit  weniger  Kunst  unter  der  Schönsten  Gewalt. 
Nun  vermummt  er  sein  Paar:  ihr  hängt  er  die  Bürde  des 

Löwen 
Über  die  Schultern  und  lehnt  mühsam  die  Keule  dazu. 
Drauf  bespickt  er  mit  Blumen  des  Helden  sträubende 

Haare, 
Reichet  den  Rocken  der  Faust,  die  sich  dem  Scherze 

bequemt. 
So  vollendet  er  bald  die  neckische  Gnippe;  dann  läuft  er, 
'     Ruft  durch  den  ganzen  Olymp:  "Herrliche  Taten  ge- 

schehn! 
Nie  hat  Erd  und  Himmel,  die  unermüdete  Sonne 

Hat  auf  der  ewigen  Bahn  keines  der  Wunder  erblickt." 


2  98  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Alles  eilte;  sie  glaubten  dem  losen  Knaben,  denn  ernstlich 
Hatt  er  gesprochen;  und  auch  Fama,  sie  blieb  nicht 

zurück. 
Wer  sich  freute,  den  Mann  so  tief  erniedrigt  zu  sehen, 

Denkt  ihr!  Juno.  Es  galt  Amorn  ein  freundlich  Gesicht. 
Fama  daneben,  wie  stand  sie  beschämt,  verlegen,  ver- 
zweifelnd! 
Anfangs  lachte  sie  nur:  "Masken,  ihr  Götter,  sind  das! 
Meinen  Helden,  ich  kenn  ihn  zu  gut!    Es  haben  Tragöden 
Uns  zum  besten!"    Doch  bald  sah  sie  mit  Schmerzen, 

er  wars! — 
Nicht  den  tausendsten  Teil  verdroß   es  Vulkanen,  sein 

Weibchen 
Mit  dem  rüstigen  Freund  unter  den  Maschen  zu  sehn. 
Als  das  verständige  Netz  im  rechten  Moment  sie  umfaßte. 
Rasch  die  Verschlungnen  umschlang,  fest  die  Genie- 
ßenden hielt. 
Wie  sich  die  Jünglinge  freuten!  Merkur  und  Bacchus!  sie 

beide 
Mußten  gestehn:  es  sei,  über  dem  Busen  zu  ruhn 
Dieses  herrlichen  Weibes,  ein  schöner  Gedanke.  Sie  baten: 
Löse,  Vulkan,  sie  noch  nicht!    Laß  sie  noch  einmal 

besehn. 
Und  der  Alte  war  so  Hahnrei,  und  hielt  sie  nur  fester.— 

Aber  Fama,  sie  floh  rasch  und  voll  Grimmes  davon. 
Seit  der  Zeit  ist  zwischen  den  zweien  der  Fehde  nicht 

Stillstand; 
Wie  sie  sich  Helden  erwählt,  gleich  ist  der  Knabe 

darnach. 
Wer  sie  am  höchsten  verehrt,  den  weiß  er  am  besten  zu 

fassen, 
Und  den  Sittlichsten  greift  er  am  gefährlichsten  an. 
Will  ihm  einer  entgehn,  den  bringt  er  vom  SchHmmen 

ins  Schlimmste. 
Mädchen  bietet  er  an;  wer  sie  ihm  töricht  verschmäht, 
Muß  erst  grimmige  Pfeile  von  seinem  Bogen  erdulden; 

Mann  erhitzt  er  auf  Mann,  treibt  die  Begierden  aufs  Tier. 
Wer  sich  seiner  schämt,  der  muß  erst  leiden;  dem  Heuchler 
Streut  er  bittem  Genuß  unter  Verbrechen  und  Not. 


1788/93  WEIMAR  299 

Aber  auch  sie,  die  Göttin,  verfolgt  ihn  mit  Augen  und 

Ohren; 
Sieht  sie  ihn  einmal  bei  dir,  gleich  ist  sie  feindlich 

gesinnt, 
Schreckt  dich  mit  ernstem  Blick,  verachtenden  Mienen. 

tmd  heftig 
Strenge  verruft  sie  das  Haus,  das  er  gewöhnlich  be- 
sucht. 
Und  so  geht  es  auch  mir:  schon  leid  ich  ein  wenig;  die 

Göttin, 
Eifersüchtig,  sie  forscht  meinem  Geheimnisse  nach. 
Doch  es  ist  ein  altes  Gesetz:  ich  schweig  und  verehre; 
Denn  der  Könige  Zwist  büßten  die  Griechen,  wie  ich. 


OFT  erklärtet  ihr  euch  als  Freunde  des  Dichters,  ihr 
Götter! 
Gebt  ihm  auch,  was  er  bedarf!    Mäßiges  braucht  er, 

doch  viel: 
Erstlich  freundliche  Wohnung,  dann  leidlich  zu  essen,  zu 

trinken 
Gut;  der  Deutsche  versteht  sich  auf  den  Nektar,  wie  ihr. 
Dann  geziemende  Kleidung  und  Freunde,  vertraulich  zu 

schwatzen; 
Dann  ein  Liebchen  des  Nachts,  das  ihn  von  Herzen 

begehrt. 
Diese  fünf  natürlichen  Dinge  verlang  ich  vor  allem. 

Gebet  mir  ferner  dazu  Sprachen,  die  alten  und  neu'n. 
Daß  ich  der  Völker  Gewerb  und  ihre  Geschichten  ver- 
nehme; 
Gebt  mir  ein  reines  Gefühl,  was  sie  in  Künsten  getan. 
Ansehn  gebt  mir  im  Volke,  verschaflFt  bei  Mächtigen  Ein- 
fluß, 
Oder  was  sonst  noch  bequem  unter  den  Menschen  er- 
scheint. 
Gut— schon  dank  ich  euch,  Götter;  ihr  habt  den  glück- 
lichsten Menschen 
Ehstens  fertig:  denn  ihr  gönntet  das  meiste  mir  schon. 


300  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

[Römische  Elegie] 

HÖREST  du,  Liebchen,  das  muntre  Geschrei  den  Fla- 
minischen Weg  her? 
Schnitter  sind  es;  sie  ziehn  wieder  nach  Hause  zurück, 
Weit  hinweg.    Sie  haben  des  Römers  Ernte  vollendet. 

Der  für  Ceres  den  Kranz  selber  zu  flechten  verschmäht. 
Keine  Feste  sind  mehr  der  großen  Göttin  gewidmet, 

Die,  statt  Eicheln,  zur  Kost  goldenen  Weizen  verlieh. 
Laß  uns  beide  das  Fest  im  stillen  freudig  begehen! 

Sind  zwei  Liebende  doch  sich  ein  versammeltes  Volk. 
Hast  du  wohl  je  gehört  von  jener  mystischen  Feier, 
Die  von  Eleusis  hieher  frühe  dem  Sieger  gefolgt? 
Griechen  stifteten  sie,  und  immer  riefen  nur  Griechen, 
Selbst  in  den  Mauern  Roms:  "Kommt  zur  geheiligten 

Nacht!" 
Fern  entwich  der  Profane;  da  bebte  der  wartende  Neu- 
ling, 
Den  ein  weißes  Gewand,  Zeichen  der  Reinheit,  umgab. 
Wunderlich  irrte  darauf  der  Eingeführte  durch  Kreise 
Seltner  Gestalten;  im  Traum  schien  er  zu  wallen:  denn 

hier 
Wanden  sich  Schlangen  am  Boden  umher,  verschlossene 

Kästchen, 
Reich  mit  Ähren  umkränzt,  trugen  hier  Mädchen  vorbei, 
Vielbedeutend  gebärdeten  sich  die  Priester  und  summten; 

Ungeduldig  und  bang  harrte  der  Lehrling  auf  Licht. 
Erst  nach  mancherlei  Proben  und  Prüfungen  ward  ihm 

enthüllet, 
Was  der  geheiligte  Kreis  seltsam  in  Bildern  verbarg. 
Und  was  war  das  Geheimnis!  als  daß  Demeter,  die  große, 

Sich  gefällig  einmal  auch  einem  Helden  bequemt. 
Als  sie  Jasion  einst,  dem  rüstigen  König  der  Kreter, 

Ihres  unsterbhchen  Leibs  holdes  Verborgne  gegönnt. 
Da  war  Kreta  beglückt!  das  Hochzeitbette  der  Göttin 
Schwoll  von  Ähren,  und  reich  drückte  den  Acker  die 

Saat. 
Aber  die  übrige  Welt  verschmachtete;  denn  es  versäumte 
Über  der  I^iebe  Genuß  Ceres  den  schönen  Beruf. 


1788/93  WEIMAR  301 

Voll  Erstaunen  vernahm  der  Eingeweihte  das  Märchen, 
Winkte  der  Liebsten— Verstehst  du  nun,  Geliebte,  den 

Winkr 

Jene  buschige  Myrte  beschattet  ein  heiliges  Plätzchen! 
Unsre  Zufriedenheit  bringt  keine  Gefährde  der  Welt. 


KAUM  an  dem  blaueren  Himmel  erblickt  ich  die 
glänzende  Sonne, 
Reich,  vom  Felsen  herab,  Efeu  zu  Kränzen  geschmückt, 
Sah  den  emsigen  Winzer  die  Rebe  der  Pappel  verbinden, 

Über  die  Wiege  Virgils  kam  mir  ein  laulicher  Wind: 
Da  gesellten  die  Musen  sich  gleich  zum  Freunde;   wir 

pflogen 
Abgerißnes  Gespräch,  wie  es  den  Wanderer  freut. 


IMMER  halt  ich  die  Liebste  begierig  im  Arme  geschlossen. 
Immer  drängt  sich  mein  Herz  fest  an  den  Busen  ihr  an. 
Immer  lehnet  mein  Haupt  an  ihren  Knieen,  ich  blicke 

Nach  dem  lieblichen  Mvmd,  ihr  nach  den  Augen  hinauf. 
"Weichling!"  schölte  mich  einer,  ''und  so  verbringst  du 

die  Tager" 
Ach,  ich  verbringe  sie  schlimm!    Höre  ntu:,  wie  mir 

geschieht: 
Leider  wend  ich  den  Rücken  der  einzigen  Freude  des 

Lebens; 
Schon  den  zwanzigsten  Tag  schleppt  mich  der  Wagen 

dahin. 
Vetturine  trotzen  mir  nun,  es  schmeichelt  der  Kämmrer, 
Und  der  Bediente  vom  Platz  sinnet  auf  Lügen  und  Trug. 
Will  ich  ihnen  entgehn,  so  faßt  mich  der  Meister  der 

Posten, 
Postillone  sind  Herrn,  dann  die  Dogane  dazu! 
"Ich  verstehe  dich  nicht!  du  widersprichst  dir!  du  schienest 

Paradiesisch  zu  ruhn,  ganz,  wie  Rinaldo,  beglückt." 
Ach!  ich  verstehe  mich  wohl:  es  ist  mein  Körper  auf  Reisen, 
Und  es  ruhet  mein  Geist  stets  der  Geliebten  im  Schoß. 


30  2  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

[Venezianische  Epigramme] 

SARKOPHAGEN  und  Urnen  verzierte  der  Heide  mit 
Leben: 
Faunen  tanzen  umher,  mit  der  Bacchantinnen  Chor 
Machen  sie  bimte  Reihe;  der  ziegengefüßete  Pausback 
Zwingt  den  heiseren  Ton  wild  aus  dem  schmetternden 

Hörn. 
Zimbeln,  Trommeln  erklingen;  wir  sehen  und  hören  den 

Marmor. 
Flatternde  Vögel!  wie  schmeckt  herrlich  dem  Schnabel 

die  Frucht! 
Euch  verscheuchet  kein  Lärm,  noch  weniger  scheucht  er 

den  Amor, 

Der  in  dem  bunten  Gewühl  erst  sich  der  Fackel  erfreut. 

So  überwältiget  Fülle  den  Tod;  und  die  Asche  da  drinnen 

Scheint,  im  stillen  Bezirk,  noch  sich  des  Lebens  zu  freun. 

So  umgebe  denn  spät  den  Sarkophagen  des  Dichters 

Diese  Rolle,  von  ihm  reichlich  mit  Leben  geschmückt. 

DAS  ist  Italien,  das  ich  verließ.    Noch  stäuben  die 
Wege, 
Noch  ist  der  Fremde  geprellt,  stell  er  sich,  wie  er  auch 

will. 
Deutsche  Redlichkeit  suchst  du  in  allen  Winkeln  ver- 
gebens: 
Leben  und  Weben  ist  hier,  aber  nicht  Ordnung  und 

Zucht; 
Jeder  sorgt  nur  fiir  sich,  mißtrauet  dem  andern,  ist  eitel, 
Und  die  Meister  des  Staats  sorgen  nur  wieder  für  sich. 
Schön  ist  das  Land;  doch  ach!  Faustinen  find  ich  nicht 

wieder. 
Das  ist  Italien  nicht  mehr,  das  ich  mit  Schmerzen  verließ. 

IN  der  Gondel  lag  ich  gestreckt  imd  fuhr  durch  die  Schiflfe, 
Die  in  dem  großen  Kanal,  viele  befrachtete,  stehn. 
Mancherlei  Ware  findest  du  da  für  manches  Bedürfnis, 
Weizen,  Wein  und  Gemüs,  Scheite,  wie  leichtes  Ge- 
sträuch. 


1788/93  WEIMAR  303 

Pfeilschnell  drangen  wir  durch;    da  traf  ein  verlorener 

Lorbeer 
Derb  mir  die  Wangen.    Ich  rief:  Daphne,  verletzest 

du  mich? 
Lohn  erwartet  ich  eher!    Die  Nymphe  lispelte  lächelnd: 
Dichter  sündgen  nicht  schwer.    Leicht  ist  die  Strafe. 

Nur  zu! 


SEH  ich  den  Pilgrim,  so  kann  ich  mich  nie  der  Tränen 
enthalten. 
O  wie  beseliget  uns  Menschen  ein  falscher  Begriflf! 

EINE  Liebe  hatt  ich,  sie  war  mir  lieber  als  alles! 
Aber  ich  hab  sie  nicht  mehr!    Schweig,  und  ertrag 

den  Verlust! 


DIESE  Gondel  vergleich  ich  der  sanft  einschaukelnden 
Wiege, 
Und  das  Kästchen  darauf  scheint  ein  geräumiger  Sarg. 
Recht  so!   Zwischen  der  Wieg  und  dem  Sarg  wir  schwan- 
ken und  schweben 
Auf  dem  großen  Kanal  sorglos  durchs  Leben  dahin. 

FEIERLICH   sehn  wir  neben  dem  Doge  den  Nuntius 
gehen; 
Sie  begraben  den  Herrn,  einer  versiegelt  den  Stein. 
Was  der  Doge  sich  denkt,  ich  weiß  es  nicht;  aber  der 

andre 
Lächelt  über  den  Ernst  dieses  Gepränges  gewiß. 

WARUM  treibt  sich  das  Volk  so,  und  schreit?   Es 
will  sich  ernähren, 
Kinder  zeugen,  und  die  nähren,  so  gut  es  vermag. 
Merke  dir,  Reisender,  das  und  tue  zu  Hause  desgleichen! 
Weiter  bringt  es  kein  Mensch,  stell  er  sich,  wie  er 

auch  will. 


so 4  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

WIE  sie  klingeln,  die  Pfaffen!    Wie  angelegen  sies 
machen, 
Daß  man  komme,  nur  ja  plappre,  wie  gestern  so  heut! 
Scheltet  mir  nicht  die  Pfaffen;  sie  kennen  des  Menschen 

Bedürfnis! 
Denn  wie  ist  er  beglückt,  plappert  er  morgen  wie  heut! 


MACHE  der  Schwärmer  sich  Schüler  wie  Sand  am 
Meere— der  Sand  ist 
Sand;  die  Perle  sei  mein,  du,  o  vernünftiger  Freund! 


SÜSS,  den  sprossenden  Klee  mit  weichlichen  Füßen  im 
Frühling 
Und  die  Wolle  des  Lamms  tasten  mit  zärtlicher  Hand; 
Süß,  voll  Blüten  zu  sehn  die  neulebendigen  Zweige, 

Dann  das  grünende  Laub  locken  mit  sehnendem  Blick. 
Aber  süßer,  mit  Blumen  dem  Busen  der  Schäferin 

schmeicheln; 
Und  dies  vielfache  Glück  läßt  mich  entbehren  der  Mai. 


WEIT  und  schön  ist  die  Welt!  doch  o  wie  dank  ich 
dem  Himmel, 
Daß  ein  Gärtchen,  beschränkt,  zierlich,  mir  eigen  gehört! 
Bringt  mich  wieder  nach  Hause!  Was  hat  ein  Gärtner  zu 

reisen? 
Ehre  bringts  ihm  imd  Glück,  wenn  er  sein  Gärtchen 

besorgt. 


DIESEM  Amboß  vergleich  ich  das  Land,  den  Hammei 
dem  Herrscher, 
Und  dem  Volke  das  Blech,  das  in  der  Mitte  sich  krümmt 
Wehe  dem  armen  Blech!  wenn  nur  willkürliche  Schläge 
Ungewiß  treffen,  und  nie  fertig  der  Kessel  erscheint. 


1788/93  WEIMAR  305 

SCHÜLER  macht  sich  der  Schwärmer  genug,  und  rühret 
die  Menge, 
Wenn  der  vernünftige  Mann  einzelne  Liebende  zählt. 
Wundertätige  Bilder  sind  meist  nur  schlechte  Gemälde: 
Werke  des  Geists  und  der  Kunst  sind  für  den  Pöbel 

nicht  da. 


M 


ACHE  zum  Herrscher  sich  der,  der  seinen  Vorteil 

verstehet: 
Doch  wir  wählten  uns  den,  der  sich  auf  unsem  versteht. 


N 


OT  lehrt  beten,  mansagts;  will  einer  es  lernen,  ergehe 
Nach  Italien!    Not  findet  der  Fremde  gewiß. 


WELCH  ein  heftig  Gedränge  nach  diesem  Laden! 
Wie  emsig 
Wägt  man,  empfängt  man  das  Geld,  reicht  man  die 

Ware  dahin! 
Schnupftabak  wird  hier  verkauft.    Das  heißt  sich  selber 

erkennen! 
Nieswurz  holt  sich  das  Volk,  ohne  Verordnung  und  Arzt. 

JEDER  Edle  Venedigs  kann  Doge  werden;  das  macht  ihn 
Gleich  als  Knaben  so  fein,  eigen,  bedächtig  und  stolz. 
Darum  sind  die  Oblaten  so  zart  im  katholischen  Welsch- 
land; 
Denn  aus  demselbigen  Teig  weihet  der  Priester  den 

Gott. 

RUHIG  am  Arsenal  stehn  zwei  altgriechische  Löwen; 
Klein  wird  neben  dem  Paar  Pforte,  wie  Turm  imd 

Kanal. 
Käme  die  Mutter  der  Götter  herab,  es  schmiegten  sieb 

beide 
Vor  den  Wagen,  und  sie  freute  sich  ihres  Gespanns. 
Aber  nun  ruhen  sie  traurig;  der  neue  geflügelte  Kater 
Schnurrt  überall,  und  ihn  nennet  Venedig  Patron. 

GOETHE  XIV  30. 


3o6  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

EMSIG  wallet  der  Pilger!    Und  wird  er  den  Heiligen 
finden? 
Hören  und  sehen  den  Mann,  welcher  die  Wunder  getan? 
Nein,  es  führte  die  Zeit  ihn  hinweg:  du  findest  nur  Reste, 

Seinen  Schädel,  ein  paar  seiner  Gebeine  verwahrt. 
Pilgrime  sind  wir  alle,  die  wir  Italien  suchen; 

Nur  ein  zerstreutes  Gebein  ehren  wir  gläubig  und  froh. 


JUPITER  Pluvius,  heut  erscheinst  du  ein  freundlicher 
Dämon, 
Denn  ein  vielfach  Geschenk  gibst  du  in  Einem  Moment: 
Gibst  Venedig  zu  trinken,  dem  Lande  grünendes  Wachstum, 
Manches  kleine  Gedicht  gibst  du  dem  Büchelchen  hier. 

GIESSE  nur,  tränke  nur  fort  die  rotbemäntelten  Frösche, 
Wäßre  das  durstende  Land,  daß  es  uns  Broccoli 

schickt. 
Nur  durchwäßre  mir  nicht  dies  Büchlein;  es  sei  mir  ein 

Fläschchen 
Reinen  Araks,  uüd  Punsch  mache  sich  jeder  nach  Lust. 

SANKT  Johannes  im  Kot  heißt  jene  Kirche;  Venedig 
Nenn  ich  mit  doppeltem  Recht  heute  Sankt  Markus 

im  Kot. 

HAST  du  Bajä  gesehn,  so  kennst  du  das  Meer  und  die 
Fische. 
Hier  ist  Venedig;  du  kennst  nun  auch  den  Pfuhl  und 

den  Frosch. 


SCHLÄFST  du  noch  immer?"    Nur  still,  und  laß  mich 
ruhen;  erwach  ich, 
Nim,  was  soll  ich  denn  hier?   Breit  ist  das  Bette,  doch 

leer. 
Ist  überall  ja  doch  Sardinien,  wo  man  allein  schläft, 
Tibur,  Freund,  überall,  wo  dich  die  Liebliche  weckt. 


1788/93  WEIMAR  307 

ALLE  Neun,  sie  winkten  mir  oft,  ich  meine  die  Musen; 
Doch  ich  achtet  es  nicht,  hatte  das  Mädchen  im 

Schoß. 
Nun  verließ  ich  mein  Liebchen;  mich  haben  die  Musen 

verlassen, 
Und  ich  schielte  verwirrt,  suchte  nach  Messerund  Strick. 
Doch  von  Göttern  ist  voll  der  Olymp;  du  kamst,  mich  zu 

retten, 
Langeweile!  du  bist  Mutter  der  Musen  gegrüßt. 


WELCH  ein  Mädchen  ich  wünsche  zu  haben .^ Ihr  fragt 
mich.    Ich  hab  sie, 
Wie  ich  sie  wünsche,  das  heißt,  dünkt  mich,  mit  weni- 
gem viel. 
An  dem  Meere  ging  ich,  und  suchte  mir  Muscheln.    In 

einer 
Fand  ich  ein  Perlchen;  es  bleibt  nun  mir  am  Herzen 

verwahrt. 


VIELES  hab  ich  versucht,  gezeichnet,  in  Kupfer  ge- 
stochen, 
Öl  gemalt,  in  Ton  hab  ich  auch  manches  gedruckt. 
Unbeständig  jedoch,  und  nichts  gelernt  noch  geleistet; 

Nur  ein  einzig  Talent  bracht  ich  der  Meisterschaft  nah. 
Deutsch  zu  schreiben.    Und  so  verderb  ich  unglücklicher 

Dichter 
In  dem  schlechtesten  StoflF  leider  nun  Leben  und  Kunst. 


SCHÖNE  Kinder  tragt  ihr,  und  steht  mit  verdeckten 
Gesichtern, 
Bettelt:  das  heißt  mit  Macht  reden  ans  männUche  Herz. 
Jeder  wünscht  sich  ein  Knäbchen,  wie  ihr  das  dürftige 

I  zeiget. 

Und  ein  Liebchen,  wie  maus  imter  dem  Schleier  sich 
denkt. 


3o8  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

DAS  ist  dein  eigenes  Kind  nicht,  worauf  du  bettelst, 
und  rührst  mich; 
O  wie  rührt  mich  erst  die,  die  mir  mein  eigenes  bringt! 


WARUM  leckst  du  dein  Mäulchen,  indem  du  mir 
eilig  begegnest? 
Wohl,  dein  Züngelchen  sagt  mir,  wie  gesprächig  es  sei. 


SÄMTLICHE  Künste  lernt  und  treibet  der  Deutsche; 
zu  jeder 
Zeigt  er  ein  schönes  Talent,  wenn  er  sie  ernstlich  er- 
greift. 
Eine  Kunst  nur  treibt  er,  und  will  sie  nicht  lernen,  die 

Dichtkunst. 
Darum  pfuscht  er  auch  so;  Freunde,  wir  habens  erlebt. 


EINES    Menschen  Leben,  was  ists?    Doch  Tausende 
können 
Reden  über  den  Mann,  was  er  und  wie  ers  getan. 
Weniger  ist  ein  Gedicht;  doch  können  es  Tausend  ge- 
nießen, 
Tausende  tadeln.  Mein  Freimd,  lebe  nur,  dichte  nur  fort! 


MÜDE  war  ich  geworden,   nur  immer  Gemälde  zu 
sehen. 
Herrliche  Schätze  der  Kunst,  wie  sie  Venedig  bewahrt. 
Denn  auch  dieser  Genuß  verlangt  Erholung  und  Muße; 
Nach  lebendigem  Reiz  suchte  mein  schmachtender 

Blick. 
Gauklerin!  da  ersah  ich  in  dir  zu  den  Bübchen  das  Urbild, 

Wie  sie  Johannes  Bellin  reizend  mit  Flügeln  gemalt. 

Wie  sie  Paul  Veronese  mit  Bechern  dem  Bräutigam  sendet. 

Dessen  Gäste,  getäuscht,  Wasser  genießen  für  Wein. 


1788/93  WEIMAR  309 

WIE,  von  der  künstlichsten  Hand  geschnitzt,  das  liebe 
Figürchen, 
Weich  und  ohne  Gebein,  wie  die  Molluska  nur  schwimmt! 
Alles  ist  Glied,  und  alles  Gelenk,  und  alles  gefällig, 

Alles  nach  Maßen  gebaut,  alles  nach  Willkür  bewegt. 

Menschen  hab  ich  gekannt  und  Tiere,  so  Vögel  als  Fische, 

Manches  besondre  Gewürm,  Wunder  der  großen  Natur; 

Und  doch  staun  ich  dich  an.  Bettine,  liebliches  Wunder 

Die  du  alles  zugleich  bist,  und  ein  Engel  dazu. 

KEHRE  nicht,   liebliches  Kind,  die  Beinchen  hinauf 
zu  dem  Himmel; 
Jupiter  sieht  dich,  der  Schalk,  und  Ganymed  ist  besorgt. 

WENDE  die  Füßchen  zum  Himmel  nur  ohne  Sorge! 
Wir  strecken 
Arme  betend  empor;  aber  nicht  schuldlos  wie  du. 


SEITWÄRTS  neigt  sich  dein  Hälschen.    Ist  das  ein 
Wunder?  Es  traget 
Oft  dich  Ganze;  du  bist  leicht,  nur  dem  Hälschen  zu 

schwer. 
Mir  ist  sie  gar  nicht  zuwider,  die  schiefe  Stellung  des 

Köpfchens: 
Unter  schönerer  Last  beugte  kein  Nacken  sich  je. 

SO  verwirret  mit  dumpf  willkürlich  verwebten  Gestalten, 
Höllisch  und  trübe  gesinnt,  Breughel  den  schwan- 
kenden Blick; 
So  zerrüttet  auch  Dürer  mit  apokalyptischen  Bildern, 

Menschen  und  Grillen  zugleich,  unser  gesundes  Gehirn; 

So  erreget  ein  Dichter,  von  Sphinxen,  Sirenen,  Zentauren 

Singend,  mit  Macht  Neugier  in  dem  verwunderten  Ohr; 

So  beweget  ein  Traum  den  Sorglichen,  wenn  er  zu  greifen, 

Vorwärts  glaubet  zu  gehn,  alles  veränderlich  schwebt: 

So  verwirrt  uns  Bettine,  die  holden  Glieder  verwechselnd; 

Doch  erfreut  sie  uns  gleich,  wenn  sie  die  Sohlen  betritt. 


3IO  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

GERN  überschreit  ich  die  Grenze,  mit  breiter  Kreide 
gezogen. 
Macht  sie  Bottegha,  das  Kind,  drängt  sie  mich  artig 

zurück. 


ACH!  mit  diesen  Seelen,  was  macht  er?  Jesus  Maria! 
Bündelchen  Wäsche  sind  das,  wie  man  zum  Brunnen 

sie  trägt. 
Wahrlich,  sie  fällt!    Ich  halt  es  nicht  aus!    Komm,  gehn 

wir!  Wie  zierlich! 
Sieh  nur,  wie  steht  sie,  wie  leicht!    Alles  mit  Lächeln 

und  Lust!" 
Altes  Weib,  du  bewunderst  mit  Recht  Bettinen!  du  scheinst 

mir 
Jünger  zu  werden  und  schön,  da  dich  mein  Liebling 

erfreut. 


ALLES  seh  ich  so  gerne  von  dir;  doch  seh  ich  am 
liebsten, 
Wenn  der  Vater  behend  über  dich  selber  dich  wirft, 
Du  dich  im  Schwung  überschlägst  und,  nach  dem  tödlichen 

Spnmge, 
Wieder  stehest  und  läufst,  eben  ob  nichts  war  geschehn. 


SCHON  entrunzelt  sich  jedes  Gesicht;  die  Furchen  der 
Mühe, 
Sorgen  und  Armut  fliehn.  Glückliche  glaubt  man  zu 

sehn. 
Dir  erweicht  sich  der  Schiffer  und  klopft  dir  die  Wange; 

der  Säckel 
Tut  sich  dir  kärglich  zwar,  aber  er  tut  sich  doch  auf, 
Und  der  Bewohner  Venedigs  entfaltet  den  Mantel  und 

reicht  dir, 
Eben  als  flehtest  du  laut  bei  den  Mirakeln  Antons, 
Bei  des  Herrn  fünf  Wunden,  dem  Herzen  der  seligsten 

Jungfrau, 
Bei  der  feurigen  Qual,  welche  die  Seelen  durchfegt. 


1 


1788/93  WEIMAR  311 

Jeder  kleine  Knabe,  der  Schiffer,  der  Höke,  der  Bettler 
Drängt  sich,  und  freut  sich  bei  dir,  daß  er  ein  Kind 

ist  wie  du. 

DICHTEN  ist  ein  lustig  Metier;  nur  find  ich  es  teuer: 
Wie  dies  Büchlein  mir  wächst,  gehn  die  Zechinen 

mir  fort. 

WELCH  ein  Wahnsinn  ergriff  dich  Müßigen?  Hältst 
du  nicht  inne? 
Wird  dies  Mädchen  ein  Buch?    Stimme  was  Klügeres 

an!" 

Wartet,  ich  singe  die  Könige  bald,  die  Großen  der  Erde, 

Wenn  ich  ihr  Handwerk  einst  besser  begreife  wie  jetzt. 

Doch  Bettinen  sing  ich  indes;  denn  Gaukler  und  Dichter 

Sind  gar  nahe  verwandt,  suchen  und  finden  sich  gem. 

BÖCKE,  zur  Linken  mit  euch!  so  ordnet  künftig  der 
Richter: 
Und  ihr  Schäfchen,  ihr  sollt  ruhig  zur  Rechten  mir  stehn! 
Wohl!  Doch  eines  ist  noch  von  ihm  zu  hoffen;  dann  sagtet: 
Seid,  Vernünftige,  mir  grad  gegenüber  gestellt! 

^■y /"ISST  ihr,  wie  ich  gewiß  zu  Hunderten  euch  Epi- 


gramme 


» 


w 

Fertige?  Führet  mich  nur  weit  von  der  Liebsten  hinweg! 

ALLE  Freiheitsapostel,  sie  waren  mir  immer  zuwider; 
Willkür  suchte  doch  nur  jeder  am  Ende  für  sich. 
Willst  du  viele  befrein,  so  wag  es,  vielen  zu  dienen. 
Wie  gefährlich  das  sei,  willst  du  es  wissen?  Versuchs! 

KÖNIGE  wollen  das  Gute,  die  Demagogen  desgleichen. 
Sagt  man;  doch  irren  sie  sich:  Menschen,  ach,  sind 

sie  wie  wir. 
Nie  gelingt  es  der  Menge,  für  sich  zu  wollen,  wir  wissens; 
Doch  wer  verstehet,  fiir  uns  alle  zu  wollen,  er  zeigs! 


312  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

FRANKREICHS  traurig  Geschick,  die  Großen  mögens 
bedenken; 
Aber  bedenken  fürwahr  sollen  es  Kleine  noch  mehr. 
Große  gingen  zugrunde:  doch  wer  beschützte  die  Menge 
Gegen  die  Menge?  Da  war  Menge  der  Menge  Tyrann. 


T 


OLLE  Zeiten  hab  ich  erlebt,  und  hab  nicht  ermangelt, 
Selbst  auch  töricht  zu  sein,  wie  es  die  Zeit  mir  gebot. 


SAGE,  tun  wir  nicht  recht?  Wir  müssen  den  Pöbel  be- 
triegen. 
Sieh  nur,  wie  ungeschickt,  sieh  nur,  wie  wild  er  sich 

zeigt!" 
Ungeschickt  und  wild  sind  alle  rohe  Betrognen; 

Seid  nur  redlich,  und  so  führt  ihn  zum  Menschlichen  an. 

JENE  Menschen  sind  toll,  so  sagt  ihr  von  heftigen 
Sprechern, 
Die  wir  in  Frankreich  laut  hören  auf  Straßen  und  Markt. 
Mir  auch  scheinen  sie  toll;  doch  redet  ein  Toller  in  Frei- 
heit 
Weise  Sprüche,  wenn  ach!    Weisheit  im  Sklaven  ver- 
stummt. 

LANGE  haben  die  Großen  der  Franzen  Sprache,  ge- 
sprochen, 
Halb  nur  geachtet  den  Mann,  dem  sie  vom  Munde 

nicht  floß. 
Nun  lallt  alles  Volk  entzückt  die  Sprache  der  Franken. 
Zürnet,  Mächtige,  nicht!  Was  ihr  verlangtet,  geschieht. 

SEID  doch  nicht  so  frech,  Epigramme!"  Warum  nicht? 
Wir  sind  nur 
Überschriften;  die  Welt  hat  die  Kapitel  des  Buchs. 

WIE  dem  hohen  Apostel  ein  Tuch  voll  Tiere  ge- 
zeigt ward, 
Rein  und  unrein,  zeigt,  Lieber,  das  Büchlein  sich  dir. 


1788/93  WEIMAR  313 

EIN  Epigramm,  ob  wohl  es  gut  sei?    Kannst  dus  ent- 
scheiden: 
Weiß  man  doch  eben  nicht  stets,  was  er  sich  dachte, 

der  Schalk. 


UM  so  gemeiner  es  ist  und  näher  dem  Neide,  der  Miß- 
gunst, 
Um  so  eher  begreifst  du  das  Gedichtchen  gewiß. 


ClILOE  schwöret,  sie  liebt  mich;  ich  glaubs  nicht.  Aber 
sie  liebt  dich! 
Sagt  mir  ein  Kenner.    Schon  gut;  glaubt  ichs,  da  war 

es  vorbei. 


NIEMAND  liebst  du,  und  mich,  Philarchos,  liebst  du 
so  heftig. 
Ist  denn  kein  anderer  Weg,  mich  zu  bezwingen,  als  der? 

VIELES  kann  ich  ertragen.  Die  meisten  beschwer- 
lichen Dinge 
Duld  ich  mit  ruhigem  Mut,  wie  es  ein  Gott  mir  gebeut. 
Wenige  sind  mir  jedoch  wie  Gift  und  Schlange  zuwider, 
Viere:  Rauch  des  Tabaks,  Wanzen  und  Knoblauch  und  f. 

LÄNGST  schon  hätt  ich  euch  gern  von  jenen  Tierchen 
gesprochen, 
Die  so  zierlich  und  schnell  fahren  dahin  und  daher, 
Schlängelchen  scheinen  sie  gleich,  doch  viergefüßet;  sie 

laufen, 
Kriechen   und   schleichen,   und  leicht  schleppen   die 

Schwänzchen  sie  nach. 
Seht,  hier  sind  sie!  und  hier!  Nun  sind  sie  verschwunden! 

Wo  sind  sie? 
Welche  Ritze,  welch  Kraut  nahm  die  entfliehenden  auf- 
Wollt  ihr  mirs  künftig  erlauben,  so  nenn  ich  die  Tierchen 

Lazerten; 
Denn  ich  brauche  sie  noch  oft  als  gefälliges  Bild. 


314  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

WER  Lazerten  gesehn,  der  kann  sich  die  zierlichen 
Mädchen 
Denken,  die  über  den  Platz  fahren  dahin  und  daher. 
Schnell  und  beweglich  sind  sie,  luid  gleiten,  stehen  und 

schwatzen, 
Und  es  rauscht  das  Gewand  hinter  den  eilenden  drein. 
Sieh,  hier  ist  sie!  und  hier!    Verlierst  du  sie  einmal,  so 

suchst  du 
Sie  vergebens;  so  bald  kommt  sie  nicht  wieder  hervor. 
Wenn  du  aber  die  Winkel  nicht  scheust,  nicht  Gäßchen 

und  Treppchen, 
Folg  ihr,  wie  sie  dich  lockt,  in  die  Spelunke  hinein! 


WAS  Spelunke  nun  sei,  verlangt  ihr  zu  wissen?  Da 
wird  ja 
Fast  zum  Lexikon  dies  epigrammatische  Buch. 
Dunkele  Häuser  sinds  in  engen  Gäßchen;  zum  Kaffee 
Führt  dich  die  Schöne,  imd  sie  zeigt  sich  geschäftig, 

nicht  du. 


ZWEI  der  feinsten  Lazerten,  sie  hielten  sich  immer 
zusammen. 
Eine  beinahe  zu  groß,  eine  beinahe  zu  klein. 
Siehst  du  beide  zusammen,  so  wird  die  Wahl  dir  unmöglich; 
Jede  besonders,  sie  schien  einzig  die  schönste  zu  sein. 


HEILIGE  Leute,  sagt  man,  sie  wollten  besonders  dem 
Sünder 
Und  der  Sünderin  wohl.   Gehts  mir  doch  eben  auch  so. 


WAR  ich  ein  häusliches  Weib,  und  hätte,  was  ich 
bedürfte. 
Treu  sein  wollt  ich  und  froh,  herzen  und  küssen  den 

Mann. 
So  sang,  unter  andern,  gemeinen  Liedern,  ein  Dirnchen 
Mir  in  Venedig,  und  nie  hört  ich  ein  frömmer  Gebet. 


r 


1788/93  WEIMAR  315 

WUNDERN  kann  es  mich  nicht,  daß  Menschen  die 
Hunde  so  lieben: 
-    Denn  ein  erbärmlicher  Schuft  ist,  wie  der  Mensch,  so 

der  Hund. 


FRECH  wohl  bin  ich  geworden;  es  ist  kein  Wunder. 
Ihr  Götter 
Wißt,  und  wißt  nicht  allein,  daß  ich  auch  fromm  bin 

und  treu. 


HAST  du  nicht  gute  Gesellschaft  gesehn?  Es  zeigt  uns 
dein  Büchlein 
Fast  nur  Gaukler  und  Volk,  ja  was  noch  niedriger  ist." 
Gute  Gesellschaft  hab  ich  gesehn,  man  nennt  sie  die  gute, 
Wenn  sie  zum  kleinsten  Gedicht  keine  Gelegenheit  gibt. 

WAS  mit  mir  das  Schicksal  gewollt?  Es  wäre  ver- 
wegen. 
Das  zu  fragen;  denn  meist  will  es  mit  vielen  nicht  viel. 
Einen  Dichter  zu  bilden,  die  Absicht  war  ihm  gelungen, 
Hätte  die  Sprache  sich  nicht  unüberwindlich  gezeigt. 

MIT  Botanik  gibst  du  dich  ab?  mit  Optik?  Was  tust  du? 
Ist  es  nicht  schönrer  Gewinn,  rühren  ein  zärt- 
liches Herz? 
Ach,  die  zärtlichen  Herzen!  ein  Pfuscher  vermag  sie  zu 

rühren; 
Sei  es  mein  einziges  Glück,  dich  zu  berühren,  Natur! 

WEISS  hat  Newton  gemacht  aus  allen  Farben.  Gar 
manches 
Hat  er  euch  weisgemacht,  das  ihr  ein  Säkulum  glaubt. 

ALLES  erklärt  sich  wohl,"  so  sagt  mir  ein  Schüler,  "aus 
jenen 
Theorien,  die  uns  weislich  der  Meister  gelehrt." 
Habt  ihr  einmal  das  Kreuz  von  Holze  tüchtig  gezimmert, 
Paßt  ein  lebendiger  Leib  freilich  zur  Strafe  daran. 


3 1 6  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

WENN  auf  beschwerlichen  Reisen  ein  Jüngling  zur 
Liebsten  sich  windet, 
Hab  er  dies  Büchlein;  es  ist  reizend  und  tröstlich  zu- 
gleich. 
Und  erwartet  dereinst  ein  Mädchen  den  Liebsten,  sie  halte 
Dieses  Büchlein,  und  nur,  kommt  er,  so  werfe  sies  weg. 

GLEICH  den  Winken   des  Mädchens,   des   eilenden, 
welche  verstohlen 
Im  Vorbeigehn  nur  freundlich  mir  streifet  den  Arm, 
So  vergönnt,  ihr  Musen,  dem  Reisenden  kleine  Gedichte: 
O  behaltet  dem  Freund  größere  Gunst  noch  bevor! 


WENN,  in  Wolken  und  Dünste  verhüllt,  die  Sonne 
nur  trübe 
Stunden  sendet,  wie  still  wandeln  die  Pfade  wir  fort! 
Dränget  Regen  den  Wandrer,  wie  ist  uns  des  ländlichen 

Daches 
Schirm  willkommen!  Wie  sanft  ruht  sichs  in  stürmischer 

Nacht! 
Aber  die  Göttin  kehret  zurück!  Schnell  scheuche  die  Nebel 
Von  der  Stirne  hinweg!  Gleiche  der  Mutter  Natur! 

WILLST  du  mit  reinem  Gefühl  der  Liebe  Freuden 
genießen, 
O  laß  Frechheit  und  Ernst  ferne  vom  Herzen  dir  sein. 
Die  will  Amorn  verjagen,  und  ^(fr  gedenkt  ihn  zu  fesseln; 
Beiden  das  Gegenteil  lächelt  der  schelmische  Gott. 


GÖTTLICHER  Morpheus,   umsonst  bewegst  du  die 
lieblichen  Mohne; 
Bleibt  das  Auge  doch  wach,  wenn  mir  es  Amor  nicht 

schließt. 


L 


lEBE  flößest  du  ein,  und  Begier;  ich  fühl  es,  tmd  brenne. 
Liebenswürdige,  nun  flöße  Vertrauen  mir  ein! 


1788/93  WEIMAR  317 

HA!  ich  kenne  dich,  Amor,  so  gut  als  einer!  Da  bringst 
du 
Deine  Fackel,  und  sie  leuchtet  im  Dunkel  uns  vor. 
Aber  du  fuhrest  ims  bald  verworrene  Pfade;  wir  brauchten 
Deine  Fackel  erst  recht,  ach!  und  die  falsche  erlischt. 

EINE  einzige  Nacht  an  deinem  Herzen! — Das  andre 
Gibt  sich.  Es  trennet  tms  noch  Amor  in  Nebel  imd 

Nacht. 
Ja,  ich  erlebe  den  Morgen,  an  dem  Aurora  die  Freunde 
Busen  an  Busen  belauscht,  Phöbus,  der  frühe,  sie  weckt. 


1 


ST  es  dir  Ernst,  so  zaudre  nun  länger  nicht,  mache  mich 

glücklich! 

Wolltest  du  scherzen?  Es  sei,  Liebchen,  des  Scherzes 

genug! 


DASS  ich  schweige,  verdrießt  dich?  Was  soll  ich  reden? 
Du  merkest 
Auf  der  Seufzer,  des  Blicks  leise  Beredsamkeit  nicht. 
Eine  Göttin  vermag  der  Lippe  Siegel  zu  lösen; 

Nur  Aurora,  sie  weckt  einst  dir  am  Busen  mich  auf. 
Ja,  dann  töne  mein  Hymnus  den  frühen  Göttern  entgegen. 
Wie  das  Memnonische  Bild  lieblich  Geheinmisse  sang. 

WELCH  ein  lustiges  Spiel!    Es  windet  am  Faden 
die  Scheibe, 
Die  von  der  Hand  entfloh,  eilig  sich  wieder  herauf! 
Seht,  so  schein  ich  mein  Herz  bald  dieser  Schönen,  bald 

jener 
Zuzuwerfen;  doch  gleich  kehrt  es  im  Fluge  zurück. 

Owie  achtet  ich  sonst  auf  alle  Zeiten  des  Jahres, 
Grüßte  den  kommenden  Lenz,  sehnte  dem  Herbste 

mich  nach! 
Aber  nun  ist  nicht  Sommer  noch  Winter,  seit  mich  Be- 
glückten 
Amors  Fittich  bedeckt,  ewiger  Frühling  umschwebt. 


31 8  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

SAGE,  wie  lebst  du?   Ich  lebe!  und  wären  hundert  imd 
hundert 
Jahre  dem  Menschen  gegönnt,  wünscht  ich  mir  morgen 

wie  heut. 

GÖTTER,  wie  soll  ich  euch  danken!  Ihr  habt  mir  alles 
gegeben. 
Was  der  Mensch  sich  erfleht;  nur  in  der  Regel  fast  nichts. 


DU  erstaunest,  imd  zeigst  mir  das  Meer;  es  scheinet 
zu  brennen. 
Wie  bewegt  sich  die  Flut  flammend  ums  nächtliche 

Schifft 
Mich  verwundert  es  nicht,  das  Meer  gebar  Aphroditen, 
Und  entsprang  nicht  aus  ihr  uns  eine  Flamme,  der 

Sohn? 

GLÄNZEN  sah  ich  das  Meer,  xmd  blinken  die  liebliche 
Welle, 
Frisch  mit  günstigem  Wind  zogen  die  Segel  dahin. 
Keine  Sehnsucht  fühlte  mein  Herz;  es  wendete  rückwärts, 
Nach  dem  Schnee  des  Gebirgs,  bald  sich  der  schmach- 
tende Blick. 
Südwärts  liegen  der  Schätze  wie  viel!    Doch  einer  im 

Norden 
Zieht,  ein  großer  Magnet,  unwiderstehlich  zurück. 

ACH!  mein  Mädchen  verreist!    Sie  steigt  zu  Schiffe!— 
Mein  König, 
Äolus!  mächtiger  Fürst!  halte  die  Stürme  zurück! 
Törichter!   ruft  mir  der  Gott,  befürchte  nicht  wütende 

Stürme: 
Fürchte  den  Hauch,  wenn  sanft  Amor  die  Flügel  be- 
wegt! 

OFTMALS  hab  ich  geirrt,  und  habe  mich  wieder  ge- 
funden. 
Aber  glücklicher  nie;  nun  ist  dies  Mädchen  mein  Glück! 


1788/93  WEIMAR  319 

Ist  auch  dieses  ein  Irrtum,  so  schont  mich,  ihr  klügeren 

Götter, 
Und  benehmt  mir  ihn  erst  drüben  am  kalten  Gestad. 


TRAURIG,  Midas,  war  dein  Geschick:  in  bebenden 
Händen 
Fühltest  du,  hungriger  Greis,  schwere  verwandelte  Kost. 
Mir,  im  ähnlichen  Fall,  gehts  lustger;  denn  was  ich  be- 
rühre, 
Wird  mir  unter  der  Hand  gleich  ein  behendes  Gedicht. 
Holde  Musen,  ich  sträube  mich  nicht;  nur  daß  ihr  mein 

Liebchen, 
Drück  ich  es  fest  an  die  Brust,  nicht  mir  zum  Märchen 

verkehrt. 


UND  so  tändelt  ich  mir,  von  allen  Freunden  geschieden, 
In  der  Neptunischen  Stadt  Tage  wie  Stvmden  hin- 
weg. 
Alles,  was  ich  erfuhr,  ich  würzt  es  mit  süßer  Erinnrung, 
Würzt  es  mit  Hoffnung;   sie   sind  lieblichste  Würzen 

der  Welt. 


EINEN  zierlichen  Käfig  erblickt  ich;  hinter  dem  Gitter 
Regten  sich  emsig  und  rasch  Mädchen  des  süßen 

Gesangs. 
Mädchen  wissen  sonst  nur  uns  zu  ermüden;  Venedig, 
Heil  dir,  daß  du  sie  auch  uns  zu  erquicken  ernährst. 


WENN  ich  den  Dieben  gebellt,  Liebhabern  hab  ich 
geschwiegen; 
Und  so  begünstigten  mich  beide,  der  Herr  und  die  Frau. 


[An  die  Herzogin  Anna  Amalia] 

SAGT,  wem  geb  ich  dies  Büchlein?    Der  Fürstin,  die 
mirs  gegeben, 
Die  uns  Italien  noch  jetzt  in  Germanien  schafift. 


320  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

ARM  und  kleiderlos  war,  als  ich  sie  geworben,  das 
Mädchen; 
Damals  gefiel  sie  mir  nackt,  wie  sie  mir  jetzt  noch 

gefällt. 


JEGLICHEN   Schwärmer    schlagt  mir    ans  Kreuz  im 
dreißigsten  Jahre; 
Kennt  er  nur  einmal  die  Welt,  wird  der  Betrogne  der 

Schelm. 


FÜRSTEN  prägen  so  oft  auf  kaum  versilbertes  Kupfer 
Ihr  bedeutendes  Bild;  lange  betriegt  sich  das  Volk. 
Schwärmer  prägen  den  Stempel  des  Geists  auf  Lügen  und 

Unsinn; 
Wem  der  Probierstein  fehlt,  hält  sie  für  redliches  Gold, 


ST  denn  so  groß  das  Geheimnis,  was  Gott  und   der 

L  Mensch  und  die  Welt  sei? 

Nein!    Doch  niemand  hörts  gerne;  da  bleibt  es  geheim. 


IN  der  Dämmrung  des  Morgens  den  höchsten  Gipfel  er- 
klimmen. 
Frühe  den  Boten  des  Tags  grüßen,  dich,  freimdlichen 

Stern! 
Ungeduldig  die  Blicke  der  Himmelsfürstin  erwarten, 
Wonne  des  Jünglings,  wie  oft  locktest  du  nachts  mich 

heraus! 
Nun  erscheint  ihr  mir,  Boten  des  Tags,  ihr  himmlischen 

Augen 
Meiner  Geliebten,  und  stets  kommt  mir  die  Sonne  zu 

früh. 


1^  1788/93  WEIMAR  321 

GRÜN  ist  der  Boden  der  Wohnung,  die  Sonne  scheint 
durch  die  Wände, 
Und  das  Vögelchen  Singt  über  dem  leinenen  Dach; 
Kriegerisch  reiten  wir  aus,  besteigen  Schlesiens  Höhen, 
Schauen  mit  gierigem  Blick  vorwärts   nach  Böhmen 

hinein. 
Aber  es  zeigt  sich  kein  Feind — und  keine  Feindin;  o  bringe, 
Wenn  ims  Mavors  betrügt,  bring  uns,  Cupido,  den  ELrieg. 


V: 


[An  Christiane] 

ON  Osten  nach  Westen — 
Zu  Hause  am  besten. 


[An  die  Knappschaft  der  Friedrichsgrabe  bei  Tamowitz] 

FERN  von  gebildeten  Menschen,  am  Ende  des  Reiches, 
wer  hilft  euch 
Schätze  finden  und  sie  glücklich  zu  bringen  ans  Licht? 
Nur  Verstand  und  Redlichkeit  helfen,  es  führen  die  beiden 
Schlüssel  zu  jeglichem  Schatz,  welchen  die  Erde  ver- 
wahrt. 


DER  RATTENFÄNGER 

ICH  bin  der  woljlbekannte  Sänger, 
Der  vielgereiste  Rattenfänger, 
Den  diese  altberühmte  Stadt 
Gewiß  besonders  nötig  hat. 
Und  wärens  Ratten  noch  so  viele, 
Und  wären  Wiesel  mit  im  Spiele, 
Von  allen  säubr  ich  diesen  Ort, 
Sie  müssen  miteinander  fort. 

Dann  ist  der  gut  gelaunte  Sänger 
Mitunter  auch  ein  Kinderfänger, 
Der  selbst  die  wildesten  bezwingt. 
Wenn  er  die  goldnen  Märchen  singt. 

ETHE  XIV  ai. 


38  2  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Und  wären  Knaben  noch  so  trutzig, 
Und  wären  Mädchen  noch  so  stutzig, 
In  meine  Saiten  greif  ich  ein, 
Sie  müssen  alle  hinterdrein. 

Dann  ist  der  vielgewandte  Sänger 
Gelegentlich  ein  Mädchenfänger; 
In  keinem  Städtchen  langt  er  an, 
Wo  ers  nicht  mancher  angetan. 
Und  wären  Mädchen  noch  so  blöde, 
Und  wären  Weiber  noch  so  spröde, 
Doch  allen  wird  so  liebebang 
Bei  Zaubersaiten  imd  Gesang. 

(Von  Anfang) 

[In  das  Stammbuch  Heinrich  Becks] 

BLUMEN  reicht  die  Natur,  es  windet  die  Kunst  sie  zum 
Kränze. 


[An  den  Herzog  Karl  August] 

ZU  dem  erbaulichen  Entschluß, 
Bei  diesem  Wetter  hier  zu  bleiben, 
Send  ich  des  Wissens  Überfluß 
Die  Zeit  dir  edel  zu  vertreiben. 
Gewiß,  du  wirst  zufrieden  sein. 
Wenn  du  wirst  die  Verwandtschaft  sehen, 
Worinnen  Geist  und  Fleisch  und  Stein 
Und  Erz  und  Öl  und  Wasser  stehen. 

Indes  macht  draußen  vor  dem  Tor, 
Wo  allerliebste  Kätzchen  blühen, 
Durch  alle  zwölf  Kategorien 
Mir  Amor  seine  Spaße  vor. 


V 


[In  das  Stammbuch  Friedrich  Ludwig  Schröders] 

lELE  sahn  dich  mit  Wonne,  dich  wünschen  so  viele 

zu  sehen; 
Reise  glücklich!  Du  bringst  überall  Freude  mit  hin. 


1788/93  WEIMAR  323 

SAKONTALA 

WILL  ich  die  Blumen  des  frühen,  die  Früchte  des 
späteren  Jahres, 
Will  ich,  was  reizt  und  entzückt,  will  ich,  was  sättigt 

und  nährt. 
Will  ich  den  Himmel,  die  Erde  mit  Einem  Namen  be- 
greifen, 
Nenn  ich,  Sakontala,  dich,  und  so  ist  alles  gesagt. 

DIE  SPINNERIN 

ALS  ich  still  und  ruhig  spann, 
Ohne  nur  zu  stocken, 
Trat  ein  schöner  junger  Mann 
Nahe  mir  zum  Rocken. 

Lobte,  was  zu  loben  war, 
Sollte  das  was  schaden? 
Mein  dem  Flachse  gleiches  Haar, 
Und  den  gleichen  Faden. 

Ruhig  war  er  nicht  dabei, 
Ließ  es  nicht  beim  alten; 
Und  der  Faden  riß  entwei, 
Den  ich  lang  erhalten. 

Und  des  Flachses  Stein- Gewicht 
Gab  noch  viele  Zahlen; 
Aber,  ach,  ich  konnte  nicht 
Mehr  mit  ihnen  prahlen. 

Als  ich  sie  zum  Weber  trug, 
Fühlt  ich  was  sich  regen. 
Und  mein  armes  Herze  schlug 
Mit  geschwindem  Schlägen, 

Nim,  beim  heißen  Sonnenstich, 
Bring  ichs  auf  die  Bleiche, 
Und  mit  Mühe  bück  ich  mich 
Nach  dem  nächsten  Teiche. 


324  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Was  ich  in  dem  Kämmerlein 
Still  und  fein  gesponnen, 
Kommt — wie  kann  es  anders  sein? — 
Endlich  an  die  Sonnen. 

TRIERISCHE  Hügel  beherrschte  Dionysos,  aber  der 
Bischof 
Dionysius  trieb  ihn  und  die  Seinen  herab; 
Christlich  lagerten  sich  Bacchanten- Scharen  im  Tale, 
Hinter  die  Mauern  versteckt,  üben  sie  alten  Gebrauch. 

KÜNSTLERS  FUG  UND  RECHT 

EIN  frommer  Maler  mit  vielem  Fleiß 
Hatte  manchmal  gewonnen  den  Preis, 
Und  manchmal  ließ  ers  auch  geschehn, 
Daß  er  einem  Bessern  nach  mußt  stehn; 
Hatte  seine  Tafeln  fortgemalt, 
Wie  man  sie  lobt,  wie  man  sie  bezahlt. 
Da  kamen  einige  gut  hinaus, 
Man  baut'  ihn'n  sogar  ein  Heiligenhaus. 

Nun  fand  er  Gelegenheit  einmal. 
Zu  malen  eine  Wand  im  Saal; 
Mit  emsigen  Zügen  er  staffiert', 
Was  öfters  in  der  Welt  passiert; 
Zog  seinen  Umriß  leicht  und  klar, 
Man  konnte  sehn,  was  gemeint  da  war. 
Mit  wenig  Farben  er  koloriert', 
Doch  so,  daß  er  das  Aug  frappiert. 
Er  glaubt'  es  für  den  Platz  gerecht 
Und  nicht  zu  gut  und  nicht  zu  schlecht, 
Daß  es  versammelte  Herrn  und  Fraun 
Möchten  einmal  mit  Lust  beschaun; 
Zugleich  er  auch  noch  wünscht'  und  wollt. 
Daß  man  dabei  was  denken  sollt. 

Als  nun  die  Arbeit  fertig  war. 

Da  trat  herein  manch  Fretmdespaar, 


.   1788/93  WEIMAR  325 

Das  unsers  Künstlers  Werke  Hebt' 

Und  darum  desto  mehr  betrübt, 

Daß  an  der  losen,  leidigen  Wand 

Nicht  auch  ein  Götterbildnis  stand. 

Die  setzten  ihn  sogleich  zur  Red, 

Warum  er  so  was  malen  tat. 

Da  doch  der  Saal  und  seine  Wand 

Gehörten  nur  für  Narrenhänd; 

Er  sollte  sich  nicht  lassen  verführen 

Und  nun  auch  Bank  und  Tische  beschmieren; 

Er  sollte  bei  seinen  Tafeln  bleiben 

Und  hübsch  mit  seinem  Pinsel  schreiben. 

Und  sagten  ihm  von  dieser  Art 

Noch  viel  Verbindlichs  in  den  Bart. 

Er  sprach  darauf  bescheidentlich: 

Eure  gute  Meinung  beschämet  mich. 

Es  freut  mich  mehr  nichts  auf  der  Welt, 

Als  wenn  euch  je  mein  Werk  gefällt. 

Da  aber  aus  eigenem  Beruf 

Gott  der  Herr  allerlei  Tier'  erschuf. 

Daß  auch  sogar  das  wüste  Schwein, 

Kröten  und  Schlangen  vom  Herren  sein, 

Und  er  auch  manches  nur  ebauchiert 

Und  gerade  nicht  alles  ausgeführt 

(Wie  man  den  Menschen  denn  selbst  nicht  schart 

Und  nur  en  gros  betrachten  darf): 

So  hab  ich,  als  ein  armer  Knecht 

Vom  sündlich  menschlichen  Geschlecht, 

Von  Jugend  auf  allerlei  Lust  gespürt 

Und  mich  in  allerlei  exerziert; 

Und  so  durch  Übung  und  dtirch  Glück 

Gelang  mir,  sagt  ihr,  manches  Stück. 

Nun  dächt  ich,  nach  vielem  Rennen  und  Laufen 

Dürft  einer  auch  einmal  verschnaufen. 

Ohne  daß  jeder  gleich,  der  wohl  ihm  wollt, 

Ihn  'nen  faulen  Bengel  heißen  sollt. 

Drum  ist  mein  Wort  zu  dieser  Frist, 


32  6  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Wie's  allezeit  gewesen  ist: 

Mit  keiner  Arbeit  hab  ich  geprahlt, 

Und  was  ich  gemalt  hab,  hab  ich  gemalt. 

DER  NEUE  AMOR 

AMOR,   nicht  das  Kind,  der  Jüngling,  der  Psychen 
verführte, 

Sah  im  Olympus  sich  um,  frech  und  der  Siege  gewohnt; 
Eine  Göttin  erblickt'  er,  vor  allen  die  herrlichste  Schöne, 

Venus  Urania  wars,  und  er  entbrannte  für  sie. 
Ach!  die  Heilige  selbst,  sie  widerstand  nicht  dem  Werben, 

Und  der  Verwegene  hielt  fest  sie  im  Arme  bestrickt. 
Da  entstand  aus  ihnen  ein  neuer  lieblicher  Amor, 

Der  dem  Vater  den  Sinn,  Sitte  der  Mutter  verdankt. 
Immer  findest  du  ihn  in  holder  Musen  Gesellschaft, 

Und  sein  reizender  Pfeil  stiftet  die  Liebe  der  Kunst. 


DIE  ihrem  Mann  allein  gewährt  vergnügte  Stimden, 
Ich  gehe  noch  herum!  ich  hab  sie  nicht  gefunden. 


[In  das  Album  der  Fürstin  Amalie  Gallitzin.] 

UNTERSCHIEDEN  ist  nicht  das  Schöne  vom  Guten; 
das  Schöne 
Ist  nur  das  Gute,  das  sich  lieblich  verschleiert  uns  zeigt. 


DAS  WIEDERSEHN 

Er 

SÜSSE  Freundin,  noch  Einen,  nur  Einen  Kuß  noch  ge- 
währe 
Diesen  Lippen-!    Warum  bist  du  mir  heute  so  karg? 
Gestern  blühte  wie  heute  der  Baum,  wir  wechselten  Küsse 
Tausendfältig;  dem  Schwärm  Bienen  verglichst  du  sie  ja. 
Wie  sie  den  Blüten  sich  nahn  imd  saugen,  schweben  und 

wieder 
Saugen,  und  lieblicher  Ton  süßen  Genusses  erschallt. 


1788/93   WEIMAR  327 

Alle  noch  üben  das  holde  Geschäft.  Und  wäre  der  Früh- 
ling 
Uns  vorübergeflohn,  eh  sich  die  Blüte  zerstreut? 

Sie 
Träume,  Heblicher  Freund,  nur  immer!  rede  von  gesteml 
Gerne  hör  ich  dich  an,  drücke  dich  redlich  ans  Herz. 
Gestern,  sagst  du?— Es  war,  ich  weiß,  ein  köstliches 

Gestern; 
Worte  verklangen  im  Wort,  Küsse  verdrängten  den  Kuß. 
Schmerzlich  wars,  zu  scheiden  am  Abende,  traurig  die 

lange 
Nacht  von  gestern  auf  heut,  die  den  Getrennten  gebot. 
Doch  der  Morgen  kehret  zurück.    Ach!  daß  mir  indessen 
Zehnmal,  leider!  der  Baum  Blüten  und  Früchte  ge- 
bracht! 


1 794-1 797  WEIMAR 


FRÜHLINGSORAKEL 

DU  prophetscher  Vogel  du, 
Blütensänger,  o  Coucou! 
Bitten  eines  jungen  Paares 
In  der  schönsten  Zeit  des  Jahres 
Höre,  liebster  Vogel  du; 
Kann  es  hoffen,  ruf  ihm  zu: 
Dein  Coucou,  dein  Coucou, 
Immer  mehr  Coucou,  Coucou. 

Hörst  du!  ein  verliebtes  Paar 
Sehnt  sich  herzlich  zum  Altar; 
Und  es  ist  bei  seiner  Jugend 
Voller  Treue,  voller  Tugend. 
Ist  die  Stimde  denn  noch  nicht  voll? 
Sag,  wie  lange  es  warten  soll! 
Horch!  Coucou!    Horch!  Coucou! 
Immer  stille!    Nichts  hinzu! 

Ist  es  doch  nicht  rmsre  Schuld! 
Nur  zwei  Jahre  noch  Geduld! 
Aber,  wenn  wir  uns  genommen, 
Werden  Pa-pa-papas  kommen? 
Wisse,  daß  du  uns  erfreust, 
Wenn  du  viele  prophezeist. 
Eins!  Coucou!    Zwei!  Coucou! 
Immer  weiter  Coucou,  Coucou,  Cou. 

Haben  wir  wohl  recht  gezählt, 

Wenig  am  Halbdutzend  fehlt. 

Wenn  wir  gute  Worte  geben, 

Sagst  du  wohl,  wie  lang  wir  leben? 

Freilich,  wir  gestehen  dirs. 

Gern  zum  längsten  trieben  wirs. 

Cou  Coucou,  Cou  Coucou, 

Cou,  Cou,  Cou,  Cou,  Cou,  Cou,  Cou,  Cou,  Cou. 

Leben  ist  ein  großes  Fest, 
Wenn  sichs  nicht  berechnen  läßt. 
Sind  wir  nun  zusammen  blieben, 
Bleibt  denn  auch  das  treue  Lieben? 


332  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Könnte  das  zu  Ende  gehn, 
War  doch  alles  nicht  mehr  schön. 
Cou  Coucou,  Cou  Coucou  :|: 
Cou,  Cou,  Cou,  Cou,  Cou,  Cou,  Cou,  Cou,  Cou. 
(Mit  Grazie  in  infinitum) 

ERSTE  EPISTEL 

JETZT,  da  jeglicher  liest,  und  viele  Leser  das  Buch  nur 
Ungeduldig  durchblättern  und,   selbst  die  Feder  er- 
greifend. 
Auf  das  Büchlein  ein  Buch  mit  seltner  Fertigkeit  pfropfen, 
Soll  auch  ich,  du  willst  es,  mein  Freund,  dir  über  das 

Schreiben 
Schreibend,  die  Menge  vermehren  und  meine  Meimmg 

verkünden. 
Daß  auch  andere  wieder  darüber  meinen,  und  immer 
So  ins  Unendliche  fort  die  schwankende  Woge  sich  wälze. 
Doch  so  fähret  der  Fischer  dem  hohen  Meer  zu,  sobald  ihm 
Günstig  der  Wind  und  der  Morgen  erscheint;  er  treibt 

sein  Gewerbe, 
Wenn  auch  hundert  Gesellen  die  blinkende  Fläche  durch- 
kreuzen. 

Edler  Freund,  du  wünschest  das  Wohl  des  Menschen-  | 

geschlechtes,  1 

Unserer  Deutschen  besonders  und  ganz  vorzüglich  des 

nächsten 
Bürgers,  und  fürchtest  die  Folgen  gefährlicher  Bücher; 

wir  haben 
Leider* oft  sie  gesehen.  Was  sollte  man,  oder  was  könnten    , 
Biedere  Männer  vereint,  was  könnten  die  Herrscher  be- 
wirken? 
Ernst  und  wichtig  erscheint  mir  die  Frage,  doch  triflft  sie 

mich  eben 
In  vergnüglicher  Stimmung.   Im  warmen  heiteren  Wetter 
Glänzet  fruchtbar  die  Gegend,  mir  bringen  liebliche  Lüfte 
Über  die  wallende  Flut  süß  duftende  Kühlung  herüber. 
Und  dem  Heitern  erscheint  die  Welt  auch  heiter,  und  ferne 
Schwebt  die  Sorge  mir  nur  in  leichten  Wölkchen  vorüber. 


1794/7   WEIMAR  333 

Was  mein  leichter  Griffel  entwirft,  ist  leicht  zu  verlöschen, 
Und  viel  tiefer  präget  sich  nicht  der  Eindruck  der  Lettern, 
Die,  so  sagt  man,  der  Ewigkeit  trotzen.  Freilich  an  viele 
Spricht  die  gedruckte  Kolumne;  doch  bald,  wie  jeder  sein 

Antlitz, 
Das  er  im  Spiegel  gesehen,  vergißt,  die  behaglichen  Züge, 
So  vergißt  er  das  Wort,  wenn  auch  von  Erze  gestempelt. 

Reden  schwanken  so  leicht  herüber  hinüber,  wenn  viele 
Sprechen  und  jeder  nur  sich  im  eigenen  Worte,  sogar  auch 
Nur  sich  selbst  im  Worte  vernimmt,  das  der  andere  sagte. 
Mit  den  Büchern  ist  es  nicht  anders.  Liest  doch  nur  jeder 
Aus  dem  Buch  sich  heraus,  und  ist  er  gewaltig,  so  liest  er 
In  das  Buch  sich  hinein,  amalgamiert  sich  das  Fremde. 
Ganz  vergebens   strebst  du  daher,  durch  Schriften  des 

Menschen 
Schon  entschiedenen  Hang  und  seine  Neigung  zu  wenden; 
Aber  bestärken  kannst  du  ihn  wohl  in  seiner  Gesinnung, 
Oder,  war  er  noch  neu,  in  dieses  ihn  tauchen  und  jenes. 

Sag  ich,  wie  ich  es  denke,  so  scheint  durchaus  mir:  es 

bildet 

Nur  das  Leben  den  Mann,  und  wenig  bedeuten  die  Worte. 

Denn  zwar  hören  wir  gern,  was  imsre  Meinung  bestätigt, 

Aber  das  Hören  bestimmt  nicht  die  Meinung;  was  uns 

zuwider 

Wäre,  glaubten  wir  wohl  dem  künstlichen  Redner;  doch 

eilet 

Unser  befreites  Gemüt,  gewohnte  Bahnen  zu  suchen. 

Sollen  wir  freudig  horchen  und  willig  gehorchen,  so  mußt  du 

Schmeicheln.    Sprichst  du  zum  Volke,  zu  Fürsten  und 

Königen,  allen 

Magst  du  Geschichten  erzählen,  worin  als  wirklich  er- 
scheinet. 

Was  sie  wünschen  und  was  sie  selber  zu  leben  begehrten. 

Wäre  Homer  von  allen  gehört,  von  allen  gelesen, 
Schmeichelt'  er  nicht  dem  Geiste  sich  ein,  es  sei  auch 

der  tlörer, 


334  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Wer  er  sei,  und  klinget  nicht  immer  im  hohen  Paläste^ 
In  des  Königes  Zelt  die  Ilias  herrlich  dem  Helden? 
Hört  nicht  aber  dagegen  Ulyssens  wandernde  Klugheit 
Auf  dem  Markte  sich  besser,  da  wo  sich  der  Bürger  ver- 
sammelt? 
Dort  sieht  jeglicher  Held  in  Helm  und  Harnisch,  es  sieht 

hier 
Sich  der  Bettler  sogar  in  seinen  Lumpen  veredelt. 


Also  hört  ich  einmal,  am  wohlgepflasterten  Ufer 
Jener  Neptunischen  Stadt,  allwo  man  geflügelte  Löwen 
Göttlich  verehrt,  ein  Märchen  erzählen.    Im  Kreise  ge- 
schlossen, . 
Drängte  das  horchende  Volk  sich  um  den.  zerlumpten 

Rhapsoden. 
Einst,  so  sprach  er,  verschlug  mich  der  Sturm  ans  Ufer 

der  Insel, 
Die  Utopien  heißt.    Ich  weiß  nicht,  ob  sie  ein  andrer 
Dieser  Gesellschaft  jemals  betrat;  sie  lieget  im  Meere 
Links  von  Herkules'  Säulen.    Ich   ward   gar  freundlich 

empfangen; 
In  ein  Gasthaus  führte  man  mich,  woselbst  ich  das  beste 
Essen  tmd  Trinken  fand  und  weiches  Lager  und  Pflege. 
So  verstrich  ein  Monat  geschwind.  Ich  hatte  des  Kummers 
Völlig  vergessen  und  jeghcher  Not;  da  fing  sich  im  stillen 
Aber  die  Sorge  nun  an:  wie  wird  die  Zeche  dir  leider 
Nach  der  Mahlzeit  bekommen?  Denn  nichts  enthielte  der 

Säckel. 
Reiche  mir  weniger!  bat  ich  den  Wirt;  er  brachte  nur 

immer 
Desto  mehr.    Da  wuchs  mir  die  Angst,  ich  konnte  nicht 

länger 
Essen  und  sorgen,  und  sagte  zuletzt:  Ich  bitte,  die  Zeche 
Billig  zu  machen,  Herr  Wirt!    Er  aber  mit  finsterem  Auge 
Sah    von  der   Seite   mich  an,  ergriff  den  Knittel  und 

schwenkte 
Unbarmherzig  ihn  über  mich  her  und  traf  mir  die  Schultern, 
Traf  den  Kopf  und  hätte  beinah  mich  zu  Tode  geschlagen. 


1794/7  WEIMAR  335 

Eilend  lief  ich  davon  und  suchte  den  Richter;  man  holte 
Gleich  den  Wirt,  der  ruhig  erschien  und  bedächtig  ver- 
setzte: 

Also  muß  es  allen  ergehn,  die  das  heilige  Gastrecht 
Unserer  Insel  verletzen  und,  unanständig  und  gottlos, 
Zeche  verlangen  vom  Manne,  der  sie  doch  höflich  bewirtet. 
Sollt  ich  solche  Beleidigung  dulden  im  eigenen  Hause? 
Nein!  es  hätte  fürwahr  statt  meines  Herzens  ein  Schwamm 

nur 
Mir  im  Busen  gewohnt,  wofern  ich  dergleichen  gelitten. 

Darauf  sagte  der  Richter  zu  mir:  Vergesset  die  Schläge, 
Denn  Ihr  habt  die  Strafe  verdient,  ja  schärfere  Schmerzen; 
Aber  wollt  Ihr  bleiben  und  mitbewohnen  die  Insel, 
Müsset  Ihr  Euch  erst  würdig  beweisen  und  tüchtig  zum 

Bürger. 
Ach!  versetzt  ich,  mein  Herr,  ich  habe  leider  mich  niemals 
Gerne  zur  Arbeit  gefügt.  So  hab  ich  auch  keine  Talente, 
Die  den  Menschen  bequemer  ernähren;  man  hat  mich  im 

Spott  nur 
Hans  Ohnsorge  genannt  und  mich  von  Hause  vertrieben. 

O,  so  sei  uns  gegrüßt!  versetzte  der  Richter;  du  sollst  dich 
Oben  setzen  zu  Tisch,  wenn  sich  die  Gemeine  versammelt. 
Sollst  im  Rate  den  Platz,  den  du  verdienest,  erhalten. 
Aber  hüte  dich  wohl,  daß  nicht  ein  schändlicher  Rückfall 
Dich  zur  Arbeit  verleite,  daß  man  nicht  etwa  das  Grabscheit 
Oder  das  Ruder  bei  dir  im  Hause  finde,  du  wärest 
Gleich  auf  immer  verloren  und  ohne  Nahrung  und  Ehre. 
Aber  auf  dem  Markte  zu  sitzen,  die  Arme  geschlungen 
Über  dem  schwellenden  Bauch,  zu  hören  lustige  Lieder 
Unserer  Sänger,   zu  sehn  die  Tänze  der  Mädchen,  der 

Knaben 
Spiele,  das  werde  dir  Pflicht,  die  du  gelobest  und  schwörest. 

So  erzählte  der  Mann,  und  heiter  waren  die  Stirnen 
Aller  Hörer  geworden,  und  alle  wünschten  des  Tages 
Solche  Wirte  zu  finden,  ja  solche  Schläge  zu  dulden. 


336  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

ZWEITE  EPISTEL 

WÜRDIGER  Freund,  du  runzelst  die  Stirn;  dir  schei- 
nen die  Scherze 
Nicht  am  rechten  Orte  zu  sein;  die  Frage  war  ernsthaft, 
Und  besonnen  verlangst  du  die  Antwort;  da  weiß  ich, 

beim  Himmel! 
Nicht,  wie  eben  sich  mir  der  Schalk  im  Busen  bewegte. 
Doch  ich  fahre  bedächtiger  fort.  Du  sagst  mir:  So  möchte 
Meinetwegen  die  Menge  sich  halten  im  Leben  und  Lesen, 
Wie  sie  könnte;  doch  denke  dir  nur  die  Töchter  im  Hause, 
Die  mir  der  kuppelnde  Dichter  mit  allem  Bösen  bekannt 

macht. 

Dem  ist  leichter  geholfen,  versetz  ich,  als  wohl  ein  andrer 
Denken  möchte.  Die  Mädchen  sind  gut  und  machen  sich 

gerne 
Was  zu  schaffen.  Da  gib  nur  dem  einen  die  Schlüssel  zum 

Keller, 
Daß  es  die  Weine  des  Vaters  besorge,  sobald  sie,  vom 

Winzer 
Oder  vom  Kaufmann  geliefert,  die  weiten  Gewölbe  be- 
reichern. 
Manches  zu  schaffen  hat  ein  Mädchen,  die  vielen  Gefäße, 
Leere  Fässer  und  Flaschen  in  reinlicher  Ordnung  zu  halten. 
Dann  betrachtet  sie  oftdes  schäumenden  Mostes  Bewegung, 
Gießt  das  Fehlende  zu,  damit  die  wallenden  Blasen 
Leicht  die  Öffnung  des  Fasses  erreichen,  trinkbar  und  helle 
Endlich  der  edelste  Saft  sich  künftigen  Jahren  vollende. 
Unermüdet  ist  sie  alsdann,  zu  füllen,  zu  schöpfen, 
Daß  stets  geistig  der  Trank  und  rein  die  Tafel  belebe. 

Laß  der  andern  die  Küche  zum  Reich;  da  gibt  es,  wahr- 
haftig! 
Arbeit  genug,  das  tägliche  Mahl  durch  Sommer  und  Winter 
Schmackhaft  stets  zu  bereiten  und  ohne  Beschwerde  des 

Beutels. 
Denn  im  Frühjahr  sorget  sie  schon,  im  Hofe  die  Küchlein 
Bald  zu  erziehen  imd  bald  die  schnatternden  Enten  zu 

füttern. 


1794/7  WEIMAR  337 

Alles,  was  ihr  die  Jabrszeit  gibt,  das  bringt  sie  beizeiten 

Dir  auf  den  Tisch  und  weiß  mit  jeglichem  Tage  die  Speisen 

Klug  zu  wechseln,  und  reift  nur  eben  der  Sommer  die 

Früchte, 

Denkt  sie  an  Vorrat  schon  für  den  Winter.   Im  kühlen 

Gewölbe 

Gärt  ihr  der  kräftige  Kohl,  und  reifen  im  Essig  die  Gurken; 

Aber  die  luftige  Kammer  bewahrt  ihr  die  Gaben  Pomonens. 

Gerne  nimmt  sie  das  Lob  vom  Vater  und  allen  Geschwistern; 

Und  mißlingt  ihr  etwas,  dann  ists  ein  größeres  Unglück, 

Als  wenn  dir  ein  Schuldner  entläuft  und  den  Wechsel 

zurückläßt. 

Immer  ist  so  das  Mädchen  beschäftigt  und  reifet  im  stillen 

Häuslicher  Tugend  entgegen,  den  klugen  Mann  zu  be- 
glücken. 

Wünscht  sie  dann  endlich  zu  lesen,  so  wählt  sie  gewißlich 

ein  Kochbuch, 

Deren  hunderte  schon  die  eifrigen  Pressen  uns  gaben. 

Eine  Schwester  besorget  den  Garten,  der  schwerlich  zur 

Wildnis, 
Deine  Wohnung  romantisch  und  feucht  zu  umgeben,  ver- 
dammt ist, 
Sondern  in  zierliche'  Beete  geteilt,  als  Vorhof  der  Küche, 
Nützliche  Kräuter  ernährt  und  jugendbeglückende  Früchte. 
Patriarchalisch  erzeuge  so  selbst  dir  ein  kleines  gedrängtes 
Königreich  und  bevölkre  dein  Haus  mit  treuem  Gesinde. 
Hast  du  der  Töchter  noch  mehr,  die  liebersitzen  und  stille 
Weibliche  Arbeit  verrichten,  da  ists  noch  besser;  die  Nadel 
Ruht  im  Jahre  nicht  leicht:  denn,  noch  so  häuslich  im 

Hause, 
Mögen  sie  öffentlich  gern  als  müßige  Damen  erscheinen. 
Wie  sich  das  Nähen  imd  Flicken  vermehrt,  das  W^aschen 

und  Biegein, 
Hundertfältig,  seitdem  in  weißer  arkadischer  Hülle 
Sich  das  Mädchen  gefällt,  mit  langen  Röcken  und  Schleppen 
Gassen  kehret  und  Gärten,  und  Staub  erreget  im  Tanzsaal. 
Wahrlich!  wären  mir  nur  der  Mädchen  ein  Dutzend  im 

Hause, 

GOETHE  XIV  aa. 


33»  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Niemals  war  ich  verlegen  um  Arbeit,    sie  machen  sich 

Arbeit 
Selber  genug;  es  sollte  kein  Buch  im  Laufe  des  Jahres 
Über  die  Schwelle  mir  kommen,  vom  Bücherverleiher  ge- 
sendet. 

[Bruchstück  einer  Epistel] 

Auch  die  undankbare  Natur  der  menschlichen  Seele 
Immer  zu  weiden,  mit  Gutem  zu  füllen  und  immer  zu 

sättgen. 
Was  nur  wiederkehrend  die  Kreise  des  wandlenden  Jahres 
Auch  an  Früchten  uns  bringen  und  mannigfaltiger  Anmut 

Denn  der  Körper  verlangt  und  ist  bequem  zu  ersättgen: 
Fülle  bringt  ihm  das  Jahr  an  wiederkehrenden  Früchten, 
Und  die  Erde  ernähret  ihm  tausendfältige  Nahrung. 
Auch  es  ist  ihm  vergönnt,  sich  in  dem  Garten  der  Liebe 
Reichlich  zu  weiden  imd  freudenvertauschend  sich  schön 

zu  erquicken. 

Aber  die  Seele  begehrt,  und  sie  wird  nimmer  befriedigt. 
Denn  sie  bildet  sich  ein,  sie  sei  von  höherem  Ursprung, 
Durch  ein  unwürdiges  Band  an  ihren  Gatten  gefesselt. 
Da  beträgt  sie  sich  übel  im  Hause;  die  hohen  Verwandten 
Liegen  ihr  immer  im  Sinn,  und  Sehnen  nach  Palästen 
Läßt  ihr  keine  Ruh  und  raubt  ihr  den  zärtlichen  Anteil 
An  dem  stilleren  Haushalt  und  an  der  engeren  Wohnung; 
Ja,  sie  verachtet  sogar  die  eigenen  Kinder  des  Gatten.   .,. 

MEERES  STILLE 

TIEFE  Stille  herrscht  im  Wasser, 
Ohne  Regimg  ruht  das  Meer,  '^ 

Und  bekümmert  sieht  der  Schififer 
Glatte  Fläche  ringsumher. 
Keine  Luft  von  keiner  Seite! 
Todesstille  fürchterlich! 
In  der  Ungeheuern  Weite 
Reget  keine  Welle  sich. 


1794/7  WEIMAR  339 

GLÜCKLICHE  FAHRT 

DIE  Nebel  zerreißen, 
Der  Himmel  ist  helle, 
Und  Äolus  löset 
Das  ängstliche  Band. 
Es  säuseln  die  Winde, 
Es  rührt  sich  der  Schiffer. 
Geschwinde!  Geschwinde! 
Es  teilt  sich  die  Welle, 
Es  naht  sich  die  Ferne; 
Schon  seh  ich  das  Land! 

MIGNON 

HEISS  mich  nicht  reden,  heiß  mich  schweigen, 
Denn  mein  Geheimnis  ist  mir  Pflicht; 
Ich  möchte  dir  mein  ganzes  Innre  zeigen, 
Allein  das  Schicksal  will  es  nicht. 

Zur  rechten  Zeit  vertreibt  der  Sonne  Lauf 

Die  finstre  Nacht,  vmd  sie  muß  sich  erhellen; 

Der  harte  Fels  schließt  seinen  Busen  auf, 

Mißgönnt  der  Erde  nicht  die  tiefverborgnen  Quellen. 

Ein  jeder  sucht  im  Arm  des  Freundes  Ruh, 
Dort  kann  die  Brust  in  Klagen  sich  ergießen; 
Allein  ein  Schwur  drückt  mir  die  Lippen  zu, 
Und  nur  ein  Gott  vermag  sie  aufzuschließen. 

HARFENSPIELER 

AN  die  Türen  will  ich  schleichen, 
Still  und  sittsam  will  ich  stehn; 
Fromme  Hand  wird  Nahrung  reichen. 
Und  ich  werde  weitergehn. 
Jeder  wird  sich  glücklich  scheinen. 
Wenn  mein  Bild  vor  ihm  erscheint; 
Eine  Träne  wird  er  weinen, 
Und  ich  weiß  nicht,  was  er  weint. 


340  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

PHILINE 

SINGET  nicht  in  Trauertönen 
Von  der  Einsamkeit  der  Nacht; 
Nein,  sie  ist,  o  holde  Schönen, 
Zur  Geselligkeit  gemacht. 

Wie  das  Weib  dem  Mann  gegeben 
Als  die  schönste  Hälfte  war, 
Ist  die  Nacht  das  halbe  Leben, 
Und  die  schönste  Hälfte  zwar. 

Könnt  ihr  euch  des  Tages  freuen, 
Der  nur  Freuden  unterbricht? 
Er  ist  gut,  sich  zu  zerstreuen, 
Zu  was  anderm  taugt  er  nicht. 

Aber  wenn  in  nächtger  Stunde 
Süßer  Lampe  Dämmrung  fließt, 
Und  vom  Mund  zum  nahen  Munde 
Scherz  und  Liebe  sich  ergießt; 

Wenn  der  rasche  lose  Knabe, 
Der  sonst  wild  und  feurig  eilt, 
Oft  bei  einer  kleinen  Gabe 
Unter  leichten  Spielen  weilt; 

Wenn  die  Nachtigall  Verliebten 
Liebevoll  ein  Liedchen  singt. 
Das  Gefangnen  und  Betrübten 
Nur  wie  Ach  und  Wehe  klingt: 

Mit  wie  leichtem  Herzensregen 
Horchet  ihr  der  Glocke  nicht. 
Die  mit  zwölf  bedächtgen  Schlägen 
Ruh  imd  Sicherheit  verspricht! 

Darum  an  dem  langen  Tage 
Merke  dir  es,  liebe  Brust: 
Jeder  Tag  hat  seine  Plage, 
Und  die  Nacht  hat  ihre  Lust. 


1794/7  WEIMAR  341 

AN  DIE  ERWÄHLTE 

HAND  in  Hand!  und  Lipp  auf  Lippe! 
Liebes  Mädchen,  bleibe  treu! 
Lebe  wohl!  und  manche  Klippe 
Fährt  dein  Liebster  noch  vorbei; 
Aber  wenn  er  einst  den  Hafen, 
Nach  dem  Sturme,  wieder  grüßt, 
Mögen  ihn  die  Götter  strafen, 
Wenn  er  ohne  dich  genießt. 

Frisch  gewagt  ist  schon  gewonnen, 
Halb  ist  schon  mein  Werk  vollbracht! 
Sterne  leuchten  mir  wie  Sonnen, 
Nur  dem  Feigen  ist  es  Nacht. 
War  ich  müßig  dir  zur  Seite, 
Drückte  noch  der  Kummer  mich; 
Doch  in  aller  dieser  Weite 
Wirk  ich  rasch  und  nur  für  dich. 

Schon  ist  mir  das  Tal  gefunden. 
Wo  wir  einst  zusammen  gehn 
Und  den  Strom  in  Abendstunden 
Sanft  hinunter  gleiten  sehn. 
Diese  Pappeln  auf  den  Wiesen, 
Diese  Buchen  in  dem  Hain! 
Ach,  und  hinter  allen  diesen 
Wird  doch  auch  ein  Hüttchen  sein. 

NÄHE  DES  GELIEBTEN 

ICH  denke  dein,  wenn  mir  der  Sonne  Schimmer 
Vom  Meere  strahlt; 
Ich  denke  dein,  wenn  sich  des  Mondes  Flimmer 
In  Quellen  malt. 

Ich  sehe  dich,  wenn  auf  dem  fernen  Wege 

Der  Staub  sich  hebt; 
In  tiefer  Nacht,  wenn  auf  dem  schmalen  Stege 

Der  Wandrer  bebt. 


342  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Ich  höre  dich,  wenn  dort  mit  dumpfem  Rauschen 

Die  Welle  steigt. 
Im  stillen  Haine  geh  ich  oft  zu  lauschen, 

Wenn  alles  schweigt. 

Ich  bin  bei  dir,  du  seist  auch  noch  so  ferne, 

Du  bist  mir  nah! 
Die  Sonne  sinkt,  bald  leuchten  mir  die  Sterne. 

O  wärst  du  da! 


WER  KAUFT  LIEBESGÖTTER? 

VON  allen  schönen  Waren, 
Zum  Markte  hergefahren. 
Wird  keine  mehr  behagen, 
Als  die  wir  euch  getragen 
Aus  fremden  Ländern  bringen. 
O  höret,  was  wir  singen! 
Und  seht  die  schönen  Vögel, 
Sie  stehen  zum  Verkauf. 

Zuerst  beseht  den  großen. 
Den  lustigen,  den  losen! 
Er  hüpfet  leicht  und  munter 
Von  Baum  und  Busch  herunter; 
Gleich  ist  er  wieder  droben. 
Wir  wollen  ihn  nicht  loben. 
O  seht  den  muntern  Vogel! 
Er  steht  hier  zum  Verkauf. 

Betrachtet  nun  den  kleinen, 
Er  will  bedächtig  scheinen, 
Und  doch  ist  er  der  lose. 
So  gut  als  wie  der  große; 
Er  zeiget  meist  im  stillen 
Den  allerbesten  Willen. 
Der  lose  kleine  Vogel, 
Er  steht  hier  zum  Verkauf. 


1794/7  WEIMAR  343 

O  seht  das  kleine  Täubchen, 
Das  liebe  Turtelweibchen! 
Die  Mädchen  sind  so  zierlich, 
Verständig  und  manierlich; 
Sie  mag  sich  gerne  putzen 
Und  eure  Liebe  nutzen. 
Der  kleine  zarte  Vogel, 
Er  steht  hier  zum  Verkauf. 

Wir  wollen  sie  nicht  loben, 
Sie  stehn  zu  allen  Proben. 
Sie  lieben  sich  das  Neue; 
Doch  über  ihre  Treue 
Verlangt  nicht  Brief  und  Siegel, 
Sie  haben  alle  Flügel. 
Wie  artig  sind  die  Vögel, 
Wie  reizend  ist  der  Kauf! 

TRIUMPH  DER  SCHULE 

WELCH  erhabner  Gedanke!  Uns  lehrt  der  unsterb- 
liche Meister, 
Künstlich  zu  teilen  den  Strahl,  den  wir  nur  einfach 

gekannt. 

DER  GEGNER 

NEU  ist  der  Einfall  doch  nicht,  man  hat  ja  selber  den 
höchsten, 
Einzigsten,  reinsten  BegriflF  Gottes  in  Teile  geteilt. 

VOSSENS  ALMANACH 

IMMER  zu,  du  redlicher  Voß!  Beim  neuen  Kalender 
Nenne  der  Deutsche  dich  doch,  der  dich  im  Jahre 

vergißt. 

DEUTSCHE  MONATSCHRIFT 

DEUTSCH  in  Künsten  gewöhnlich  heißt  mittelmäßig! 
und  bist  du, 
Deutscher  Monat,  vielleicht  auch  so  ein  deutsches  Pro- 
dukt 


k 


344  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

G.  D.  Z. 

DICH,  o  Dämon!  erwart  ich  und  deine  herrschenden 
Launen, 
Aber  im  härenen  Sack  schleppt  sich  ein  Kobold  dahin. 

URANIA 

DEINEN  heiligen  Namen  kann  nichts  entehren,  und 
wenn  ihn 
Auf  sein  Sudelgefäß  Ewald,  der  frömmelnde,  schreibt. 

MERKUR 

WIELAND  zeigt  sich  nur  selten,  doch  sucht  man  gern 
die  Gesellschaft, 
Wo  sich  Wieland  auch  nur  selten,  der  Seltene,  zeigt. 

HÖREN.  ERSTER  JAHRGANG 

EINIGE  wandeln  zu  ernst,  die  andern  schreiten  ver- 
wegen, 
Wenige  gehen  den  Schritt,  wie  ihn  das  Publikum  hält. 

MINERVA 

TROCKEN  bist  du  und  ernst,  doch  immer  die  würdige 
Göttin, 
Und  so  leihest  du  auch  gerne  den  Namen  dem  Heft. 

JOURNAL  DES  LUXUS  UND  DER  MODEN 

DU  bestrafest  die  Mode,  bestrafest  den  Luxus,  und 
beide 
Weißt  du  zu  fördern,  du  bist  ewig  des  Beifalls  gewiß. 

DIESER  MUSENALMANACH 

NUN  erwartet  denn  auch  für  seine  herzlichen  Gaben, 
Liebe  Kollegen,  von  euch  unser  Kalender  den 

Dank. 


1794/7  WEIMAR  345 

ARCHIV  DER  ZEIT 

UNGLÜCKSELIGE  Zeit!   Wenn  aus  diesem  Archiv 
dich  die  Nachwelt 
Schätzet,  wie  bettelhaft  stehst  du,  wie  hektisch  vor  ihr. 

FLORA 

FLORA  Deutschlands  Töchtern  gewidmet.    O!  brächte 
Pomona, 
Brächte  Hymen  doch  auch  Früchte  den  Guten  herbei. 

ALLGEMEINE  LITERATUR -ZEITUNG 

BLIEBE  das  Echte  nur  stehen  auf  deinen  Kolumnen, 
verschwände 
Schiefes  und  Halbes!  Alsdann  wäre  die  Gabe  zu  groß. 

FICHTES  WISSENSCHAFTSLEHRE 

WAS  nicht  Ich  ist,  sagst  du,  ist  nur  ein  Nicht-Ich. 
Getroflfen, 
Freund!  So  dachte  die  Welt  längst  und  so  handelte  sie. 

(..  TASCHENBUCH 

VIELE  Läden  und  Häuser  sind  offen  in  südlichen  Län- 
dern, 
Und  man  sieht  das  Gewerb,  aber  die  Armut  zugleich. 


f  XENIEN 

von  Schiller  und  Goetht 
DER  ÄSTHETISCHE  TORSCHREIBER 

HALT,  Passagiere!    Wer  seid  ihr?   Wes  Standes  und 
Charakteres: 
Niemand  passieret  hier  durch,  bis  er  den  Paß  mir  ge- 
zeigt. 


I 


346  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

XENIEN 

DISTICHEN  sind  wir.  Wir  geben  uns  nicht  für  mehr 
noch  für  minder. 
Sperre  du  immer,  wir  ziehn  über  den  Schlagbaum  hin- 
weg. 

VISITATOR 

OFFNET  die  Koffers.    Ihr  habt  doch  nichts  Kontre- 
bandes  geladen? 
Gegen  die  Kirche?  den  Staat?  Nichts  von  französischem 

Gut? 

XENIEN 

KOFFERS  führen  wir  nicht.    Wir  führen  nicht  mehr, 
als  zwei  Taschen 
Tragen,  und  die,  wie  bekannt,  sind  bei  Poeten  nicht 

schwer.  ^ 

] 

DER  MANN  MIT  DEM  KLINGELBEUTEL  ^ 

MESSIEURS!  Es  ist  der  Gebrauch:  wer  diese  Straße  ,, 
bereiset. 
Legt  für  die  Dummen  was,  für  die  Gebrechlichen  ein. 

HELF  GOn^ 

DAS  verwünschte  Gebettel!    Es  haben  die  vorderen 
Kutschen 

Reichlich  für  uns  mit  bezahlt.  Geben  nichts.  Kutscher,  " 

fahr  zu. 

DER  GLÜCKSTOPF 

HIER  ist  Messe,  geschwind,  packt  aus  und  schmücket 
die  Bude, 
Kommt,  Autoren,  und  zieht,  jeder  versuche  sein  Glück. 

DIE  KUNDEN 

WENIGE  Treffer  sind  gewöhnlich  in  solchen  Butiken; 
Doch  die  Hoffnung  treibt  frisch  und  die  Neu- 
gier herbei. 


J 


I 


1794/7  WEIMAR  347 

DAS  WIDERWÄRTIGE 

DICHTER  und  Liebende  schenken  sich  selbst,  doch 
Speise  voll  Ekel! 
Dringt  die  gemeine  Natur  sich  zum  Genüsse  dir  auf! 

DAS  DESIDERATUM 

HÄTTEST   du  Phantasie  und  Witz  und  Empfindung 
imd  Urteil, 
Wahrlich,  dir  fehlte  nicht  viel,  Wieland  und  Lessing  zu 
M  sein! 

AN  EINEN  GEWISSEN  MORALISCHEN  DICHTER 

JA,  der  Mensch  ist  ein  ärmlicher  Wicht,  ich  weiß — doch 
das  wollt  ich 
Eben  vergessen,  und  kam,  ach,  wie  gereut  michs,  zu  dir. 

FÜR  TÖCHTER  EDLER  HERKUNFT 

TÖCHTERN  edler  Geburt  ist  dieses  Werk  zu  emp- 
fehlen. 
Um  zu  Töchtern  der  Lust  schnell  sich  befördert  zu  sehn. 

DER  KUNSTGRIFF 

WOLLT  ihr  zugleich  den  Kindern  der  Welt  und  den 
Frommen  gefallen: 
Malet  die  Wollust — nur  malet  den  Teufel  dazu. 

DER  TELEOLOG 

WELCHE  Verehrung  verdient  der  Weltenschöpfer, 
der  gnädig. 
Als  er  den  Korkbaum  schuf,  gleich  auch  die  Stöpsel 

erfand! 

DER  ANTIQUAR 

WAS  ein  christliches  Auge  nur  sieht,  erblick  ich  im 
Marmor: 
Zeus  und  sein  ganzes  Geschlecht  grämt  sich  und  fürchtet 

den  Tod. 


348  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

DER  KENNER 

ALTE  Vasen  und  Urnen!    Das  Zeug  wohl  könnt  ich 
entbehren; 
Doch  ein  Majolika-Topf  machte  mich  glücklich  und  reich. 

ERREURS  ET  VfiRITfi 

IRRTUM  wolltest  du  bringen  und  Wahrheit,  o  Bote  von 
Wandsbeck; 
Wahrheit,  sie  war  dir  zu  schwer;  Irrtum,  den  brachtest 

du  fort! 

DER  PROPHET 

SCHADE,  daß  die  Natur  nur  einen  Menschen  aus  dir  schuf, 
Denn  zum  würdigen  Mann  war  und  zum  Schelmen 

der  Stoff. 

DAS  AMALGAMA 

ALLES  mischt  die  Natur  so  einzig  und  innig,  doch  hat  sie 
Edel-  imd  Schalksinn  hier,  ach!  nur  zu  innig  ver- 
mischt. 

DER  ERHABENE  STOFF 

DEINE  Muse  besingt,  wie  Gott  sich  der  Menschen  er- 
barmte, 
Aber  ist  das  Poesie,  daß  er  erbärmlich  sie  fand? 

BELSAZER  EIN  DRAMA 

KÖNIG  Belsazer  schmaust  in  dem  ersten  Akte,  der 
König 
Schmaust  in  dem  zweiten,  es  schmaust  fort  bis  zu  Ende 

der  Fürst. 

GEWISSE  ROMANHELDEN 

OHNE  das  mindeste  nur  dem  Pedanten  zu  nehmen,  er- 
schufst du, 
Künstler  wie  keiner  mehr  ist,  einen  vollendeten  Geck. 


1794/7  WEIMAR  349 

PFARRER  CYLLENIUS 

STILL  doch  von  deinen  Pastoren  und  ihrem  Zofen- 
französisch, 
Auch  von  den  Zofen  nichts  mehr  mit  dem  Pastoren- 
latein! 


I 


JAMBEN 


JAMBE  nennt  man  das  Tier  mit  einem  kurzen  und  langen 
Fuß,  und  so  nennst  du  mit  Recht  Jamben  das  hinkende 

Werk. 

NEUSTE  SCHULE 

EHMALS  hatte  man  Einen  Geschmack.  Nun  gibt  es  Ge- 
schmäcke; 
Aber  sagt  mir,  wo  sitzt  dieser  Geschmäcke  Geschmack? 

AN  DEUTSCHE  BAULUSTIGE 

KAMTSCH ADALISCH  lehrt  man  euch  bald  die  Zim- 
mer verzieren, 
Und  doch  ist  manches  bei  euch  schon  kamtschadalisch 

genug. 

AFFICHE 

STILLE  kneteten  wir  Salpeter,  Kohlen  und  Schwefel, 
Bohrten  Röhren;  gefall  nun  auch    das   Feuerwerk 

euch. 

ZUR  ABWECHSLUNG 

EINIGE   steigen   als  leuchtende  Kugeln,   und  andere 
zünden, 
Manche  auch  werfen  wir  nur  spielend,  das  Aug  zu  er- 

freun. 


DER  ZEITPUNKT 

EINE  große  Epoche  hat  das  Jahrhundert  geboren, 
Aber  der  große  Moment  findet  ein  kleines  Geschlecht. 


350  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

COLONES  ZEITALTER 

OB  die  Menschen  im  ganzen  sich  bessern?  Ich  glaub  es, 
denn  einzeln, 
Suche  man,  ,wie  man  auch  will,  sieht  man  doch  gar 

nichts  davon. 

MANSO,  VON  DEN  GRAZIEN 

HEXEN  lassen  sich   wohl   durch   schlechte   Sprüche 
zitieren, 
Aber  die  Grazie  kommt  nur  auf  der  Grazie  Ruf. 

TASSOS  JERUSALEM,  VON  DEMSELBEN 

EIN  asphaltischer  Sumpf  bezeichnet  hier  noch  die  Stätte, 
Wo  Jerusalem  stand,  das  uns  Torquato  besang. 

DIE  KUNST,  ZU  LIEBEN 

AUCH  zum  Lieben  bedarfst  du  der  Kunst?   Unglück- 
licher Manso, 
Daß  die  iVa/wr  auch  nichts,  gar  nichts  für  dich  noch  getan! 

DER  SCHULMEISTER  ZU  BRESLAU 

IN  langweiligen  Versen  und  abgeschmackten  Gedanken 
Lehrt  ein  Präzeptor  uns  hier,  wie  man  gefällt  und  ver- 
führt. 

AMOR  ALS  SCHULKOLLEGE 

WAS  das  entsetzlichste  sei  von  allen  entsetzlichen 
Dingen? 
Ein  Pedant,  den  es  juckt,  locker  und  lose  zu  sein. 

DER  ZWEITE  OVID 

ARMER  Naso,  hättest  du  doch  wie  Manso  geschrieben, 
Nimmer,  du  guter  Gesell,  hättest  du  Tomi  gesehn. 

DAS  UNVERZEIHLICHE 

ALLES  kann  mißlingen,  wir  könnens  ertragen,  ver- 
geben; 
Nur  nicht,  was  sich  bestrebt,  reizend  imd  lieblich  zu  sein. 


1794/7   WEIMAR  351 

PROSAISCHE  REIMER 

WIELAND,  wie  reich  ist  dein  Geist!  Das  kann  man 
nun  erst  empfinden, 
Sieht  man,  wie  fad  und  wie  leer  dein  caput  mortuutn  ist. 

^  JEAN  PAUL  RICHTER 

HIELTEST  du  deinen  Reichtum  nur  halb  so  zu  Rate, 
wie  jener 
Seine  Armut,  du  wärst  unsrer  Bewimderung  wert. 

AN  SEINEN  LOBREDNER 

MEINST  du,  er  werde  größer,  wenn  du  die  Schultern 
ihm  leihest? 
Er  bleibt  klein  wie  zuvor,  du  hast  den  Höcker  davon. 

FEINDLICHER  EINFALL 

FORT  ins  Land  der  Philister,  ihr  Füchse  mit  brennen- 
den Schwänzen, 
jbt  Und  verderbet  der  Herrn  reife  papierene  Saat! 

NEKROLOG 

UNTER  allen,  die  von  uns  berichten,  bist  du  mir  der 
liebste; 
t.  Wer  sich  lieset  in  dir,  liest  dich,  zum  Glücke  nicht  mehr. 

"    BIBLIOTHEK  SCHÖNER  WISSENSCHAFTEN 

JAHRELANG  schöpfen  wir  schon  in  das  Sieb  und  brüten 
den  Stein  aus, 
Aber  der  Stein  wird  nicht  warm,  aber  das  Sieb  wird 

nicht  voll. 
DIESELBE 

INVALIDEN  Poeten  ist  dieser  Spittel  gestiftet, 
Gicht  imd  Wassersucht  wird  hier  von  der  Schwind- 
sucht gepflegt. 

DIE  NEUESTEN  GESCHMACKSRICHTER 

DICHTER,  ihr  armen,  was  müßt  ihr  nicht  alles  hören, 
damit  nur 
^     Sein  Exerzitium  schnell  lese  gedruckt  der  Student! 


I 


352  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

AN  SCHWÄTZER  UND  SCHMIERER 

TREIBET  das  Handwerk  nur  fort,  wir  könnens  euch 
freilich  nicht  legen; 
Aber  nihig,  das  glaubt,  treibt  ihr  es  künftig  nicht  mehr. 

GUERRE  OUVERTE 

LANGE  neckt  ihr  uns  schon,  doch  immer  heimlich  und 
tückisch; 
Krieg  verlangtet  ihr  ja,  führt  ihn  mm  offen,  den  Krieg. 


AN  GEWISSE  KOLLEGEN 
ÖGT  ihr  die  schlechten  Regenten  mit  strengen 

Worten  verfolgen, 
Aber  schmeichelt  doch  auch  schlechten  Autoren  nicht 

mehr! 


M 


AN  DIE  HERREN  N.  O.  P. 

EUCH  bedaur  ich  am  meisten,  ihr  wähltet  gerne  das  Gute, 
Aber  euch  hat  die  Natur  gänzlich  das  Urteil  versagt. 

DER  KOMMISSARIUS  DES  JÜNGSTEN  GERICHTS 

NACH  Kalabrien  reist  er,  das  Arsenal  zu  besehen. 
Wo  man  die  Artillerie  gießt  zu  dem  Jüngsten  Ge- 
richt. 


KANT  UND  SEINE  AUSLEGER 
IE  doch  ein  einziger  Reicher  so  viele  Bettler  in 

Nahrung 
Setzt!  Wenn  die  Könige  baun.  haben  die  Kärrner  zu  tun. 


V7 


J-B. 

STEIL  wohl  ist  er,  der  Weg  zur  Wahrheit,  und  schlüpfrig 
zu  steigen, 
Aber  wir  legen  ihn  doch  nicht  gern  auf  Eseln  zurück. 

DIE  STOCKBLINDEN 

BLINDE,  weiß  ich  wohl,  fühlen,  und  Taube  sehen  viel 
schärfer; 
Aber  mit  welchem  Organ  philosophiert  denn  das  Volk? 


1794/7   WEIMAR  353 

F  ANALYTIKER 

IST  denn  die  Wahrheit  ein  Zwiebel,  von  dem  man  die 
Häute  nur  abschält? 
Was  ihr  hinein  nicht  gelegt,  ziehet  ihr  nimmer  heraus. 

DER  GEIST  UND  DER  BUCHSTABE 


^ 


LANGE  kann  man  mit  Marken,  mit  Rechenpfennigen 
zahlen; 
J    Endlich,  es  hilft  nichts,  ihr  Herrn,  muß  man  den  Beutel 
doch  ziehn. 
WISSENSCHAFTLICHES  GENIE 

WIRD  der  Poet  nur  geboren?  Der  Philosoph  wirds 
nicht  minder. 
Alle  Wahrheit  zuletzt  wird  nur  gebildet,  geschaut. 

DIE  BORNIERTEN  KÖPFE 

ETWAS  nützet  ihr  doch:  die  Vernunft  vergißt  des  Ver- 
standes 
Schranken  so  gern,  und  die  stellet  ihr  redlich  uns  dar. 

BEDIENTENPFLICHT 

REIN  zuerst  sei   das  Haus,  in  welchem  die  Königin 
einzieht ; 
Frisch  denn,  die  Stuben  gefegt!  dafür,  ihr  Herrn,  seid 

ihr  da. 

UNGEBÜHR 

ABER,   erscheint  sie  selbst  —  hinaus  vor  die  Türe, 
Gesinde! 
Auf  den  Sessel  der  Frau  pflanze  die  Magd  sich  nicht 

hin. 

WISSENSCHAFT 

EINEM  ist  sie  die  hohe,  die  himmlische  Göttin,  dem 
andern 
Eine  tüchtige  Kuh,  die  ihn  mit  Butter  versorgt. 

GOETHE  XI V  33. 


354  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

AN  KANT 


VORNEHM  nennst  du  den  Ton  der  neuen  Propheten? 
Ganz  richtig; 
Vornehm  philosophiert,  heißt:  wie  Roture  gedacht. 

DER  KURZWEILIGE  PHILOSOPH 

EINE  spaßhafte  Weisheit  doziert  hier  ein  lustiger  Dok- 
tor, 
Bloß  dem  Namen  nach  Ernst ^  und  in  dem  lustigsten 

Saal. 

VERFEHLTER  BERUF 

SCHADE,  daß  ein  Talent  hier  auf  dem  Katheder  ver- 
hallet, 
Das  auf  höherm  Gerüst  hätte  zu  glänzen  verdient. 

DAS  PHILOSOPHISCHE  GESPRÄCH 

EINER,  das  höret  man  wohl,  spricht  nach  dem  andern, 
doch  keiner 
Mit  dem  andern;  wer  nennt  zwei  Monologen  Gespräch? 

DAS  PRIVILEGIUM 

DICHTER  und  Kinder,  man  gibt  sich  mit  beiden  nur 
ab,  um  zu  spielen; 
Nim,  so  erboset  euch  nicht,  wird  euch  die  Jugend  zu 

laut. 


J 


LITERARISCHER  ZODIAKUS 

ETZO,  ihr  Distichen,  nehmt  euch   zusammen,  es  tut 

sich  der  Tierkreis 

Grauend  euch  auf;  mir  nach,  Kinder!  wir  müssen  hin- 
durch. 

ZEICHEN  DES  WIDDERS 

AUF  den  Widder  stoßt  ihr  zunächst,  den  Führer  der 
Schafe; 
Aus  dem  Dykischen  Pferch  springet  er  trotzig  hervor. 


,  1794/7  WEIMAR  355 

*  ZEICHEN  DES  STIERS 

NEBENAN  gleich  empfängt  euch  sein  Namensbruder; 
mit  stumpfen 
Hörnern,  weicht  ihr  nicht  aus,  stößt  euch  dtx  Hallische 

Ochs. 

ZEICHEN  DES  FUHRMANNS 

ALSOBALD   knallet  in  G**   des   Reiches   würdiger 
Schwager; 
Zwar  er  nimmt  euch  nicht  mit,  aber  er  fährt  doch  vorbei. 

ZEICHEN  DER  ZWILLINGE 

KOMMT  ihr  den  Zwillingen  nah,  so  sprecht  nur:  Ge- 
lobet sei  J — 
C — !  "In  Ewigkeit"  gibt  man  zimi  Gruß  euch  zurück. 

ZEICHEN  DES  BARS 

NÄCHST  daran  strecket  der  Bär  zu  K**  die  bleier- 
nen Tatzen 
Gegen  euch  aus,  doch  er  fängt  euch  nur  die  Fliegen 

vom  Kleid. 

ZEICHEN  DES  KREBSES 

GEHT  mir  dem  Krebs  in  B***  aus  dem  Weg;  manch 
lyrisches  Blümchen, 
Schwellend  in  üppigem  Wuchs,  kneipte  die  Schere  zu 

Tod. 

ZEICHEN  DES  LÖWEN 

JETZO  nehmt  euch  in  acht  vor  dem  wackem  Eutini- 
schen Leuen, 
Daß  er  mit  griechischem  Zahn  euch  nicht  verwunde 

den  Fuß. 

ZEICHEN  DER  JUNGFRAU 

BÜCKET  euch,  wie  sichs  geziemt,  vor  der  zierlichen  Jung- 
frau zu  Weimar-, 
Schmollt  sie  auch  oft— wer  verzeiht  Launen  der  Grazie 

nicht? 


3S6  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

ZEICHEN  DES  RABEN 

VOR  dem  Raben  nur  sehet  euch  vor,  der  hinter  ihr 
krächzet; 
Das  Nekrologische  Tier  setzt  auf  Kadaver  sich  nur. 

LOCKEN  DER  BERENICE 

SEHET  auch,  wie  ihr  in  S***  den  groben  Fäusten  ent- 
schlüpfet, 
Die  Berenices  Haar  striegeln  mit  eisernem  Kamm. 

ZEICHEN  DER  WAGE 

JETZO  wäre  der  Ort,  daß  ihr  die  Wage  beträtet; 
Aber  dies  Zeichen  ward  längst  schon  am  Himmel  ver- 
mißt. 

ZEICHEN  DES  SKORPIONS 

ABER  nun  kommt  ein  böses  Insekt  aus  G — b— n  her, 
Schmeichelnd  naht  es;  ihr  habt,  flieht  ihr  nicht 

eilig,  den  Stich. 
OPHIUCHUS 

DROHEND  hält  euch  die  Schlang  jetzt    Ophiuchus 
entgegen; 
Fürchtet  sie  nicht,  es  ist  nur  der  getrocknete  Balg 

ZEICHEN  DES  SCHÜTZEN 

SEID  ihr  da  glücklich  vorbei,  so  naht  euch  dem  zielen- 
den Hofrat 
Schütz  nur  getrost,  er  liebt  und  er  versteht  auch  den 

Spaß. 

GANS 

LASST  sodann  ruhig  die  Gans  in  L***g  und  G**a 
gagagen; 
Die  beißt  keinen,  es  quält  nur  ihr  Geschnatter  das  Ohr. 

ZEICHEN  DES  STEINBOCKS 

IM  Vorbeigehn  stutzt  mir  den  alten  Berlinischen  Stein- 
bock; 
Das  verdrießt  ihn;  so  gibts  etwas  zu  lachen  fürs  Volk. 


I 


1704/7   WEIMAR  357 

ZEICHEN  DES  PEGASUS 

ABER  seht  ihr  in  B****  den  Grad^  ad Parnassum,  so 
bittet 
Höflich  ihm  ab,  daß  ihr  euch  eigene  Wege  gewählt. 

ZEICHEN  DES  WASSERMANNS 

ÜBRIGENS  haltet  euch  ja  von  dem  Dr***r  Wasser- 
mann ferne, 
Daß  er  nicht  über  euch  her  gieße  den  Elbestrom  aus. 

ERIDANUS 

AN  des  Eridanus  Ufern   imigeht  mir  die  furchtbare 
Waschfrau, 
Welche  die  Sprache  des  Teut  säubert  mit  Lauge  und 

Sand. 

FISCHE 

SEHT  ihr  in  Leipzig  die  Fischlein,  die  sich  in  Sulzers 
Zisterne 
Regen,  so  fangt  euch  zur  Lust  einige  Grundein  heraus. 

DER  FLIEGENDE  FISCH 

NECKT  euch  in  Breslau  der  fliegende  Fisch,  erwar- 
tets  geduldig; 
In  sein  wäßrigtes  Reich  zieht  ihn  Neptun  bald  hinab. 

GLÜCK  AUF  DEN  WEG 

MANCHE  Gefahren  umringen  euch  noch,  ich  hab  sie 
verschwiegen; 
Aber  wir  werden  uns  noch  aller  erinnern  —  niu:  zu! 

DIE  AUFGABE 

WEM  die  Verse  gehören?  Ihr  werdet  es  schwerlich 
erraten; 
Sondert,  wenn  ihr  nun  könnt,  o  Chorizonten,  auch  hier! 


358  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

WOHLFEILE  ACHTUNG 

SELTEN  erhaben  und  groß  und  selten  würdig  der  Liebe, 
Lebt  er  doch  immer,  der  Mensch,  und  wird  geehrt 

und  geliebt. 

DAS  DEUTSCHE  REICH 

DEUTSCHLAND?  Aber  wo  liegt  es?  Ich  weiß  das  Land 
nicht  zu  finden; 
Wo  das  gelehrte  beginnt,  hört  das  politische  auf. 


z 


DEUTSCHER  NATIONALCHARAKTER 

UR  Nation  euch  zu  bilden,  ihr  hofifet  es,  Deutsche, 

vergebens; 
Bildet,  ihr  könnt  es,  dafür  freier  zu  Menschen  euch  aus. 


DONAU  IN  B** 

BACCHUS  der  lustige  führt  mich  und  Komus  der  fette 
durch  reiche 
Triften,  aber  verschämt  bleibet  die  Charis  zurück. 

AN  DEN  LESER 

LIES  uns  nach  Laune,  nach  Lust,  in  trüben,  in  fröhlichen 
Stunden, 
Wie  uns  der  gute  Geist,  wie  uns  der  böse  gezeugt. 


V 


GEWISSEN  LESERN 

lELE  Bücher  genießt  ihr,  die  ungesalzen;  verzeihet, 
Daß  dies  Büchelchen  uns  überzusalzen  beliebt. 


z 


DIALOGEN  AUS  DEM  GRIECHISCHEN 

UR  Erbauung  andächtiger  Seelen  hat  F***  S***, 
Graf  und  Poet  und  Christ,  diese  Gespräche  ver- 
deutscht. 


A 


DER  ERSATZ 

LS  du  die  griechischen  Götter  geschmäht,  da  warf 

dich  Apollo 
Von  dem  Parnasse;  dafür  gehst  du  ins  Himmelreich  ein. 


1794/7  WEIMAR  359 

DER  MODERNE  HALBGOTT 

CHRISTLICHER  Herkules,  du  ersticktest  so  gerne  die 
Riesen; 
Aber  die  heidnische  Brut  steht,  Herkuliskus!  noch  fest. 


I 


CHARIS 
ST  dies  die  Frau  des  Künstlers  Vulkan?  Sie  spricht  von 

dem  Handwerk, 
Wie  es  des  Roturiers  adliger  Hälfte  geziemt. 


w 


NACHBILDUNG  DER  NATUR 
AS  nur  Einer  vermag,  das  sollte  nur  Einer  uns 

schildern: 
Voß  nur  den  Pfarrer  und  nur  Iffland  den  Förster  allein. 

NACHÄFFER 

ABER  da  meinen  die  Pfuscher,  ein  jeder  Schwarzrock 
und  Grünrock 
Sei,  auch  an  und  für  sich,  unsrer  Beschauung  schon  wert. 


1 


KLINGKLANG 

N  der  Dichtkunst  hat  er  mit  Worten  herzlos  geklingelt, 
In  der  Philosophie  treibt  er  es  pfäffisch  so  fort. 


AN  GEWISSE  UMSCHOPFER    • 
"V  TICHTS  soll  werden  das  Etwas,  daß  Nichts  sich  zu 
1  N  Etwas  gestalte; 

Laß  das  Etwas  nur  sein!  nie  wird  zu  Etwas  das  Nichts. 

AUFMUNTERUNG 

DEUTSCHLAND  fragt  nach  Gedichten  nicht  viel;  ihr 
kleinen  Gesellen, 
Lärmt,  bis  jeglicher  sich  wundernd  ans  Fenster  begibt. 


A 


DAS  BRÜDERPAAR 
LS  Zentauren  gingen  sie  einst  durch  poetische  Wälder, 
Aber  das  wilde  Geschlecht  hat  sich  geschwinde  be- 
kehrt. 


36o  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

TT** 

HÖRE  den  Tadler!  Du  kannst,  was  er  noch  vermißt, 
dir  erwerben; 
Jenes,  was  nie  sich  erwirbt,  freue  dich!  gab  dir  Natur. 

DER  LEVIATHAN  UND  DIE  EPIGRAMME 

FÜRCHTERLICH  bist  du  im  Kampf,  nur  brauchst  du 
etwas  viel  Wasser; 
Aber  versuch  es  einmal,  Fisch,  in  den  Lüften  mit  tms. 

LUISE  VON  VOSS 

WAHRLICH,  es  füllt  mit  Wonne  das  Herz,  dem  Ge- 
sänge zu  horchen. 
Ahmt  ein  Sänger,  wie  der.  Töne  des  Altertums  nach. 

JUPITERS  KETTE 

HÄNGEN  auch  alle  Schmierer  tmd  Reimer  sich  an  dich, 
sie  ziehen 
Dich  nicht  hinunter;  doch  du  ziehst  sie  auch  schwerlich 

hinauf. 

AUS  EINER  DER  NEUESTEN  EPISTELN 

KLOPSTOCK,  der  ist  mein  Mann,  der  in  neue  Phrasen 
gestoßen, 
Was  er  im  höllischen  Pfuhl  Hohes  und  Großes  vernahm. 

B**S  TASCHENBUCH 

EINE  Kollektion  von  Gedichten.^  Eine  Kollekte 
Nenn  es,  der  Armut  zulieb  und  bei  der  Armut  gemacht. 

EIN  DEUTSCHES  MEISTERSTÜCK 

ALLES  an  diesem  Gedicht  ist  vollkommen,  Sprache, 
Gedanke, 
Rhythmus;  das  Einzige  nur  fehlt  noch:  es  ist  kein  Gedicht. 

UNSCHULDIGE  SCHWACHHEIT 

UNSRE  Gedichte  nur  triflft  dein  Spott?"   O  schätzet 
euch  glücklich, 
Daß  das  Schlimmste  an  euch  eure  Erdichtungen  sind. 


^  1794/7  WEIMAR  361 

i 

DAS  NEUESTE  AUS  ROM 

RAUM  und  Zeit  hat  man  wirklich  gemalt;  es  steht  zu 
erwarten, 
Daß  man  mit  ähnlichem  Glück  nächstens  die  Tugend 

tms  tanzt. 


DEUTSCHES  LUSTSPIEL 
tten  wir  wohl,  wir  hätten  Fratz 
Leider  helfen  sie  nur  selbst  zur  Komödie  nichts. 


^T^OREN  hätten  wir  wohl,  wir  hätten  Fratzen  die  Menge; 


DAS  MÄRCHEN 

MEHR  als  zwanzig  Personen  sind  in  dem  Märchen 
geschäftig. 
"Nun,  und  was  machen  sie  denn  alle?"   Das  Märchen, 

mein  Freund. 

FRIVOLE  NEUGIER 

DAS  verlohnte  sich  auch,  den  delphischen  Gott  zu  be- 
mühen, 
Daß  er  dir  sage,  mein  Freund,  wer  der  Armenier  war. 

BEISPIELSAMMLUNG 

NICHT  bloß  Beispielsammlung,  nein,  selber  ein  war- 
nendes Beispiel, 
Wie  man  nimmermehr  soll  sammeln  für  guten  Ge- 
schmack. 

MIT  ERLAUBNIS 
"K  TIMMS  nicht  übel,  daß  nun  auch  deiner  gedacht  wird! 
1  N  Verlangst  du 

Das  Vergnügen  umsonst,  daß  man  den  Nachbar  vexiert? 

DER  SPRACHFORSCHER 

ANATOMIEREN  magst  du  die  Sprache,  doch  nur  ihr 
Kadaver; 
Geist  und  Leben  entschlüpft  flüchtig  dem  groben  Skal- 
pell. 


362  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

GESCHICHTE  EINES  DICKEN  MANNES 
(Man  sehe  die  Rezension  davon  in  der  N.  deutschen  Bibliothek.) 

DIESES  Werk  ist  diirchaus  nicht  in   Gesellschaft  zu 
lesen, 
Da  es,  wie  Rezensent  rühmet,  die  Blähungen  treibt. 

ANEKDOTEN  VON  FRIEDRICH  H. 

VON    dem   unsterblichen  Friedrich,   dem  Einzigen, 
handelt  in  diesen 
Blättern  der  zehenmalzehn  tausendste  sterbliche  Fritz. 


LITERATURBRIEFE 

AUCH  Nicolai  schrieb  an  dem  trefflichen  Werk?    Ich 
wills  glauben; 
Mancher  Gemeinplatz  auch  steht  in  dem  trefiflichen 

Werk. 

GEWISSE  MELODIEN 

DIES  ist  Musik  fürs  Denken!    Solang  man  sie  hört, 
bleibt  man  eiskalt; 
Vier,  fünf  Stunden  daraufmacht  sie  erst  rechten  Effekt. 

I 

ÜBERSCHRIFTEN  DAZU 

FROSTIG  und  herzlos  ist  der  Gesang,  doch  Sänger  und 
Spieler 
.    Werden  oben  am  Rand  höflich  zu  fühlen  ersucht. 

DER  BÖSE  GESELLE 

DICHTER,  bitte  die  Musen,  vor  ihm  dein  Lied  zu  be- 
wahren! 
Auch  dein  leichtestes  zieht  nieder  der  schwere  Gesang. 

KARL  VON  KARLSBERG 

WAS  der  berühmte  Verfasser  des   'Menschlichen 
Elends'  verdiene? 
Sich  in  der  Charit^  gratis  verköstigt  zu  sehn. 


1794/7  WEIMAR  363 

i  SCHRIFTEN  FÜR  DAMEN  UND  KINDER 

BIBLIOTHEK  für  das  andre  Geschlecht,  nebst  Fabeln 
für  Kinder": 
Also  für  Kinder  nicht,  nicht  für  das  andre  Geschlecht. 

DIESELBE 

IMMER  für  Weiber  und  Kinder!  Ich  dächte,  man  schriebe 
für  Männer 
Und  überließe  dem  Mann  Sorge  für  Frau  und  für  Kind! 

GESELLSCHAFT  VON  SPRACHFREUNDEN 

Owie  schätz  ich  euch  hoch!    Ihr  bürstet  sorglich  die 
Kleider 
Unsrer  Autoren,  und  wem  fliegt  nicht  ein  Federchen  an? 

DER  PURIST 

SINNREICH  bist  du,  die  Sprache  von  fremden  Wörtern 
zu  säubern; 
Nun,   so    sage   doch,    Freund,   wie   man  Pedant  uns 

verdeutscht. 

VERNÜNFTIGE  BETRACHTUNG 

WARUM  plagen  wir  einer  den  andern?   Das  Leben 
zerrinnet, 
Und  es  versammelt  uns  nur  einmal  wie  heute  die  Zeit. 

AN** 

GERNE  plagt  ich  auch  dich,  doch  es  will  mir  mit  dir 
nicht  gelingen; 
Du  bist  zum  Ernst  mir  zu  leicht,  bist  für  den  Scherz 

mir  zu  plump. 

AN*** 

NEIN!  Du  erbittest  mich  nicht.  Du  hörtest  dich  gerne 
verspottet. 
Hörtest  du  dich  nur  genannt;  darum  verschon  ich  dich, 

Freund. 


I 


364  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

GARVE 

HÖR  ich  über  Geduld  dich,  edler  Leidender,  reden, 
O  wie  wird  mir  das  Volk  frömmelnder  Schwätzer 

verhaßt. 


AUF  GEWISSE  ANFRAGEN 
jB  dich  der  Genius  ruft?  Ob  du  dem  rufenden  folgest: 
wenn  du  mich  fragst  —  nein!   Folge  dem  rufen- 
den nicht. 


OB  die 
Ja, 


STOSSGEBET 

VOR  dem  Aristokraten  in  Lumpen  bewahrt  mich,  ihr 
Götter, 
Und  vor  dem  Sanscülott  auch  mit  Epauletten  und  Stern. 

DISTINKTIONSZEICHEN 

UNBEDEUTEND  sind  doch  auch  manche  von  euren 
Gedichtchen!- 
Freilich,  zu  jeglicher  Schrift  braucht  man  auch  Komma 

und  Punkt. 

DIE  ADRESSEN 

ALLES  ist  nicht  für  alle,  das  wissen  wir  selber;  doch 
nichts  ist 
Ohne  Bestimmung,  es   nimmt  jeder    sich  selbst  sein 

Paket. 

SCHÖPFUNG  DURCH  FEUER 

ARME  basaltische  Säulen!   Ihr  solltet  dem  Feuer  ge-^ 
hören,  .'| 

Und  doch  sah  euch  kein  Mensch  je  aus  dem  Feuer 

entstehn. 

MINERALOGISCHER  PATRIOTISMUS 

JEDERMANN  schürfte  bei  sich  auch  nach  Basalten  und 
Lava, 
Denn  es  klinget  nicht  schlecht:  hier  ist  vulkanisch 

Gebirg! 


1794/7  WEIMAR  365 

KURZE  FREUDE 

ENDLICH  zog  man  sie  wieder  ins  alte  Wasser  herunter, 
Und  es  löscht  sich  nun  bald  dieser  entzündete  Streit. 

DIE  MÖGLICHKEIT 

LIEGT  der  Irrtum  nur  erst,  wie  ein  Grundstein,  unten 
im  Boden, 
Immer  baut  man  darauf,  nimmermehr  kommt  er  an  Tag. 

WIEDERHOLUNG 

HUNDERTMAL  werd  ichs  euch  sagen  und  tausendmal: 
Irrtum  ist  Irrtum! 
Ob  ihn  der  größte  Mann,  ob  ihn  der  kleinste  beging. 

WER  GLAUBTS? 

NEWTON  hat  sich  geirrt?"  Ja,  doppelt  und  dreifach! 
"Und  wie  denn?" 
Lange  steht  es  gedruckt,  aber  es  liest  es  kein  Mensch. 

DER  WELT  LAUF 

DRUCKEN   fördert  euch  nicht,  es  unterdrückt  euch 
die  Schule; 
Aber   nicht  immer,   imd  dann  geben  sie  schweigend 

sich  drein. 
HOFFNUNG 

ALLEN  habt  ihr  die  Ehre  genommen,  die  gegen  euch 
zeugten; 
Aber  dem  Märtyrer  kehrt  späte  sie  doppelt  zurück. 

EXEMPEL 

SCHON  Ein  Irrlicht  sah  ich  verschwinden,  dich,  Phlo- 
giston!    Bälde, 
O  Newtonisch  Gespenst!  folgst  du  dem  Brüderchen  nach. 

DER  LETZTE  MÄRTYRER 

AUCH  mich  bratet  ihr  noch  als  Huß  vielleicht,  aber 
wahrhaftig! 
Lange  bleibet  der  Schwan,  der  es  vollendet,  nicht  aus. 


366  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

MENSCHLICHKEITEN 

LEIDLICH  hat  Newton  gesehen,  und  falsch  geschlossen; 
am  Ende 
Blieb  er,  ein  Brite,  verstockt,  schloß  er,  bewies  er  so  fort. 

UND  ABERMALS  MENSCHLICHKEITEN 

SEINE  Schüler  hörten  nun  auf,  zu  sehn  und  zu  schließen. 
Referierten  getrost,  was  er  auch  sah  und  bewies. 

DER  WIDERSTAND 

ARISTOKRATISCH  gesinnt   ist  mancher  Gelehrte; 
denn  gleich  ists, 
Ob  man  auf  Helm  und  Schild  oder  auf  Meinungen  ruht. 

NEUESTE  FARBENTHEORIE  VON  WÜNSCH 

GELBROT  und  Grün  macht  das  Gelbe,    Grün  und 
Violblau  das  Blaue! 
So  wird  aus  Gurkensalat  wirklich  der  Essig  erzeugt! 

DAS  MITTEL 

WARUM  sagst  du  uns  das  in  Versen?"   Die  Verse 
sind  wirksam; 
Spricht  man  in  Prosa  zu  euch,  stopft  ihr  die  Ohren 

euch  zu. 

MORALISCHE  ZWECKE  DER  POESIE 

BESSERN,  bessern  soll  uns  der  Dichter!"   So  darf  denn 
auf  eurem 
Rücken  des  Büttels  Stock  nicht  einen  Augenblick  ruhn? 

SEKTIONS -WUT 

LEBEND  noch   exenterieren   sie  euch,  und  seid  ihr 
gestorben, 
Passet  im  Nekrolog  noch  ein  Prosektor  euch  auf. 

KRITISCHE  STUDIEN 

SCHNEIDET,  schneidet,  ihr  Herrn,  durch  Schneiden 
lernet  der  Schüler; 
Aber  wehe  dem  Frosch,  der  euch  den  Schenkel  muß  leihn ! 


1794/7  WEIMAR  367 

NATURFORSCHER  UND  TRANSZENDENTAL- 
PHILOSOPHEN 
FEINDSCHAFT   sei  zwischen  euch,  noch  kommt  das 
Bündnis  zu  frühe; 
Wenn  ihr  im  Suchen  euch  trennt,  wird  erst  die  Wahr- 
heit erkannt, 

AN  DIE  VOREILIGEN  VERBINDUNGSSTIFTER 

JEDER   wandle    für  sich   und  wisse  nichts   von   dem 
andern; 
Wandeln  nur  beide  gerad,  finden  sich  beide  gewiß. 

DER  TREUE  SPIEGEL 

REINER  Bach,  du  entstellst  nicht  den  Kiesel,  du  bringst 
ihn  dem  Auge 
Näher;  so  seh  ich  die  Welt,  ***,  wenn  du  sie  be- 
schreibst. 

NICOLAI 
"X  TICOLAI  reiset  noch  immer,  noch  lang  wird  er  reisen, 
1  N      Aber  ins  Land  der  Vernunft  findet  er  nimmer 

den  Weg. 

DER  WICHTIGE 

SEINE   Meinung  sagt  er  von  seinem  Jahrhundert,  er 
sagt  sie. 
Nochmals  sagt  er  sie  laut,  hat  sie  gesagt  und  geht  ab. 


M 


DER  PLAN  DES  WERKS 
EINE  Reis*  ist  ein  Faden,  an  dem  ich  drei  Lustra 

die  Deutschen 
Nützlich  führe,  so  wie  formlos  die  Form  mirs  gebeut. 

FORMALPHILOSOPHIE 

ALLEN  Formen  macht  er  den  Krieg;  er  weiß  wohl, 
zeitlebens 
Hat  er  mit  Müh  und  Not  Stoff  nur  zusammengeschleppt. 


368  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

DER  TODFEIND 

WILLST  du  alles  vertilgen,  was  deiner  Natur  nicht 
gemäß  ist, 
Nicolai,  zuerst  schwöre  dem  Schönen  den  Tod! 


Q. 


PHILOSOPHISCHE  QUERKÖPFE 
UERKOPF!"    schreiet  ergrimmt  in  unsere  Wälder 

Herr  Nickel; 
"Leerkopfl"  schallt  es  darauf  lustig  zum  Walde  heraus. 

EMPIRISCHER  QUERKOPF 

ARMER  empirischer  Teufel!    Du  kennst  nicht  einmal 
das  Dumme 
In  dir  selber,  es  ist,  ach!  a  priori  so  dumm. 

DER  QUELLENFORSCHER 

NICOLAI  entdeckt  die  Quellen  der  Donau!    Welch 
Wunder! 
Sieht  er  gewöhnlich  doch  sich  nach  der  Quelle  nicht 

um. 

DERSELBE 

NICHTS  kann  er  leiden,  was  groß  ist  und  mächtig;  drum, 
herrliche  Donau, 
Spürt  dir  der  Häscher  so  lang  nach,  bis  er  seicht  dich 

ertappt. 

N.  REISEN  XL  BAND,  S.  177. 
A propos  Tübingen!    Dort  sind  Mädchen,   die  tragen 
-^^  die  Zöpfe 

Lang  geflochten;  auch  dort  gibt  man  die  Hören  heraus. 

DER  GLÜCKLICHE 

SEHEN  möcht  ich  dich,  Nickel,  wenn  du  ein  Späßchen 
erhaschest 
Und,  von  dem  Fund  entzückt,  drauf  dich  im  Spiegel 

besiehst. 


1794/7  WEIMAR  369 

VERKEHRTE  WIRKUNG 

n  ÜHRT  sonst  einen  der  Schlag,  so  stockt  die  Zunge 
Iv  gewöhnlich; 

Dieser,  so  lange  gelähmt,  schwatzt  nur  geläufiger  fort. 

PFAHL  IM  FLEISCH 
"V  TENNE  Lessing  nur  nicht,  der  Gute  hat  vieles  ge- 
1  N  litten, 

Und  in  des  Märtyrers  Kranz  warst  du  ein  schrecklicher 

Dorn. 

DIE  HÖREN  AN  NICOLAI 

UNSERE  Reihen  störtest  du  gern,  doch  werden  wir 
wandeln; 
Und  du  tappe  denn  auch,  plumper  Geselle!  so  fort. 

FICHTE  UND  ER 

FREILICH  tauchet  der  Mann  kühn  in  die  Tiefe  des 
Meeres, 
Wenn  du,  auf  leichtem  Kahn,  schwankest  und  Heringe 

fängst. 

BRIEFE  ÜBER  ÄSTHETISCHE  BILDUNG 

DUNKEL  sind  sie  zuweilen,  vielleicht  mit  Unrecht,  o 
Nickel! 
Aber  die  Deutlichkeit  ist  wahrlich  nicht  Tugend  an  dir. 

MODEPHILOSOPHIE 

LÄCHERLICHSTER,   du  nennst    das  Mode,    wenn 
immer  von  neuem 
'    Sich  der  menschliche  Geist  ernstlich  nach  Bildung  be- 


strebt. 


DAS  GROBE  ORGAN 


WAS  du  mit  Händen  nicht  greifst,  das  scheint  dir 
Blinden  ein  Unding, 
Und  betastest  du  was,  gleich  ist  das  Ding  auch  be- 
schmutzt. 

GOETHE  XIV  24. 


3  7 o       LYRISCHE  DICHTUNGEN 

DER  LASTTRÄGER 

WEIL   du  vieles   geschleppt   und    schleppst   und 
schleppen  wirst,  meinst  du, 
Was  sich  selber  bewegt,  könne  vor  dir  nicht  bestehn. 

DIE  WEIDTASCHE 

REGET  sich  was,  gleich  schießt  der  Jäger;  ihm  schei- 
net die  Schöpfung, 
Wie  lebendig  sie  ist,  nur  für  den  Schnappsack  gemacht. 

DAS  UNENTBEHRLICHE 

KÖNNTE  Menschenverstand  doch  ohne  Vernunft  nur 
bestehen, 
Nickel  hätte  fürwahr  menschlichsten  Menschenverstand. 


w 


DIE  XENIEN 
AS  uns  ärgert,  du  gibst  mit  langen  entsetzlichen 


Noten 
Uns  auch  wieder  heraus  unter  der  Reiserubrik. 

LUCRI  BONUS  ODOR 

GRÖBLICH  haben  wir  dich  behandelt,  das  brauche 
zum  Vorteil 
Und  im  zwölften  Band  schilt  uns,  da  gibt  es  ein  Blatt. 

VORSATZ 

DEN  Philister  verdrieße,  den  Schwärmer  necke,  den 
Heuchler 
Quäle  der  fröhliche  Vers,  der  nur  das  Gute  verehrt. 

NUR  ZEITSCHRIFTEN 
PRANKREICH  id&l  er  mit  einer,  ^z.%^TmtDeutsch- 
"^  land  gewaltig 

Mit  der  andern,  doch  sind  beide  papieren  und  leicht! 

DAS  MOTTO 

WAHRHEIT  sag  ich  euch,  Wahrheit  und  immer 
Wahrheit,  versteht  sich: 
Meine  Wahrheit;  denn  sonst  ist  mir  auch  keine  bekannt. 


1794/7   WEIMAR  371 

DER  WÄCHTER  ZIONS 

MEINE  Wahrheit  bestehet  im  Bellen,  besonders  wenn 
irgend 
Wohlgekleidet  ein  Mann  sich  auf  der  Straße  mir  zeigt. 

kj  VERSCHIEDENE  DRESSUREN 

ARISTOKRATISCHE  Hunde,  sie  knurren  auf  Bettler; 
ein  echter 
Demokratischer  Spitz  klaflft  nach  dem  seidenen  Strumpf. 

BÖSE  GESELLSCHAFT 

ARISTOKRATEN  mögen  noch  gehn,  ihr  Stolz  ist  doch 
höflich; 
Aber  du,  löbliches  Volk,  bist  so  voll  Hochmut  und  grob. 

AN  DIE  OBERN 

IMMER  bellt  man  auf  euch!  Bleibt  sitzen!  Es  wünschen 
die  Beller 
Jene  Plätze,  wo  man  ruhig  das  Bellen  vernimmt. 

BAALSPFAFFEN 

HEILIGE  Freiheit!    Erhabener  Trieb  der  Menschen 
zum  Bessern! 
Wahrlich,  du  konntest  dich  nicht  schlechter  mit  Prie- 
stern versehn! 

VERFEHLTER  BERUF 

SCHRECKENSMÄNNER  wären  sie  gerne,  doch  lacht 
man  in  Deutschland 
Ihres  Grimmes,  der  nur  mäßige  Schriften  zerfleischt. 

AN  MEHR  ALS  EINEN 

ERST  habt  ihr  die  Großen  beschmaust,  nun  wollt  ihr 
sie  stürzen; 
Hat  man  Schmarotzer  doch  nie  dankbar  dem  Wirte 

gesehn. 


372  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

DAS  REQUISIT 

LANGE  werden  wir  euch  noch  ärgern  und  werden  euch 
sagen: 
Rote  Kappen,  euch  fehlt  nur  noch  das  Glöckchen  zum 

Putz. 

VERDIENST 

HAST  du  auch  wenig  genug  verdient  um  die  Bildung 
der  Deutschen, 
Fritz  Nicolai,  sehr  viel  hast  du  dabei  doch  verdient. 


N 


UMWÄLZUNG 
EIN,  das  ist  doch  zu  arg!  Da  läuft  auch  selbst  noch 

der  Kantor 
Von  der  Orgel,  imdach!  pfuscht  auf  den  Klaven  des  Staats. 

DER  HALBVOGEL 

FLIEGEN  möchte  der  Strauß;  allein  er  rudert  vergeblich, 
Ungeschickt  rühret  der  Fuß  immer  den  leidigen  Sand. 

DER  LETZTE  VERSUCH 

VIELES  hast  du  geschrieben,  der  Deutsche  wollt  es 
nicht  lesen; 
Gehn  die  Journale  nicht  ab,  dann  ist  auch  alles  vorbei. 

KUNSTGRIFF 

SCHREIB  die  Journale  nur  anonym,  so  kannst  du  mit 
vollen 
Backen  deine  Musik  loben,  es  merkt  es  kein  Mensch. 

DEM  GROSSSPRECHER 

ÖFTERS  nahmst  du  das  Maul  schon  so  voll  und  konn- 
test nicht  wirken; 
Auch  jetzt  wirkest  du  nichts,  nimm  nur  das  Maul  nicht 

so  voll. 
MOTTOS 

SETZE  nur  immer  Mottos  auf  deine  Journale,  sie  zeigen 
Alle  die  Tugenden  an,  die  man  an  dir  nicht  bemerkt. 


Hl 


1794/7  WEIMAR  373 

SEIN  HANDGRIFF 

AUSZUZIEHEN  versteh  ich  und  zu  beschmutzen  die 
Schriften, 
Dadurch  mach  ich  sie  mein,  und  ihr  bezahlet  sie  mir. 

DIE  MITARBEITER 

WIE  sie  die  Glieder  verrenken,  die  Armen!  Aber 
nach  dieser 
Pfeife  zu  tanzen,    es  ist  auch,  beim  Apollo!  kein  Spaß. 

UNMÖGLICHE  VERGELTUNG 

DEINE  Kollegen  verschreist  und  plünderst  du!  Dich 
zu  verschreien 
Ist  nicht  nötig,  und  nichts  ist  auch  zu  plündern  an  dir. 

DAS  ZÜCHTIGE  HERZ 

GERN  erlassen  wir  dir  die  moralische  Delikatesse, 
Wenn  du  die  zehen  Gebot'  nur  so  notdürftig  befolgst. 

ABSCHEU 

HEUCHLER,  ferne  von  mir!  Besonders  du  widriger 
Heuchler, 
Der  du  mit  Grobheit  glaubst  Falschheit  zu  decken  und 

List. 

DER  HAUSIERER 

JA,  das  fehlte  nur  noch  zu  der  Entwicklung  der  Sache, 
Daß  als  Krämer  sich  nun  Kr** er  nach  Frankreich 

begibt! 

DEUTSCHLANDS  REVANCHE  AN  FRANKREICH 

MANCHEN  Lakai  schon  verkauftet  ihr  uns  als  Mann 
von  Bedeutung; 
Gut!  wir  spedieren  euch  hier  Kr****  als  Mann  von 

Verdienst. 
DER  PATRIOT 

DASS  Verfassung  sich  überall  bilde!  Wie  sehr  ists  zu 
wünschen, 
Aber  ihr  Schwätzer  verhelft  uns  zu  Verfassungen  nicht! 


374  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

DIE  DREI  STÄNDE 

SAGT,  wo  steht  in  Deutschland  der  Sanscülott?  In  der 
Mitte; 
Unten  und  oben  besitzt  jeglicher,  was  ihm  behagt. 

DIE  HAUPTSACHE 

JEDEM  Besitzer  das  Seine!  und  jedem  Regierer  den 
Rechtsinn, 
Das  ist  zu  wünschen;  doch  ihr,  beides  verschafift  ihr 

uns  nicht. 

ANACHARSIS  DER  ZWEITE 

ANACHARSIS  dem  Ersten  nahmt  ihr  den  Kopf  weg, 
der  Zweite 
Wandert  nun  ohne  Kopf  klüglich,  Pariser,  zu  euch. 

HISTORISCHE  QUELLEN 

AUGEN  leiht  dir  der  Blinde  zu  dem,  was  in  Frankreich 
geschiehet, 
Ohren  der  Taube;  du  bist,  Deutschland,  vortrefflich 

bedient. 

DER  ALMANACH  ALS  BIENENKORB 

LIEBLICHEN  Honig  geb  er  dem  Freund;  doch  nahet 
sich  täppisch 
Der  Philister,  ums  Ohr  saus  ihm  der  stechende  Schwärm! 

ETYMOLOGIE 

OMINÖS  ist  dein  Nam,  er  spricht  dein  ganzes  Ver- 
dienst  aus:  -| 

Gerne  verschafftest  du,  ging'  es,  dem  Pöbel  den  Sieg. 


AUSNAHME 

ARUM  tadelst  du  manchen  nicht  öffentlich?"  Weil 

er  ein  Freund  ist. 
Wie  mein  eigenes  Herz  tadl  ich  im  stillen  den  Freund. 


w 


1794/7   WEIMAR  375 

DIE  INSEKTEN 

WARUM  schiltst  du  die  einen  so  hundertfach?"  Weil 
das  Geschmeiße, 
Rührt  sich  der  Wedel  nicht  stets,  immer  dich  leckt  und 

dich  sticht, 

EINLADUNG 

GLAUBST  du  denn  nicht,  man  könnte  die  schwache 
Seite  dir  zeigen?" 
Tu  es  mit  Laune,  mit  Geist,  Freund,  und  wir  lachen 

zuerst. 

WARNUNG 

UNSRER  liegen  noch  tausend  im  Hinterhalt;  daß  ihr 
nicht  etwa, 
Rückt  ihr  zu  hitzig  heran,  Schultern  und  Rücken  ent- 
blößt. 

"  ■  AN  DIE  PHILISTER 

FREUT  euch  des  Schmetterlings  nicht:  der  Bösewicht 
zeugt  euch  die  Raupe, 
Die  euch  den  herrlichen  Kohl,  fast  aus  der  Schüssel, 

verzehrt. 

HAUSRECHT 

KEINEM  Gärtner  verdenk  ichs,  daß  er  die  Sperlinge 
scheuchet; 
Doch  nur  Gärtner  ist  er,  jene  gebar  die  Natur. 

CURRUS  VIRUM  MIRATUR  INANES 

WIE  sie  knallen,  die  Peitschen!  Hilf  Himmel!  Jour- 
nale!   Kalender! 
Wagen  an  Wagen!   Wie  viel  Staub  und  wie  wenig  Ge- 
päck! 


KALENDER  DER  MUSEN  UND  GRAZIEN 
USEN  imd  Grazien!  oft  habt  ihr  euch  schrecklich 

verirret, 
Doch  dem  Pfarrer  noch  nie  selbst  die  Perücke  gebracht. 


M 


376  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

SCHILLERS  ALMANACH  VON  1796 

DU  erhebest  uns  erst  zu  Idealen  tmd  stürzest 
Gleich  zur  Natur  uns  zurück;  glaubst  du,  wir  danken 

dir  das? 
DAS  PAKET 

MIT  der  Eule  gesiegelt?  Da  kann  Minerva  nicht  weit 
sein! 
Ich  erbreche,  da  fällt  "Von  und  für  Deutschland"  her- 
aus. 

DAS  JOURNAL  DEUTSCHLAND 

ALLES  beginnt  der  Deutsche  mit  Feierlichkeit,  und 
so  zieht  auch 
Diesem  deutschen  Journal  blasend  ein  Spielmann  voran. 

REICHSANZEIGER 

EDLES  Organ,  durch  welches  das  Deutsche  Reich  mit 
sich  selbst  spricht! 
Geistreich,  wie  es  hinein  schallet,  so  schallt  es  heraus. 

A.  D.  PH. 

WOCHE  für  Woche  zieht  der  Bettelkarren  durch 
Deutschland, 
Den  auf  schmutzigem  Bock  Jakob,  der  Kutscher,  regiert. 


z 


A.  D.  B. 
EHNMAL  gelesne  Gedanken  auf  zehnmal  bedruck- 
tem Papiere, 
Auf  zerriebenem  Blei    stumpfer  und  bleierner  Witz. 


A.  D.  Z. 


i 


AUF  dem  Umschlag  sieht  man  die  Charitinnen;  doch 
leider 
Kehrt  uns  Aglaia  den  Teil,  den  ich  nicht  nennen  darf,  zu. 

DER  WOLFISCHE  HOMER 

SIEBEN  Städte  zankten  sich  drum,  ihn  geboren  zu  haben; 
Nun,  da  der  Wolf  ihn  zerriß,  nehme  sich  jede  ihr  Stück. 


1794/7  WEIMAR  377 

WEIL  du  doch  alles  beschriebst,  so  beschreib  uns 
zu  gutem  Beschlüsse 
Auch  die  Maschine  noch,  Freund,  die  dich  so  fertig 

bedient. 

HERR  LEONHARD  ** 

DEINEN  Namen  les  ich  auf  zwanzig  Schriften,  und 
dennoch 
Ist  es  dein  Name  nur,  Freund,  den  man  in  allen  vermißt. 

PANTHEON  DER  DEUTSCHEN,    i.  BAND. 

DEUTSCHLANDS  größte  Männer  und  kleinste  sind 
hier  versammelt; 
Jene  gaben  den  Stofif,  diese  die  Worte  des  Buchs. 

BORUSSIAS 

SIEBEN  Jahre  nur  währte  der  Krieg,  von  welchem  du 
singest: 
Sieben  Jahrhunderte,  Freund,  währt  mir  dein  Helden- 
gedicht. 
GUTER  RAT 

ACCIPE  facundi  Culicem,  studiose,  Maronis, 
Ne,  nugis  positis,  arma  virumque  canas. 


V 


REINEKE  FUCHS 
OR  Jahrhunderten  hätte  ein  Dichter  dieses  gesungen? 
Wie  ist  das  möglich?   Der  Stoff  ist  ja  von  gestern 

imd  heut. 

MENSCHENHASS  UND  REUE 

MENSCHENHASS?    Nein,  davon  verspürt  ich  beim 
heutigen  Stücke 
Keine  Regung;  jedoch  Reue,  die  hab  ich  gefühlt. 

SCHINKS  FAUST 

FAUST  hat  sich  leider  schon  oft  in  Deutschland  dem 
Teufel  ergeben, 
Doch  so  prosaisch  noch  nie  schloß  er  den  schrecklichen 

Bund. 


378  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

AN  MADAME  B**  UND  IHRE  SCHWESTERN 

JETZT  noch  bist  du  Sibylle,  bald  wirst  du  Parze;  doch, 
furcht  ich, 
Hört  ihr  alle  zuletzt  gräßlich  als  Furien  auf. 

ALMANSARIS  UND  AMANDA 

WARUM  verzeiht  mir  Amanda  den   Scherz,  und 
Almansaris  tobet? 
Jene  ist  tugendhaft,  Freund,  diese  beweiset,  sie  seis. 

WÄRE  Natur  und  Genie  von  allen  Menschen  ver- 
ehret, 
Sag,  was  bliebe,  Phantast,  denn  für  ein  Publikum  dir? 

ERHOLUNGEN.  ZWEITES  STÜCK 

DASS  ihr  seht,  wie  genau  wir  den  Titel  des  Buches 
erfüllen. 
Wird  zur  Erholung  hiemit  euch  die  Vernichtung  gereicht. 

DEM  ZUDRINGLICHEN 

EIN  vor  allemal  willst  du  ein  ewiges  Leben  mir  schafifen? 
Mach  im  zeitlichen  doch  mir  nicht  die  Weile  so  lang. 

HÖCHSTER  ZWECK  DER  KUNST 

SCHADE  fürs  schöne  Talent  des  herrlichen  Künstlers! 
O  hätt  er 
Aus  dem  Marmorblock  doch  ein  Kruzifix  uns  gemacht! 


M 


ZUM  GEBURTSTAG 
ÖGE  dein  Lebensfaden  sich  spinnen  wie  in  der  Prosa 
Dein  Periode,  bei  dem  leider  die  Lachesis  schläft. 

UNTER  VIER  AUGEN 

VIELE  rühmen,  sie  habe  Verstand;  ich  glaubs:  für 
den  einen, 
Den  sie  jedesmal  liebt,  hat  sie  auch  wirklich  Verstand. 


N 


1794/7  WEIMAR  379 

CHARADE 

ICHTS  als  dein  Erstes  fehlt  dir,  so  wäre  dein  Zweites 

genießbar; 

Aber  dein  Ganzes,   mein  Freund,  ist  ohne  Salz  und 

Geschmack. 


FRAGE    IN    DEN    REICHSANZEIGER,    WILHELM 
MEISTER  BETREFFEND 

ZU  was  Ende  die  welschen  Namen  für  deutsche  Per- 
sonen? 
Raubt    es  nicht  allen  Genuß  an  dem  vortreflflichen 
i  Werk? 

GOSCHEN  AN  DIE  DEUTSCHEN  DICHTER 

IST  nur  erst  Wieland  heraus,  so  kommts  an  euch  übrigen 
alle, 
Und  nach  der  Lokation!   Habt  nur  einstweilen  Geduld! 

VERLEGER  VON  P**  SCHRIFTEN 

EINE  Maschine  besitz  ich,  die  selber  denkt,  was  sie 
drucket; 
Obengenanntes  Werk  zeig  ich  zur  Probe  hier  vor. 

JOSEPHS  n.  DICTUM  AN  DIE  BUCHHÄNDLER 

EINEM  Käsehandel  verglich  er  eure  Geschäfte? 
Wahrlich,    der   Kaiser,  man   siehts,   war   auf  dem 

Leipziger  Markt. 

PREISFRAGE  DER  AKADEMIE  NÜTZLICHER 
WISSENSCHAFTEN 

WIE  auf  dem  u  fortan  der  teure  Schnörkel  zu  sparen? 
Auf  die  Antwort  sind  dreißig  Dukaten  gesetzt. 

HÖRSÄLE  AUF  GEWISSEN  UNIVERSITÄTEN 

PRINZEN  und  Grafen  sind  hier  von  den  übrigen  Hörern 
gesondert. 
Wohl!    Denn  trennte  der  Stand  nirgends,  er  trennte 

doch  hier! 


38o  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

DER  VIRTUOSE 

EINE  hohe  Noblesse  bedien  ich  heut  mit  der  Flöte, 
Die,  wie  ganz  Wien  mir  bezeugt,  völlig  wie  Geige 

sich  hört. 


SACHEN,   SO  GESUCHT  WERDEN 

Bedienten  wünscht  man  zu  haben,  der 

schreibet 
Und  orthographisch,  jedoch  nichts  in  Bell-  Lettres  getan 

FR 

w 


FRANZOSISCHE  LUSTSPIELE  VON  DYK 

IR  versichern  auf  Ehre,  daß  wir  einst  witzig  ge- 
wesen. 

Sind  wir  auch  hier,  wir  gestehns,  herzlich  geschmack- 
los und  fad. 


BUCHHÄNDLER- ANZEIGE 

NICHTS  ist  der  Menschheit  so  wichtig,  als  ihre  Bestim- 
mung zu  kennen; 
Um  zwölf  Groschen  Courant  wird   sie  bei  mir  jetzt 

verkauft. 

AUKTION 

DA  die  Metaphysik  vor  kurzem  unbeerbt  abging, 
Werden  die  Dinge  an  sich  morgen  sub  hasta  ver- 
kauft. 

GOTTESURTEIL 

(Zwischen  einem  Göttinger  und  Berliner.) 

OFFNET  die  Schranken!    Bringet  zwei  Särge!    Trom- 
peter, geblasen! 
Almanachsritter,  heraus  gegen  den  Ritter  vom  Sporn! 


z 


SACHEN,  SO  GESTOHLEN  WORDEN 
(Immanuel  Kant  spricht.) 
WANZIG  Begriffe  wurden  mir  neulich  diebisch  ent- 
wendet; 

Leicht  sind  sie  kenntlich,  es  steht  sauber  mein  I.  K. 

darauf. 


1794/7   WEIMAR  ,         381 

ANTWORT  AUF  OBIGEN  AVIS 

WENN  nicht  alles  mich  trügt,  so  hab  ich  besagte 
Begriffe 
In  Herrn  Jakobs  zu  Hall'  Schriften  vor  kurzem  gesehn. 

SCHAUSPIELERIN 

FURIOSE  Geliebten  sind  meine  Forcen  im  Schauspiel, 
Und  in  der  Coniidie  glänz  ich  als  Branntevveinfrau. 

PROFESSOR  HISTORIARUM 

BREITER  wird   immer   die   Welt,   und    immer  mehr 
Neues  geschiehet; 
Ach!  die  Geschichte  wird  stets  länger,  und  kürzer  das 

Brot! 
REZENSION 

SEHET,  wie  artig  der  Frosch  nicht  hüpft!    Doch  find 
ich  die  hintern 
Füße  um  vieles  zu  lang,  so  wie  die  vordem  zu  kurz. 

LITERARISCHER  ADRESSKALENDER 

JEDER  treibe  sein  Handwerk,  doch  immer  steh  es  ge- 
schrieben: 
Dies  ist  das  Handwerk,  und  der  treibet  das  Handwerk 

geschickt. 

NEUSTE  KRITIKPROBEN 

NICHT  viel  fehlt  dir,  ein  Meister  nach  meinen  Be- 
griffen zu  heißen, 
Nehm  ich  das  Einzige  aus,  daß  du  verrückt  phantasierst. 


L 


EINE  ZWEITE 
lEBLICH  und  zart  sind  deine  Gefühle,  gebildet  dein 

Ausdruck, 
Eins  nur  tadl  ich:  du  bist  frostig  von  Herzen  und  matt. 

EINE  DRITTE 

DU  nur  bist  mir  der  würdige  Dichter!  Es  kommt  dir 
auf  eine 
Platitüde  nicht  an,  nur  um  natürlich  zu  sein. 


382        .         LYRISCHE  DICHTUNGEN 


v 


SCHILLERS  WÜRDE  DER  FRAUEN 
ORN  herein  liest  sich  das  Lied  nicht  zum  besten;  ich 

les  es  von  hinten, 
Strophe  für  Strophe,  und  so  nimmt  es  ganz  artig  sich  aus. 


PEGASUS,  VON  EBEN  DEMSELBEN 

MEINE  zarte  Natur  schockiert  das  grelle  Gemälde; 
Aber,  von  Langbein  gemalt,  mag  ich  den  Teufel 

recht  gem. 

DAS  UNGLEICHE  VERHÄLTNIS 

UNSRE  Poeten  sind   seicht;  doch  das  Unglück  ließ' 
sich  vertuschen, 
Hätten  die  Kritiker  nicht,  ach!  so  entsetzlich  viel  Geist. 

NEUGIER 

ETWAS  wünscht  ich  zu  sehn:  ich  wünschte  einmal  von 
den  Freunden, 
Die  das  Schwache  so  schnell  finden,  das  Gute  zu  sehn! 

GELEHRTE  ZEITUNGEN 

WIE  die  Nummern  des  Lotto,  so  zieht  man  hier  die 
Autoren, 
Wie  sie  kommen,  nur  daß  niemand  dabei  was  gewinnt. 

ÜBERTREIBUNG  UND  EINSEITIGKEIT 

DASS   der  Deutsche  doch  alles  zu  einem  Äußersten 
treibet. 
Für  Natur  und  Vernunft   selbst,  für  die   nüchterne, 

schwärmt! 


V 


NEUESTE  BEHAUPTUNG 
ÖLLIG  charakterlos  ist  die  Poesie  der  Modernen, 
Denn  sie  verstehen  bloß,  charakteristisch  zu  sein. 


GRIECHISCHE  UND  MODERNE  TRAGÖDIE 

UNSRE  Tragödie  spricht  ziun  Verstand,  drum  zerreißt 
sie  das  Herz  so; 
Jene  setzt  in  Affekt,  darum  beruhigt  sie  so! 


II 794/7  WEIMAR  383 

ENTGEGENGESETZTE  WIRKUNG 
WIR  Modernen,  wir  gehn  erschüttert,  gerührt  aus 
dem  Schauspiel; 
Mit  erleichterter  Brust  hüpfte  der  Grieche  heraus. 

DIE  HÖCHSTE  HARMONIE 

OEDIPUS  reißt  die  Augen  sich  aus,  Jokaste  erhenkt 
sich. 
Beide  schuldlos;  das  Stück  hat  sich  harmonisch  gelöst. 

AUFGELÖSTES  RÄTSEL 

ENDLICH  ist  es  heraus,  warum  ims  Hamlet  so  anzieht: 
Weil  er,   merket  das  wohl,  ganz  zur  Verzweiflung 

uns  bringt. 

GEFÄHRLICHE  NACHFOLGE 

FREUNDE,  bedenket  euch  wohl,  die  tiefere,  kühnere 
Wahrheit 
Laut  zu  sagen,  sogleich  stellt  man  sie  euch  auf  den  Kopf. 


M 


XENIEN 
USE,  wo  führst  du  uns  hin?  Was,  gar  zu  den  Manen 

hinunter? 
Hast  du  vergessen,  daß  wir  nur  Monodistichen  sind? 

MUSE 

DESTO  besser!  Geflügelt  wie  ihr,  dünnleibig  und  luftig, 
Seele  mehr  als  Gebein,  wischt  ihr  als  Schatten  hin- 
durch. 

ACHERONTA  MOVEBO 

HÖLLE,  jetzt  nimm  dich  in  acht,  es  kommt  ein  Reise - 
beschreiber, 
.  Und  die  Publizität  deckt  auch  den  Acheron  auf. 

STERILEMQUE  TIBI  PROSERPINA  VACCAM 

HEKATE!  Keusche!  Dir  Schlacht  ich  'Die  Kunst,  zu 
lieben'  von  Manso; 
Jungfer  noch  ist  sie,  sie  hat  nie  was  von  Liebe  gewußt. 


384  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

ELPENOR 

MUSS  ich  dich  hier  schon  treffen,  Elpenor?   Du  bist 
mir  gewaltig 
Vorgelaufen!  Und  wie?  Gar  mit  gebrochnem  Genick? 

UNGLÜCKLICHE  EILFERTIGKEIT 

ACH,  wie  sie  "Freiheit"  schrien  und  "Gleichheit",  ge- 
schwind wollt  ich  folgen, 
Und  weil  die  Trepp  mir  zu  lang  deuchte,  so  sprang  ich 

vom  Dach. 
ACHILLES 

VORMALS  im  Leben  ehrten  wir  dich  wie  einen  der 
Götter; 
Nun  du  tot  bist,  so  herrscht  über  die  Geister  dein  Geist. 


L 


TROST 

ASS  dich  den  Tod  nicht  reuen,  Achill!  Es  lebet  dein 

Name 
In  der  Bibliothek  schöner  Szientien  hoch. 

SEINE  ANTWORT 

LIEBER  möcht  ich  fürwahr  dem  Ärmsten  als  Acker- 
knecht dienen. 
Als  des  Gänsegeschlechts  Führer  sein,  wie  du  erzählst. 

FRAGE 

DU  verkündige  mir  von  meinen  jimgen  Nepoten, 
Ob  in  der  Literatur  beide  noch  walten  vmd  wie? 

ANTWORT 

FREILICH  walten  sie  noch  \md  bedrängen  hart  die  Tro-"" 
janer, 
Schießen  manchmal  auch  wohl  blind  in  das  Blaue  hinein. 

FRAGE 

MELDE  mir  auch,  ob  du  Kunde  vom  alten  Peleus  ver- 
nähmest. 
Ob  er  noch  weit  geehrt  in  den  Kalendern  sich  liest? 


1794/7   WEIMAR  385 

ANTWORT 

ACH!  ihm  mangelt  leider  die  spannende  Kraft  und  die 
Schnelle, 
Die  einst  des  G***  herrliche  Saiten  belebt. 

AJAX 

AJAX,  Telamons  Sohn!  So  mußtest  du  selbst  nach  dem 
Tode 
Noch  forttragen  den  Groll  wegen  der  Rezension? 

TANTALUS 
JAHRELANG  steh  ich  so  hier,  zur  Hippokrene  gebücket. 
J      Lechzend  vor  Durst;  doch  der  Quell,  will  ich  ihn 

kosten,  zerrinnt. 

PHLEGYASQUE  MISERRIMUS  OMNES  ADMONET 

Oich  Tor!  Ich  rasender  Tor!  Und  rasend  ein  jeder. 
Der.  auf  des  Weibes  Rat  horchend,  den  Freiheits- 
baum pflanzt! 

DIE  DREIFARBIGE  KOKARDE 

WER  ist  der  Wütende  da,  der  durch  die  Hölle  so 
brüllet 
Und  mit  grimmiger  Faust  sich  die  Kokarde  zerzaust: 

AGAMEMNON 

BÜRGER  Odysseus!  Wohl  dir!  Bescheiden  ist  deine  Ge- 
mahlin, 
Strickt  dir  die  Strümpfe  und  steckt  keine  drei  Farben 

dir  an! 

PORPHYROGENETA,  DEN  KOPF  UNTER  DEM  ARME 

KÖPFE  schaffet  euch  an,  ihr  Liebden!  Tut  es  beizeiten! 
Wer  nicht  hat,  er  verliert  auch,  was  er  hat^  noch 

dazu! 
SISYPHUS 

AUCH  noch  hier  nicht  zur  Ruh,   du  Unglückseiger! 
Noch  immer 
Rollst  du  bergauf  wie  einst,  da  du  regiertest,  den  Stein! 

GOETHE  XIV  25. 


386  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

SULZER 

HÜBEN  über  den  Urnen!  Wie  anders  ists,  als  wir  dach- 
ten! 
Mein  aufrichtiges  Herz  hat  mir  Vergebung  erlangt. 

HALLER 

ACH!  Wie  schrumpfen  allhier  die  dicken  Bände  zu- 
sammen, 
Einige  werden  belohnt,  aber  die  meisten  verziehn. 

MOSES  MENDELSSOHN 

JA!  Du  siehst  mich  unsterblich!— "Das  hast  du  uns  ja 
in  dem  Phädon 
Längst  bewiesen."— Mein  Freund,  freue  dich,  daß  du  es 

siehst! 

DER  JUNGE  WERTHER 

WORAUF  lauerst  du  hier?"— Ich  erwarte  den  dum- 
men Gesellen, 
Der  sich  so  abgeschmackt  über  mein  Leiden  gefreut. 

EDLER  Schatten,  du  zürnst?"— Ja,  über  den  lieblosen 
Bruder, 
Der  mein  modernd  Gebein  lasset  im  Frieden  nicht  ruhn. 

DIOSKUREN 

EINEN  wenigstens  hofft  ich  von  euch  hier  unten  zu  finden; 
Aber  beide  seid  ihr  sterblich,  drum  lebt  ihr  zugleich. 

UNVERMUTETE  ZUSAMMENKUNFT 

SAGE,  Freund,  wie  find  ich  denn  dich  in  des  Todes 
Behausung? 
Ließ  ich  doch  frisch  und  gesimd  dich  in  Berlin  noch 

zurück! 
DER  LEICHNAM 

ACH,  das  ist  niu:  mein  Leib,  der  in  Almanachen  noch' 
lungeht; 
Aber  es  schiffte  schon  längst  über  den  Lethe  der  Geist 


1 


1794/7  WEIMAR  387 

PEREGRINUS  PROTEUS 

SIEHESl'  du  Wieland,  so  sag  ihm:  ich  lasse  mich  schön- 
stens bedanken, 
Aber  er  tat  mir  zuviel  Ehr  an,  ich  war  doch  ein  Lump. 

LUCIAN  VON  SAMOSATA 
~\  TUN,  Freund,  bist  du  versöhnt  mit  den  Philosophen? 
1  N  Du  hast  sie 

Oben  im  Leben,  das  weiß  Jupiter!  tüchtig  geneckt." 

GESTÄNDNIS 

REDE  leiser,  mein  Freund.  Zwar  hab  ich  die  Narren 
gezüchtigt, 
Aber  mit  vielem  Geschwätz  oft  auch  die  Klugen  geplagt. 

ALCIBIADES 

KOMMST  du  aus  Deutschland?  Sieh  mich  doch  an,  ob 
ich  wirklich  ein  solcher 
Hasenfuß  bin,  als  bei  euch  man  in  Gemälden  mich  zeigt? 

MARTIAL 

XENIEN  nennet  ihr  euch?  Ihr  gebt  euch  für  Küchen - 
präsente? 
Ißt  mau  denn,  mit  Vergimst,  spanischen  Pfeflfer  bei  euch? 

XENIEN 
"X  TICHT  doch!  Aber  es  schwächten  die  vielen  wäßrigten 
1 N  Speisen 

So  den  Magen,  daß  jetzt  Pfefifer  imd  Wermut  nur  hilft. 


EINER  AUS  DEM  CHOR 
{Fängt  an,  zu  rezitieren) 
'AHRLICH,  nichts  Lustigers  weiß  ich,  als  wenn 
die  Tische  recht  voll  sind 
^on  Gebacknem  und  Fleisch,  imd  wenn  der  Schenke 

nicht  versäumt." — 


388  LYRISCHE  DICHTUNGEN 


T 


VORSCHLAG  ZUR  GÜTE 
EILT  euch  wie  Brüder!  Es  sind  der  Würste  gerade 

zwei  Dutzend, 
Und  wer  Astyanax  sang,  nehme  noch  diese  von  mir. 

MUSE  ZU  DEN  XENIEN 

ABER  jetzt  rat  ich  euch,  geht,  sonst  kommt  noch  gar 
der  Gorgona 
Fratze  oder  ein  Band  Oden  von  Haschka  hervor. 


A 


AN  DIE  FREIER 
LLES  war  nur  ein  Spiel!  Ihr  Freier  lebt  ja  noch  alle, 
Hier  ist  der  Bogen,  und  hier  ist  zu  den  Ringen 

der  Platz. 


WAS  in  Frankreich  vorbei  ist,  das  spielen  Deutsche 
noch  immer. 
Denn  der  stolzeste  Mann  schmeichelt  dem  Pöbel  und 

kriecht. 

PÖBEL!   wagst  du  zu  sagen.    Wo  ist  der  Pöbel?"  Ihr 
machtet. 
Ging'  es  nach  eurem  Sinn,  gerne  die  Völker  dazu. 


VOTIVTAFELN 

von  Schiller  und  Goethe 

DER  MORALISCHE  UND  DER  SCHÖNE 

CHARAKTER 

T\  EPRÄSENTANT  ist  jener  der  ganzen  Geistergemeine, 

fv.     Aber  das  schöne  Gemüt  zählt  schon  allein  für  sich 

selbst. 

DER  SCHÖNE  GEIST  UND  DER  SCHÖNGEIST 

NUR  das  Leichtere  trägt  auf  leichten  Schultern  der 
Schöngeist, 
Aber  der  schöne  Geist  trägt  das  Gewichtige  leicht. 


I  1794/7   WEIMAR  389 

PHILISTER  UND  SCHÖNGEIST 
JENER  mag  gelten,  er  dient  doch  als  fleißiger  Knecht 
J  noch  der  Wahrheit. 

Aber  dieser  bestiehlt  Wahrheit  und  Schönheit  zugleich. 

NATUR  UND  VERNUNFT 

WÄRT  ihr,  Schwärmer,  imstande,  die   Ideale  zu 
fassen, 
O  so  verehrtet  ihr  auch,  wie  sichs  gebührt,  die  Natur. 
Wärt  ihr,  Philister,  imstand,  die  Natur  im  Großen  zu  sehen. 
Sicher  führte  sie  selbst  euch  zu  Ideen  empor. 

DAS  SUBJEKT 

WICHTIG  wohl  ist  die  Kunst  und  schwer,  sich  selbst 
zu  bewahren. 
Aber  schwieriger  ist  diese:  sich  selbst  zu  entfliehn. 

ZUCHT 

WAHRHEIT  ist  niemals  schädlich ,  sie  straft — und  die 
Strafe  der  Mutter 
Bildet  das  schwankende  Kind,  wehret  der  schmeicheln- 
den Magd. 

DIE  ZERGLIEDERER 

SPALTET  immer  das  Licht!  Wie  öfters  strebt  ihr  zu 
trennen. 
Was  euch  allen  zum  Trutz  Eins  und  ein  Einziges  bleibt. 

DIE  QUELLEN 

TREFFLICHE  Künste  dankt  man  der  Not  und  dankt 
man  dem  Zufall, 
Nur  zur  Wissenschaft  hat  keines  von  beiden  geführt. 

EMPIRIKER 

DASS  ihr  den  sichersten  Pfad  gewählt,  wer  möchte  das 
leugnen? 
Aber  ihr  tappet  nur  blind  auf  dem  gebahntesten  Pfad. 


390  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

THEORETIKER 

IHR  verfahrt  nach  Gesetzen,  auch  würdet  ihrs  sicherlich 
treffen, 
Wäre  der  Obersatz  nur,  wäre  der  Untersatz  wahr! 

LETZTE  ZUFLUCHT 

VORNEHM  schaut  ihr  im  Glück  auf  den  blinden  Em- 
piriker nieder, 
Aber,  seid  ihr  in  Not,  ist  er  der  delphische  Gott. 

DIE  SYSTEME 

PRÄCHTIG  habt  ihr  gebaut.    Du  lieber  Himmel!    Wie 
treibt  man, 
Nun  er  so  königlich  erst  wohnet,  den  Irrtum  heraus! 


DIE  VIELWISSER 
I  seid  ihr  und  kenne 
Aber  der  Horizont  decket  manch  Sternbild  euch  zu. 


\  STRONOMEN  seid  ihr  und  kennet  viele  Gestirne, 


MORALISCHE  SCHWÄTZER 

WIE  sie  mit  ihrer  reinen  Moral  uns,  die  Schmutzi- 
gen, quälen! 
Freilich,  der  groben  Natur  dürfen  sie  gar  nichts  vertraun! 
Bis   in   die  Geisterwelt  müssen  sie  fiiehn,  dem  Tier  zu 

entlaufen. 
Menschlich  können  sie  selbst  auch  nicht  das  Mensch- 
lichste tim. 
Hätten  sie  kein  Gewissen,  und  spräche  die  Pflicht  nicht 

so  heilig, 
Wahrlich,  sie  plünderten  selbst  in  der  Umarmung  die 

Braut. 

DER  STRENGLING  UND  DER  FRÖMMLING 

JENER  fodert  durchaus,  daß  dir  das  Gute  mißfalle. 
Dieser  will  gar,  daß  du  liebst,  was  dir  von  Herzen 

mißfällt. 
Muß  ich  wählen,  so  seis  in  Gottes  Namen  die  Tugend, 
Denn  ich  kann  einmal  nicht  lieben,  was  abgeschmackt  ist. 


J 


1794/7   WEIMAR  391 

THEOPHAGEN 

DIESEN  ist  alles  Genuß.  Sie  essen  Ideen,  und  bringen 
In  das  Himmelreich  selbst  Messer  und  Gabel  hinauf. 

FRATZEN 

FROMME  gesunde  Natur!  Wie  stellt  die  Moral  dich  an 
Pranger! 
Heiige  Vernunft!  Wie  tief  stürzt  dich  der  Schwärmer 

herab! 

MORAL  DER  PFLICHT  UND  DER  LIEBE 

JEDE,  wohin  sie  gehört!    Erhabene  Seelen  nur  kleidet 
Jene,  die  andere  steht  schönen  Gemütern  nur  an. 
Aber  Widrigers  kenn  ich  auch  nichts,  als  wenn  sich  durch 

Bande 
Zarter  geistiger  Lieb  Grobes  mit  Grobem  vermählt; 
Und  verächtlicher  nichts  als  die  Moral  der  Dämonen 
In  dem  Munde  des  Volks,  dem  noch  die  Menschlichkeit 

fehlt. 

DER  PHILOSOPH  UND  DER  SCHWÄRMER 
TENER  steht  auf  der  Erde,  doch  schauet  das  Auge  zum 
J  Himmel; 

Dieser,  die  Augen  im  Kot,  recket  die  Beine  hinauf. 

DAS  IRDISCHE  BÜNDEL 

HIMMELAN  flögen  sie  gern,  doch  hat  auch  der  Körper 
sein  Gutes, 
Und  man  packt  es  geschickt  hinten  dem  Seraph  noch  auf. 


w 


DER  WAHRE  GRUND 
AS  sie  im  Himmel  wohl  suchen,  das,  Freunde,  will 

ich  euch  sagen: 
Vorderhand  suchen  sie  nur  Schutz  vor  der  höllischen 

Glut. 

DIE  TRIEBFEDERN 

IMMER  treibe  die  Furcht  den  Sklaven  mit  eisernem  Stabe; 
Freude,  führe  du  mich  immer  an  rosichtem  Band. 


392  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

WAHRHEIT 

EINE  nur  ist  sie  für  alle,  doch  siehet  sie  jeder  verschieden; 
Daß  es  Eines  doch  bleibt,  macht  das  Verschiedene 

wahr. 

SCHÖNHEIT 

SCHÖNHEIT  ist  ewig  nur  Eine,  doch  mannigfach  wech- 
selt das  Schöne; 
Daß  es  wechselt,  das  macht  eben  das  Eine  nur  schön. 

BEDINGUNG 

EWIG  strebst  du  umsonst,  dich  dem  Göttlichen  ähnlich 
zu  machen, 
Hast  du  das  Göttliche  nicht  erst  zu  dem  Deinen  gemacht. 

DER  VORZUG 

J  WER  das  Herz  zu  siegen,  ist  groß,  ich  verehre  den 
^^  Tapfern; 

Aber  wer  durch  sein  Herz  sieget,  er  gilt  mir  doch  mehr. 

DIE  ERZIEHER 

BÜRGER  erzieht  ihr  der  sittlichen  Welt;   wir  wollten 
euch  loben, 
Stricht  ihr  sie  nur  nicht  zugleich  aus  der  empfindenden 

aus. 

DAS  GÖTTLICHE 

WÄRE  sie  unverwelklich,  die  Schönheit,  ihr  könnte 
nichts  gleichen; 
Nichts,  wo  die  göttliche  blüht,  weiß  ich  der  göttlichen 

gleich. 
Ein  Unendliches  ahndet,  ein  Höchstes  erschafft  die  Ver- 
nunft sich: 
In  der  schönen  Gestalt  lebt  es  dem  Herzen,  dem  Blick. 

VERSTAND 

BILDEN  wohl  kann  der  Verstand,  doch  der  tote  kann 
nicht  beseelen. 
Aus  dem  Lebendigen  quillt  alles  Lebendige  nur. 


\ 


1794/7  WEIMAR  393 

PHANTASIE 

SCHAFFEN  wohl  kann  sie  den  Stoflf,  doch  die  wilde  kann 
nicht  gestalten, 
Aus  dem  Harmonischen  quillt  alles  Harmonische  nur. 

DICHTUNGSKRAFT 

DASS  dein  Leben  Gestalt,  dein  Gedanke  Leben  ge- 
winne, 
Laß  die  belebende  Kraft  stets  auch  die  bildende  sein. 

WITZ  UND  VERSTAND 

DER  ist  zu  furchtsam,  jener  zu  kühn;  nur  dem  Genius 
ward  es, 
In  der  Nüchternheit  kühn,  fromm  in  der  Freiheit  zusein. 

ABERWITZ  UND  WAHNWITZ 

U"  BERSPRINGT  sich  der  Witz,  so  lachen  wir  über  den 
Toren; 
Gleitet  der  Genius  aus,  ist  er  dem  Rasenden  gleich. 

DER  UNTERSCHIED 

LÄCHELND  sehn  wir  den  Tänzer  auf  glatter  Ebene 
straucheln. 
Aber  auf  ernstlichem  Seil  wer  mag  den  Schwindelnden 

sehn  ? 

LEHRE  AN  DEN  KUNSTJÜNGER 

DASS  du  der  Fehler  schlimmsten,  die  Mittelmäßigkeit, 
meidest, 
Jüngling,  so  meide  doch  ja  keinen  der  andern  zu  früh! 

DAS  MITTELMÄSSIGE  UND  DAS  GUTE 

WILLST  du  jenem  den  Preis  verschaffen,  zähle  die 
Fehler; 
Willst  du  dieses  erhöhn,  zähle  die  Tugenden  ab. 


394  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

DAS  PRIVILEGIUM 

BLÖSSEN  gibt  nur  das  Reiche  dem  Tadel,  am  Werke 
der  Armut 
Ist  nichts  Schlechtes,  es  ist  Gutes  daran  nichts  zu  sehn. 


N 


DIE  SICHERHEIT 
UR  das  feurige  Roß,  das  mutige,  stürzt  auf  der  Renn- 
bahn, 
Mit  bedächtigem  Paß  schreitet  der  Esel  daher. 


GENIALISCHE  KRAFT 

ALLE  Schöpfung  ist  Werk  der  Natur.    Von  Jupiters 
Throne 
Zuckt  der  allmächtige  Strahl,  nährt  und  erschüttert  die 

Welt. 
Pflanzet  über  die  Häuser  die  leitenden  Spitzen  undKetten, 
Über  die  ganze  Natur  wirkt  die  allmächtige  Kraft. 

DELIKATESSE  IM  TADEL 

WAS  heißt  zärtlicher  Tadel?    Der  deine  Schwäche 
verschonet? 
Nein,  der  deinen  Begriff  von  dem  Vollkommenen  stärkt. 

DER  BERUFENE  RICHTER 

WER  ist  zum  Richter  bestellt?  Nur  der  Bessere?  Nein, 
wem  das  Gute 
Über  das  Beste  noch  gilt,  der  ist  zum  Richter  bestellt. 

AXT    **** 

DU  vereinigest  jedes  Talent,  das  den  Autor  vollendet; 
O  entschließe  dich,  Freund,  nichts  als  ein  Leser 

zu  sein. 

DAS  MITTEL 

WILLST  du  in  Deutschland  wirken  als  Autor,  so  trifl 
sie  nur  tüchtig, 
Denn  zum  Beschauen  des  Werks  finden  sich  wenige  nur. 


1794/7   WEIMAR  395 

DIE  UNBERUFENEN 

TADELN  ist  leicht,  erschaifen  so  schwer;  ihr  Tadler 
des  Schwachen, 
Habt  ihr  das  Treffliche  denn  auch  zu  belohnen  ein  Herz? 

DIE  BELOHNUNG 

WAS  belohnet  den  Meister?  Der  zart  antwortende 
Nachklang 
Und  der  reine  Reflex  aus  der  begegnenden  Brust. 

DAS  GEWÖHNLICHE  SCHICKSAL 

HAST  du  an  liebender  Brust  das  Kind  der  Empfindung 
gepfleget, 
Einen  Wechselbalg  nur  gibt  dir  der  Leser  zurück. 


'I 


DER  WEG  ZUM  RUHME 


GLÜCKLICH  nenn  ich  den  Autor,  der  in  der  Höhe 
den  Beifall 
Findet;  der  deutsche  muß  nieder  sich  bücken  dazu. 

BEDEUTUNG 

WAS  bedeutet  dein  Werk?"  so  fragt  ihr  den  Bildner 
des  Schönen; 
Frager,  ihr  habt  nur  die  Magd,  niemals  die  Göttin  ge- 
sehn. 

AN  DIE  MORALISTEN 

LEHRET!   das  ziemet  euch  wohl,  auch  wir  verehren 
die  Sitte; 
Aber  die  Muse  läßt  sich  nicht  gebieten  von  euch. 
Nicht  von  dem  Architekt  erwart  ich  melodische  Weisen, 

Und,  Moralist,  von  dir  nicht  zu  dem  Epos  den  Plan. 
Vielfach  sind  die  Kräfte  des  Menschen;  o  daß  sich  doch 

jede 
Selbst  beherrsche,  sich  selbst  bilde  zum  herrlichsten  aus! 


396  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

DEUTSCHE  KUNST 

GABE  von  oben  her  ist,  was  wir  Schönes  in  Künsten 
besitzen, 
Wahrlich,  von  unten  herauf  bringt  es  der  Grund  nicht 

hervor. 
Muß  der  Künstler  nicht  selbst  den  Schößling  von  außen 

sich  holen? 
Nicht  aus  Rom  und  Athen  borgen  die  Sonne,  die  Luft? 

TOTE  SPRACHEN 

TOTE  Sprachen  nennt  ihr  die  Sprache  des  Flaccus  und 
Pindar, 
Und  von  beiden  nur  kommt,  was  in  der  unsrigen  lebt! 

DEUTSCHER  GENIUS 

RINGE,  Deutscher,  nach  römischer  Kraft,  nach  griechi- 
scher Schönheit! 
Beides  gelang  dir,  doch  nie  glückte  der  gallische  Sprung. 


VIER  JAHRESZEITEN 

FRÜHLING 

AUF,  ihr  Distichen,   frisch!   Ihr  muntern  lebendigen 
Knaben! 
Reich  ist  Garten  und  Feld!  Blumen  zum  Kranze  herbei! 

REICH  ist  an  Blumen  die  Fltur;  doch  einige  sind  nur 
dem  Auge, 
Andre  dem  Herzen  nur  schön;  wähle  dir,  Leser,  nun 

selbst! 

ROSENKNOSPE,   du   bist  dem  blühenden  Mädchen 
gewidmet, 
Die  als  die  Herrlichste  sich,  als  die  Bescheidenste  zeigt. 

■X    /TELE  der  Veilchen  zusammengeknüpft,  das  Strauß - 
V  chen  erscheinet 

Erst  als  Blume;  du  bist,  häusliches  Mädchen,  gemeint. 


1794/7  WEIMAR  397 

EINE  kannt  ich,  sie  war  wie  die  Lilie  schlank,  und  ihr 
Stolz  war 
Unschuld;  herrlicher  hat  Salomo  keine  gesehn. 

SCHÖN  erhebt  sich  der  Aglei,  und  senkt  das  Köpfchen 
herunter. 
Ist  es  Gefühl:  oder  ists  Mutwill?  Ihr  ratet  es  nicht. 

VIELE  duftende  Glocken,  o  Hyazinthe,  bewegst  du; 
Aber  die  Glocken  ziehn,  wie  die  Gerüche,  nicht  an. 

NACHTVIOLE,  dich  geht  man  blendenden  Tage  vor- 
über; 
Doch  bei  der  Nachtigall  Schlag  hauchest  du  köstlichen 

Geist. 

TUBEROSE,  du  ragest  hervor  und  ergetzest  im  Freien; 
Aber  bleibe  vom  Haupt,  bleibe  vom  Herzen  mir 

fern! 

FERN  erblick  ich  den  Mohn;  er  glüht.   Doch  komm  ich 
dir  näher, 
Ach!  so  seh  ich  zu  bald,  daß  du  die  Rose  nur  lügst. 

TULPEN,  ihr  werdet  gescholten  von  sentimentalischen 
Kennern; 
Aber  ein  lustiger  Sinn  wünscht  auch  ein  lustiges  Blatt. 

NELKEN,  wie  find  ich  euch  schön!  Doch  alle  gleicht 
ihr  einander, 
Unterscheidet  euch  kaum,  und  ich  entscheide  mich  nicht. 

PRANGT  mit  den  Farben  Aurorens,  Ranunkeln,  Tulpen 
und  Astern! 
Hier  ist  ein  dunkles  Blatt,  das  euch  an  Dufte  beschämt. 

KEINE  lockt  mich,  Ranunkeln,  von  euch,  und  keine 
begehr  ich; 
Aber  im  Beete  vermischt  sieht  euch  das  Auge  mit  Lust. 


398  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

SAGT!  was  füllet  das  Zimmer  mit  Wohlgerüchen?  Reseda, 
Farblos,  ohne  Gestalt,  stilles,  bescheidenes  Kraut. 


z 


lERDE  wärst  du  der  Gärten;  doch  wo  du  erscheinest, 

da  sagst  du: 
Ceres  streute  mich  selbst  aus  mit  der  goldenen  Saat. 


DEINE  liebliche  Kleinheit,  dein  holdes  Auge,  sie  sagen 
Immer:  Vergiß  mein  nicht!  immer:  Vergiß  nur  nicht 

mein! 

SCHWÄNDEN  dem  inneren  Auge  die  Bilder  sämtlicher 
Blumen, 
Eleonore,  dein  Bild  brächte  das  Herz  sich  hervor. 


SOMMER 

GRAUSAM  erweiset  sich  Amor  an  mir!  O  spielet,  ihr 
Musen, 
Mit  den  Schmerzen,  die  er,  spielend,  im  Busen  erregt! 

MANUSKRIPTE  besitz  ich,  wie  kein  Gelehrter  noch 
König; 
Denn  mein  Liebchen,  sie  schreibt,  was  ich  ihr  dichtete, 

mir. 

WIE  im  Winter  die  Saat  nur  langsam  keimet,  im 
Sommer 
Lebhaft  treibet  und  reift,  so  war  die  Neigung  zu  dir. 

IMMER  war  mir  das  Feld  und  der  Wald,  und  der  Fels 
und  die  Gärten 
Nur  ein  Raum,  und  du  machst  sie,  Geliebte,  zum  Ort. 

"n  AUM  und  Zeit,  ich  empfind  es,  sind  bloße  Formen 
fv.  des  Anschauns, 

Da  das  Eckchen   mit   dir,   Liebchen,   imendlich   mir 

scheint. 


1794/7   WEIMAR  399 

SORGE!  sie  steiget  mit  dir  zu  Roß,  sie  steiget  zu  SchiflFe; 
Viel  zudringlicher  noch  packet  sich  Amor  uns  auf. 

NEIGUNG  besiegen  ist  schwer;  gesellet  sich  aber  Ge- 
wohnheit, 
Wurzelnd,  allmählich  zu  ihr,  unüberwindlich  ist  sie. 

WELCHE  Schrift  ich  zwei-,  ja  dreimal  hinterein- 
ander 
Lese?  Das  herzliche  Blatt,  das  die  Geliebte  mir  schreibt. 

SIE  entzückt  mich,  und  täuschet  vielleicht.    O  Dichter 
und  Sänger, 
Mimen!  lerntet  ihr  doch  meiner  Geliebten  was  ab! 

ALLE  Freude  des  Dichters,  ein  gutes  Gedicht  zu  er- 
schafifen, 
Fühle  das  liebliche  Kind,  das  ihn  begeisterte,  mit. 

EIN  Epigramm  sei  zu  kurz,  mir  etwas  Herzlichs  zu  sagen? 
Wie,  mein  Geliebter,  ist  nicht  kürzer  der  herzliche 

Kuß? 

KENNST   du  das  herrliche   Gift  der  unbefriedigten 
Liebe? 
Es  versengt  und  erquickt,  zehret  am  Mark  und  erneuts. 

KENNST  du  die  herrliche  Wirkvmg  der  endlich  be- 
friedigten Liebe? 
Körper  verbindet  sie  schön,  wenn  sie  die  Geister  befreit. 


D 


AS  ist  die  wahre  Liebe,  die  immer  vmd  immer  sich 

gleichbleibt, 
Wenn  man  ihr  alles  gewährt,  wenn  man  ihr  alles  versagt. 


ALLES   wünscht  ich  zu  haben,   um  mit  ihr  alles  zu 
teilen; 
Alles  gab  ich  dahin,  war  sie,  die  Einzige,  mein. 


400  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

KRÄNKEN  ein  liebendes  Herz,  und  schweigen  müssen: 
geschärfter 
Können  die  Qualen  nicht  sein,  die  Rhadamanth  sich 

ersinnt. 

WARUM  bin  ich  vergänglich,  o  Zeus?  so  fragte  die 
Schönheit. 
Macht  ich  doch,  sagte  der  Gott,  nur  das  Vergängliche 

schön. 

UND  die  Liebe,  die  Blumen,  der  Tau  vuid  die  Jugend 
vernahmens; 
Alle  gingen  sie  weg,  weinend,  von  Jupiters  Thron. 

LEBEN  muß   man  und  lieben;   es  endet  Leben  imd 
Liebe. 
Schnittest  du,  Parze,  doch  nur  beiden  die  Fäden  zu- 


gleich! 


HERBST 


RICHTET   den    herrschenden    Stab    auf  Leben    und 
Handeln,  und  lasset 
Amom,  dem  lieblichen  Gott,  doch  mit  der  Muse  das 

Spiel! 

LEHRET!   Es  ziemet  euch  wohl,   auch  wir  verehren 
die  Sitte; 
Aber  die  Muse  läßt  nicht  sich  gebieten  von  euch. 

"\  TIMM  dem  Prometheus  die  Fackel,  beleb,  o  Muse,  die 
1  N  Menschen! 

Nimm  sie  dem  Amor,  und  rasch  quäl  imd  beglücke, 

wie  er! 

ALLE  Schöpfung  ist  Werk  der  Natur.    Von  Jupiters 
Throne 
Zuckt  der  allmächtige  Strahl,  nährt  und  erschüttert  die 

Welt. 


1794/7   WEIMAR  401 

FREUNDE,  treibet  nur  alles  mit  Ernst  und  Liebe;  die 
beiden 
Stehen  dem  Deutschen  so  schön,  den  ach!  so  vieles 

entstellt. 

KINDER  werfen  den  Ball  an  die  Wand  und  fangen  ihn 
wieder; 
Aber  ich  lobe  das  Spiel,  wirft  mir  der  Freund  ihn  zurück. 

IMMER  strebe  zum  Ganzen,  und  kannst  du  selber  kein 
Ganzes 
Werden,   als  dienendes  Glied  schließ  an  ein  Ganzes 

dich  an. 

WÄRT  ihr,   Schwärmer,    imstande,    die  Ideale  zu 
fassen, 
O!  so  verehrtet  ihr  auch,  wie  sichs  gebührt,  die  Natur. 

WEM  zu  glauben  ist,  redlicher  Freund,  das  kann  ich 
dir  sagen: 
Glaube  dem  Leben;  es  lehrt  besser  als  Redner  und  Buch. 

SCHÄDLICHE  Wahrheit,  ich  ziehe  sie  vor  dem  nütz- 
lichen Irrtum. 
Wahrheit  heilet  den  Schmerz,  den  sie   vielleicht  uns 

erregt. 

SCHADET  ein  Irrtum  wohl.-  Nicht  immer!  aber  das  Irren, 
Immer  schadets.   Wie  sehr,  sieht  man  am  Ende  des 

Wegs. 

FREMDE  Kinder,    wir  lieben  sie  nie  so  sehr  als  die 
eignen; 
Irrtum,  das  eigene  Kind,  ist  uns  dem  Herzen  so  nah. 

IRRTUM  verläßt  uns  nie;  doch  ziehet  ein  höher  Bedürfnis 
Immer  den  strebenden  Geist  leise  zur  Wahrheit  hinan. 

GLEICH  sei  keiner  dem  andern;  doch  gleich  sei  jeder 
dem  Höchsten. 
Wie  das  zu  machen?  Es  sei  jeder  vollendet  in  sich. 

GOETHE  XIV  26. 


402  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

WARUM  will  sich  Geschmack  und  Genie  so  selten 
vereinen? 
Jener  furchtet  die  Kraft,  dieses  verachtet  den  Zaum. 

FORTZUPFLANZEN   die  Welt,   sind  alle  vemünftgen 
Diskurse 
Unvermögend;  durch  sie  kommt  auch  kein  Kunstwerk 

hervor. 

WELCHEN  Leser  ich  wünsche?  Den  unbefangen- 
sten, der  mich, 
Sich  und  die  Welt  vergißt,  und  in  dem  Buche  nur  lebt. 

DIESER  ist  mir  der  Freund,   der  mit  mir  Strebendem 
wandelt; 
Lädt  er  zum  Sitzen  mich  ein,  stehl  ich  für  heute  mich 

weg. 

WIE  beklag  ich  es  tief,  daß  diese  herrliche  Seele, 
Wert,   mit  zum  Zwecke  zu  gehn,  mich  nur  als 

Mittel  begreift! 

PREISE  dem  Kinde  die  Puppen,  wofür  es  begierig  die 
Groschen 
Hinwirft;  wahrlich,  du  wirst  Krämern  und  Kindern  ein 

Gott. 

WIE  verfährt  die  Natur,  um  Hohes  und  Niedres  im 
Menschen 
Zu  verbinden?  Sie  stellt  Eitelkeit  zwischen  hinein. 

AUF  das  empfindsame  Volk  hab  ich  nie  was  gehalten; 
es  werden. 
Kommt  die  Gelegenheit,  nur  schlechte  Gesellen  daraus. 

FRANZTUM  drängt  in  diesen  verworrenen  Tagen,  wie 
ehmals 
Luthertum  es  getan,  ruhige  Bildtmg  zurück. 

A  V  70  Parteien  entstehn,  hält  jeder  sich  hüben  und 


drüben; 
Viele  Jaihre  vergehn,  eh  sie  die  Mitte  vereint. 


1 


1794/7  WEIMAR  403 

WILLST  du,  mein  Sohn,  frei  bleiben,  so  lerne  was 
Rechtes,  und  halte 
Dich  genügsam,  und  nie  blicke  nach  oben  hinauf! 

WER  ist  der  edlere  Mann  in  jedem  Stande?   Der 
stets  sich 
Neiget  zum  Gleichgewicht,  was  er  auch  habe  voraus. 

WISST  ihr,  wie  auch  der  Kleine  was  ist?  Er  mache 
das  Kleine 
Recht;  der  Große  begehrt  just  so  das  Große  zu  tun. 


w 


AS  ist  heilig?  Das  ists,  was  viele  Seelen  zusammen 
Bindet;  band  es  auch  nur  leicht,  wie  die  Binse 

den  Kranz. 


WAS  ist  das  Heiligste?  Das,  was  heut  und  ewig  die 
Geister, 
Tiefer  und  tiefer  gefühlt,  immer  nur  einiger  macht. 

WER  ist  das  würdigste  Glied  des  Staats?  Ein  wackerer 
Bürger; 
Unter  jeglicher  Form  bleibt  er  der  edelste  Stoff. 

WER  ist  denn  wirklich  ein  Fürst?  Ich  hab  es  immer 
gesehen: 
Der  nur  ist  wirklich  Fürst,  der  es  vermochte  zu  sein. 

FEHLET  die  Einsicht  oben,  der  gute  Wille  von  unten. 
Führt  sogleich  die  Gewalt,  oder  sie  endet  den  Streit. 

REPUBLIKEN  hab  ich  gesehn,  und  das  ist  die  beste, 
Die  dem  regierenden  Teil  Lasten,  nicht  Vorteil  ge- 
währt. 

BALD,  es  kenne  nur  jeder  den  eigenen,  gönne  dem  an- 
dern 
Seinen  Vorteil,  so  ist  ewiger  Friede  gemacht. 

KEINER  bescheidet  sich  gern  mit  dem  Teile,  der  ihm 
gebühret. 
Und  so  habt  ihr  den  Stoff  immer  und  ewig  zum  Krieg. 


404  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

ZWEIERLEI  Arten  gibt  es,  die  treffende  Wahrheit  zu 
sagen: 
Öffentlich  immer  dem  Volk,  immer  dem  Fürsten  ge- 
heim. 

WENN  du  laut  den  einzelnen  schiltst,  er  wird  sich 
verstecken, 
Wie  sich  die  Menge  verstockt,  wenn  du  im  ganzen  sie 

lobst. 

DU  bist  König  und  Ritter  und  kannst  befehlen  und 
streiten; 
Aber  zu  jedem  Vertrag  rufe  den  Kanzler  herbei. 

KLUG  imd  tätig  und  fest,  bekannt  mit  allem,  nach  oben 
Und  nach  unten  gewandt,  sei  er  Ministerund  bleibs. 

WELCHEN  Hofmann  ich  ehre?   Den  klarsten  und 
feinsten!  Das  andre, 
Was  er  noch  sonst  besitzt,  kommt  ihm  als  Menschen 

zugut. 

B  du  der  Klügste  seist,  daran  ist  wenig  gelegen; 
Aber  der  Biederste  sei,  so  wie  bei  Rate,  zu  Haus. 


o 
o 


B  du  wachst,  das  kümmert  uns  nicht,  wofern  du  nur 

singest. 
Singe,  Wächter,  dein  Lied  schlafend,  wie  mehrere  tun. 

WINTER 

WASSER  ist  Körper,  undBoden  der  Fluß.  Das  neuste 
Theater 
Tut  in  der  Sonne  Glanz  zwischen  den  Ufern  sich  auf. 

WAHRLICH,  es  scheint  nur  ein  Traum!  Bedeutende 
Bilder  des  Lebens 
Schweben,  lieblich  imd  ernst,  über  die  Fläche  dahin. 

I 

EINGEFROREN  sahen  wir  so  Jahrhimderte  starren, 
Menschengefühl  xmd  Vernunft  schlich  nur  verborgen 

am  Grimd. 


j^  1794/7  WEIMAR  405 

"\  TUR  die  Fläche  bestimmt  die  kreisenden  Bahnen  des 
1 N  Lebens; 

Ist  sie  glatt,  so  vergißt  jeder  die  nahe  Gefahr. 

ALLE  streben  und  eilen  und  suchen  und  fliehen  ein- 
ander; 
Aber  alle  beschränkt  freimdlich  die  glättere  Bahn. 

DURCH  einander  gleiten  sie  her,  die  Schüler  imd  Mei- 
ster, 
Und  das  gewöhnliche  Volk,  das  in  der  Mitte  sich  hält. 

JEDER  zeigt  hier,  was  er  vermag;  nicht  Lob  und  nicht 
Tadel 
Hielte  diesen  zurück,  förderte  jenen  zum  Ziel. 

EUCH,  Präkonen  des  Pfuschers,  des  Meisters  Verklei- 
nerer, wünscht  ich 
Mit  ohnmächtiger  Wut  stumm  hier  am  Ufer  zu  sehn. 

LEHRLING,  du  schwankest  und  zauderst  und  scheuest 
die  glättere  Fläche. 
Nur  gelassen!  du  wirst  einst  noch  die  Freude  der  Bahn. 

WILLST  du  schon  zierlich  erscheinen,  imd  bist  nicht 
sicher?   Vergebens! 
Nur  aus  vollendeter  Kraft  blicket  die  Anmut  hervor. 

FALLEN  ist  der  Sterblichen  Los.  So  fällt  hier  der  Schüler, 
Wie  der  Meister;  doch  stürzt  dieser  gefährlicher  hin. 

STÜRZT  der  rüstigste  Läufer  der  Bahn,  so  lacht  man 
am  Ufer, 
Wie  man  bei  Bier  und  Tabak  über  Besiegte  sich  hebt. 

GLEITE  fröhlich  dahin,  gib  Rat  dem  werdenden  Schüler, 
Freue  des  Meisters  dich,  und  so  genieße  des  Tags. 

SIEHE,  schon  nahet  der  Frühhng;  das  strömende  Wasser 
verzehret 
Unten,  der  sanftere  Blick  oben  der  Sonne  das  Eis. 


4o6  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

DIESES  Geschlecht  ist  hinweg,  zerstreut  die  bunte  Ge- 
sellschaft; 
Schiffern  und  Fischern  gehört  wieder  die  wallende  Flut. 

SCHWIMME,  du  mächtige  Scholle,  nur  hin!  uad  kommst 
du  als  Scholle 
Nicht  hinunter,  du  kommst  doch  wohl  als  Tropfen  ins 

Meer. 

MIGNON 

SO  laßt  mich  scheinen,  bis  ich  werde; 
Zieht  mir  das  weiße  Kleid  nicht  aus! 
Ich  eile  von  der  schönen  Erde 
Hinab  in  jenes  feste  Haus. 

Dort  ruh  ich  eine  kleine  Stille, 
Dann  öffnet  sich  der  frische  Blick, 
Ich  lasse  dann  die  reine  Hülle, 
Den  Gürtel  und  den  Kranz  zurück. 

Und  jene  himmlischen  Gestalten, 
Sie  fragen  nicht  nach  Mann  und  Weib, 
Und  keine  Kleider,  keine  Falten 
Umgeben  den  verklärten  Leib. 

Zwar  lebt  ich  ohne  Sorg  und  Mühe, 
Doch  fühlt  ich  tiefen  Schmerz  genung. 
Vor  Kummer  altert  ich  zu  frühe — 
Macht  mich  auf  ewig  wieder  jung! 

[An  die  Herzogin  Luise] 

SKLAVEN  sollten  wir  haben  in  deiner  Gegenwart.^  Alle, ' 
Fürstin,  machest  du  frei,  alle  verbindest  du  dir. 


[In  Ifflands  Stammbuch] 

lEL   von  Künsten   und  Künstlern  wird  immer  in 
Deutschland  gesprochen; 
Angeschaut  haben  wir  nun  Künstler  und  Künste  zu-^ 

gleich. 


V 


1794/7  WEIMAR  407 

DIE  SPRÖDE 

AN  dem  reinsten  Frühlingsmorgen 
Ging  die  Schäferin  mid  sang, 
Jung  und  schön  und  ohne  Sorgen, 
Daß  es  durch  die  Felder  klang, 
So  la  la!  le  ralla! 

Thyrsis  bot  ihr  für  ein  Mäulchen 
Zwei,  drei  Schäfchen  gleich  am  Ort. 
Schalkhaft  blickte  sie  ein  Weilchen, 
Doch  sie  sang  und  lachte  fort, 
So  la  la!  le  ralla! 

Und  ein  andrer  bot  ihr  Bänder, 
Und  der  dritte  bot  sein  Herz; 
Doch  sie  trieb  mit  Herz  und  Bändern 
So  wie  mit  den  Lämmern  Scherz, 
Nur  la  la!  le  ralla! 

DIE  BEKEHRTE 

BEI  dem  Glänze  der  Abendröte 
Ging  ich  still  den  Wald  entlang, 
Dämon  saß  und  blies  die  Flöte, 
Daß  es  von  den  Felsen  klang, 
So  la  la! 

Und  er  zog  mich,  ach,  an  sich  nieder 
Küßte  mich  so  hold,  so  süß. 
Und  ich  sagte:  Blase  wieder! 
Und  der  gute  Junge  blies, 
So  la  la! 

Meine  Ruhe  ist  nun  verloren, 
Meine  Freude  floh  davon. 
Und  ich  höre  vor  meinen  Ohren 
Immer  nur  den  alten  Ton, 
So  la  la,  le  ralla! 

u.  s.  w. 


4o8  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

ALEXIS  UND  DORA 

ACH!  unaufhaltsam  strebet  das  Schiff  mit  jedem  Mo- 
mente 
Durch  die  schäumende  Flut  weiter  und  weiter  hinaus! 
Langhin  furcht  sich  die  Gleise  des  Kiels,  worin  die  Delphine 

Springend  folgen,  als  flöh  ihnen  die  Beute  davon. 
Alles  deutet  auf  glückliche  Fahrt:  der  ruhige  Bootsmann 

Ruckt  am  Segel  gelind,  das  sich  für  alle  bemüht; 
Vorwärts  dringt  der  SchiflFenden  Geist,  wie  Flaggen  imd 

Wimpel; 
Einer  nur  steht  rückwärts  traurig  gewendet  am  Mast, 
Sieht  die  Berge  schon  blau,  die  scheidenden,  sieht  in  das 

Meer  sie 
Niedersinken,  es  sinkt  jegliche  Freude  vor  ihm. 
Auch  dir  ist  es  verschwunden,  das  Schiff,  das  deinen  Alexis, 
Dir,  o  Dora,  den  Freund,  ach!  dir  den  Bräutigam  raubt. 
Auch  du  blickest  vergebens  nach  mir.  Noch  schlagen  die 

Herzen 
Füreinander,  doch  ach!  nun  aneinander  nicht  mehr. 
Einziger  Augenblick,  in  welchem  ich  lebte!  du  wiegest 
Alle  Tage,  die  sonst  kalt  mir  verschwindenden,  auf. 
Ach!  nur  im  Augenblick,  im  letzten,  stieg  mir  ein  Leben 

Unvermutet  in  dir,  wie  von  den  Göttern,  herab. 
Nur  umsonst  verklärst  du  mit  deinem  Lichte  den  Äther; 

Dein  allleuchtender  Tag,  Phöbus,  mir  ist  er  verhaßt. 
In  mich  selber  kehr  ich  zurück;  da  will  ich  im  stillen 
Wiederholen  die  Zeit,  als  sie  mir  täglich  erschien. 
War  es  möglich,  die  Schönheit  zu  sehn  und  nicht  zu  emp- 
finden.^ 
Wirkte  der  himmlische  Reiz  nicht  auf  dein  stumpfes 

Gemüt? 
Klage  dich.  Armer,   nicht  an! — So  legt  der  Dichter  ein 

Rätsel, 
Künstlich  mit  Worten  verschränkt,  oft  der  Versammlung 

ins  Ohr: 
Jeden  freuet  die  seltne,  der  zierHchen  Bilder  Verknüpfung, 
Aber  noch  fehlet  das  Wort,  das  die  Bedeutung  ver- 
wahrt; 


1 


||  1794/7  WEIMAR  409 

Ist  es  endlich  entdeckt,  dann  heitert  sich  jedes  Gemüt  auf 

Und  erblickt  im  Gedicht  doppelt  erfreulichen  Sinn. 
Ach,  warum  so  spät,  o  Amor,  nahmst  du  die  Binde, 

Die  du  ums  Aug  mir  geknüpft,  nahmst  sie  zu  spät  mii 

hinweg! 
Lange  schon  harrte  befrachtet  das  Schifif  auf  günstige  Lüfte; 

Endlich  strebte  der  Wind  glücklich  vom  Ufer  ins  Meer. 
Leere  Zeiten  der  Jugend!  und  leere  Träume  der  Zukunft! 

Ihr  verschwindet,  es  bleibt  einzig  die  Stunde  mir  nur. 
Ja,  sie  bleibt,  es  bleibt  mir  das  Glück!  ich  halte  dich,  Dora! 

Und  die  Hoffnvmg  zeigt,  Dora,  dein  Bild  mir  allein. 
Öfter  sah  ich  zum  Tempel  dich  gehn,  geschmückt  und 

gesittet, 

Und  das  Mütterchen  ging  feierlich  neben  dir  her. 
Eilig  warst  du  und  frisch,  zu  Markte  die  Früchte  zu  tragen. 

Und  vom  Brunnen,  wie  kühn!  wiegte  dein  Haupt  das 

Gefäß. 
Da  erschien  dein  Hals,  erschien  dein  Nacken  vor  allen. 

Und  vor  allen  erschien  deiner  Bewegungen  Maß. 
Oftmals  hab  ich  gesorgt,  es  möchte  der  Krug  dir  entstürzen , 

Doch  er  hielt  sich  stet  auf  dem  geringelten  Tuch. 
Schöne  Nachbarin,  ja,  so  war  ich  gewohnt  dich  zu  sehen. 

Wie  man  die  Sterne  sieht,  wie  man  den  Mond  sich  be- 
schaut, 
Sich  an  ihnen  erfreut,  imd  innen  im  ruhigen  Busen 

Nicht  der  entfernteste  Wunsch,  sie  zu  besitzen,  sich  regt. 
Jahre,  so  gingt  ihr  dahin!  Nur  zwanzig  Schritte  getrennet 

Waren  die  Häuser,  imd  nie  hab  ich  die  Schwelle  be- 
rührt. 
Und  nun  trennt  uns  die  gräßliche  Flut!  Du  lügst  nur  den 

Himmel, 

Welle!  dein  herrliches  Blau  ist  mir  die  Farbe  der  Nacht. 
Alles  rührte  sich  schon;  da  kam  ein  Knabe  gelaufen 

An  mein  väterlich  Haus,  rief  mich  zum  Strande  hinab: 
Schon  erhebt  sich  das  Segel,   es  flattert  im  Winde,   so 

sprach  er. 

Und  gelichtet,  mit  Kraft,  trennt  sich  der  Anker  vom  Sand; 
Komm,  Alexis,  o  komm!  Da  drückte  der  wackere  Vater, 

Würdig,  die  segnende  Hand  mir  auf  das  lockige  Haupt- 


4IO  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Sorglich  reichte  die  Mutter  ein  nachbereitetes  Bündeh 

Glücklich  kehre  zurück!  riefen  sie,  glücklich  und  reich! 
Und  so  sprang  ich  hinweg,  das  Bündelchen  unter  dem  Arme, 

An  der  Mauer  hinab,  fand  an  der  Türe  dich  stehn 
Deines  Gartens.  Du  lächeltest  mir  und  sagtest:  Alexis! 
Sind  die  Lärmenden  dort  deine  Gesellen  der  Fahrt? 
Fremde  Küsten  besuchest  du  nun,  und  köstliche  Waren 
Handelst  du  ein,  und  Schmuck  reichen  Matronen  der 

Stadt. 
Aber  bringe  mir  auch  ein  leichtes  Kettchen;  ich  will  es 
Dankbar  zahlen:  so  oft  hab  ich  die  Zierde  gewünscht! 
Stehen   war  ich  geblieben  und  fragte,   nach  Weise  des 

Kaufmanns, 
Erst  nach  Form  und  Gewicht  deiner  Bestellung  genau. 
Gar  bescheiden  erwogst  du  den  Preis!  da  blickt  ich  in- 
dessen 
Nach  dem  Halse,  des  Schmucks  unserer  Königin  wert. 
Heftiger  tönte  vom  Schiff  das  Geschrei;   da  sagtest  du 

freundlich: 
Nimm  aus  dem  Garten  noch  einige  Früchte  mit  dir! 
Nimm  die  reifsten  Orangen,  die  weißen  Feigen;  das  Meer  , 

bringt  "^-i 

Keine  Früchte,  sie  bringl  jegliches  Land  nicht  hervor.  ' 
Und  so  trat  ich  herein.  Du  brachst  nun  die  Früchte  ge- 
schäftig. 
Und  die  goldene  Last  zog  das  geschürzte  Gewand. 
Öfters  bat  ich:  es  sei  nun  genug!  und  immer  noch  eine 
Schönere  Frucht  fiel  dir,  leise  berührt,  in  die  Hand. 
EndHch  kamst  du  zur  Laube  hinan;  da  fand  sich  ein  Körb- 
chen, 
Und  die  Myrte  bog  blühend  sich  über  uns  hin. 
Schweigend  begannest  du  nun  geschickt  die  Früchte  zu 

ordnen: 
Erst  die  Orange,  die  schwer  ruht,  als  ein  goldener  Ball, 
Dann  die  weichliche  Feige,  die  jeder  Druck  schon  ent- 
stellet; 
Und  mit  Myrte  bedeckt  ward  und  geziert  das  Geschenk. 
Aber  ich  hob  es  nicht  auf;  ich  stand.  Wir  sahen  einander 
In  die  Augen,  und  mir  ward  vor  dem  Auge  so  trüb. 


1794/7  ^VEIMAR  4ii 

Deinen  Busen  fühlt  ich  an  meinem!  Den  herrhchen  Nacken, 

Ihn  umschlang  nun  mein  Arm,  tausendmal  küßt  ich  den 

Hals; 
Mir  sank  über  die  Schulter  dein  Haupt,  nun  knüpften  auch 

deine 
Lieblichen  Arme  das  Band  um  den  Beglückten  herum. 
Amors  Hände  fühlt  ich:  erdrückt'  uns  gewaltig  zusammen, 

Und  aus  heiterer  Luft  donnert'  es  dreimal;  da  floß 
Häufig  die  Träne  vom  Aug  mir  herab,  du  weintest,  ich 

weinte, 
Und  vor  Jammer  und  Glück  schien  uns  die  Welt  zu 

vergehn. 
Immer  heftiger  rief  es  am  Strand;  da  wollten  die  Füße 
Mich  nicht  tragen,  ich  rief:  Dora!  und  bist  du  nicht 

mein? 
Ewig!  sagtest  du  leise.  Da  schienen  unsere  Tränen, 

Wie  durch  göttliche  Luft,  leise  vom  Auge  gehaucht. 
Näher  rief  es:  Alexis!  Da  blickte  der  suchende  Knabe 

Durch  die  Türe  herein.  Wie  er  das  Körbchen  empfing! 
Wie  er  mich  trieb!  Wie  ich  dir  die  Hand  noch  drückte! — 

Zu  Schifife 
Wie  ich  gekommen?  Ich  weiß,  daß  ich  ein  Trunkener 

schien. 

Und  so  hielten  mich  auch  die  Gesellen,   schonten  den 

Kranken; 
Und  schon  deckte  der  Hauch  trüber  Entfernung  die 

Stadt. 
Ewig!  Dora,  lispeltest  du;  mir  schallt  es  im  Ohre 

Mit  dem  Donner  des  Zeus!  Stand  sie  doch  neben  dem 

Thron, 
Seine  Tochter,  die  Göttin  der  Liebe;  die  Grazien  standen 

Ihr  zur  Seiten!   Er  ist  götterbekräftigt,  der  Bund! 
O  so  eile  denn,  Schiff,  mit  allen  günstigen  Winden! 

Strebe,  mächtiger  Kiel,  trenne  die  schäumende  Flutl 
Bringe  dem  fremden  Hafen  mich  zu,  damit  mir  der  Gold- 
schmied 
In  der  Werkstatt  gleich  ordne  das  himmlische  Pfand. 
Wahrlich!  zur  Kette  soll  das  Kettchen  werden,  o  Dora! 
Neunmal  umgebe  sie  dir,  locker  gewunden,  den  Hals! 


412  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Ferner  schaff  ich  noch  Schmuck,  den  mannigfaltigsten; 

goldne 
Spangen  sollen  dir  auch  reichlich  verzieren  die  Hand: 
Da  wetteifre  Rubin  und  Smaragd,  der  liebliche  Saphir 

Stelle  dem  Hyazinth  sich  gegenüber,  und  Gold 
Halte  das  Edelgestein  in  schöner  Verbindung  zusammen. 
O  wie  den  Bräutigam  freut,  einzig  zu  schmücken  die 

Braut! 
Seh  ich  Perlen,  so  denk  ich  an  dich;  bei  jeghchem  Ringe 
Kommt  mir  der  länglichen  Hand  schönes  Gebild  in  den 

Sinn. 
Tauschen  will  ich  und  kaufen;  du  sollst  das  Schönste  von 

allem 
Wählen;  ich  widmete  gern  alle  die  Ladung  nur  dir. 
Doch  nicht  Schmuck  und  Juwelen  allein  verschafft  dein 

Geliebter: 
Was  ein  häusliches  Weib  freuet,  das  bringt  er  dir  auch. 
Feine  wollene  Decken  mit  Purpursäumen,  ein  Lager 

Zu  bereiten,  das  uns  traulich  und  weichlich  empfängt; 
Köstlicher  Leinwand  Stücke.   Du  sitzest  und  nähest  und 

kleidest 
Mich  und  dich  und  auch  wohl  noch  ein  Drittes  darein. 
Bilder  der  Hoffnung,  täuschet  mein  Herz!    O  mäßiget, 

Götter, 

Diesen  gewaltigen  Brand,  der  mir  den  Busen  durchtobt! 

Aber  auch  sie  verlang  ich  zurück,  die  schmerzliche  Freude, 

Wenn  die  Sorge  sich  kalt,  gräßlich  gelassen,  mir  naht. 

Nicht  der  Erinnyen  Fackel,  das  Bellen  der  höllischen  Hunde 

Schreckt  den  Verbrecher  so  in  der  Verzweiflung  Gefild, 

Als  das  gelaßne  Gespenst  mich  schreckt,  das  die  Schöne 

von  fern  mir 
Zeiget:  die  Türe  steht  wirklich  des  Gartens  noch  auf! 
Und  ein  anderer  kommt!  Für  ihn  auch  fallen  die  Früchte! 

Und  die  Feige  gewährt  stärkenden  Honig  auch  ihm! 
Lockt  sie  auch  ihn  nach  der  Laube?  und  folgt  er,^  O  macht 

mich,  ihr  Götter, 
Blind,  verwischet  das  Bild  jeder  Erinnrung  in  mir! 
Ja,  ein  Mädchen  ist  sie!  imd  die  sich  geschwinde  dem  einen 
Gibt,  sie  kehret  sich  auch  schnell  zu  dem  andern  herum. 


1794/7   WEIMAR  413 

Lache  nicht  diesmal,  Zeus,  der  frech  gebrochenen  Schwüre! 

Donnere  schrecklicher!  Triff! — Halte  die  Blitze  zurück! 
Sende  die  schwankenden  Wolken  mir  nach!  Im  nächtlichen 

Dunkel 

Trefife  dein  leuchtender  Blitz  diesen  unglücklichen  Mast! 
Streue  die  Planken  umher  und  gib  der  tobenden  Welle 

Diese  Waren,  und  mich  gib  den  Delphinen  zum  Raub! — 
Nun,  ihr  Musen,  genug!  Vergebens  strebt  ihr  zu  schildern, 

Wie  sich  Jammer  und  Glück  wechseln  in  liebender  Brust. 
Heilen  könnet  die  Wunden  ihr  nicht,  die  Amor  geschlagen; 

Aber  Linderung  kommt  einzig,  ihr  Guten,  von  euch. 

MUSEN  UND  GRAZIEN  IN  DER  MARK 

Owie  ist  die  Stadt  so  wenig; 
Laßt  die  Maurer  künftig  ruha' 
Unsre  Bürger,  unser  König 
Könnten  wohl  was  Bessers  tun. 
Ball  und  Oper  wird  uns  töten; 
Liebchen,  komm  auf  meine  Flur, 
Denn  besonders  die  Poeten, 
Die  verderben  die  Natur. 

O  wie  freut  es  mich,  mein  Liebchen, 
Daß  du  so  natürlich  bist; 
Unsre  Mädchen,  rmsre  Bübchen 
Spielen  künftig  auf  dem  Mist! 
Und  axii  unsern  Promenaden 
Zeigt  sich  erst  die  Neigung  stark. 
Liebes  Mädchen!  laß  ims  waden, 
Waden  noch  durch  diesen  Quark. 

Dann  im  Sand  uns  zu  verlieren, 
Der  uns  keinen  Weg  versperrt! 
Dich  den  Anger  hin  zu  führen. 
Wo  der  Dorn  das  Röckchen  zerrt! 
Zu  dem  Dörfchen  laß  uns  schleichen 
Mit  dem  spitzen  Turme  hier; 
Welch  ein  Wirtshaus  sondergleichen! 
Trocknes  Brot  und  saures  Bier! 


L 


414  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Sagt  mir  nichts  von  gutem  Boden, 
Nichts  vom  Magdeburger  Land! 
Unsre  Samen,  unsre  Toten 
Ruhen  in  dem  leichten  Sand. 
Selbst  die  Wissenschaft  verlieret 
Nichts  an  ihrem  raschen  Lauf, 
Denn  bei  uns,  was  vegetieret. 
Alles  keimt  getrocknet  auf. 

Geht  es  nicht  in  unserm  Hofe 
Wie  im  Paradiese  zu? 
Statt  der  Dame,  statt  der  Zofe 
Macht  die  Henne  glu!  glu!  glu! 
Uns  beschäftigt  nicht  der  Pfauen, 
Nur  der  Gänse  Lebenslauf; 
Meine  Mutter  zieht  die  grauen, 
Meine  Frau  die  weißen  auf. 

Laß  den  Witzling  uns  bestichein! 
Glücklich,  wenn  ein  deutscher  Mann 
Seinem  Freunde  Vetter  Micheln 
Guten  Abend  bieten  kann. 
Wie  ist  der  Gedanke  labend: 
Solch  ein  Edler  bleibt  uns  nah! 
Immer  sagt  man:  Gestern  abend 
War  doch  Vetter  Michel  da! 

Und  in  unsem  Liedern  keimet 

Silb  aus  Silbe,  Wort  aus  Wort. 

Ob  sich  gleich  auf  deutsch  nichts  reimet. 

Reimt  der  Deutsche  dennoch  fort. 

Ob  es  kräftig  oder  zierlich, 

Geht  uns  so  genau  nicht  an; 

Wir  sind  bieder  und  natürlich. 

Und  das  ist  genug  getan. 


EINE  nicht  hält  mich  zurück,  gar  zwei  sinds,  die  mii 
gebieten. 


1 


1794/7   WEIMAR  415 

KOMM  nur  von  Giebichenstein,  von  Malepartus!  Du 
bist  doch 
Reineke  nicht,  du  bist  doch  nur  halb  Bär  und  halb  Wolf. 

DER  CHINESE  IN  ROM 

EINEN  Chinesen  sah  ich  in  Rom;  die  gesamten  Gebäude 
Alter  und  neuerer  Zeit  schienen  ihm  lästig  und  schwer. 
Ach!  so  seufzt'  er,  die  Armen!  ich  hoffe,  sie  sollen  begreifen, 
Wie  erst  Säulchen  von  Holz  tragen  des  Daches  Gezelt, 
Daß  an  Latten  und  Pappen,  Geschnitz  und  bunter  Ver- 
goldung 
Sich  des  gebildeten  Augs  feinerer  Sinn  nur  erfreut. — 
Siehe,  da  glaubt  ich,  im  Bilde  so  manchen  Schwärmer  zu 

schauen. 
Der  sein  luftig  Gespinst  mit  der  soliden  Natiir 
Ewigem  Teppich  vergleicht,  den  echten,  reinen  Gesunden 
Krank  nennt,  daß  ja  nur  ^r  heiße,  der  Kranke,  gesund. 

HERMANN  UND  DOROTHEA 

ALSO  das  wäre  Verbrechen,  daß  einst  Properz  mich 
begeistert, 
Daß  Martial  sich  zn  mir  auch,  der  verwegne,  gesellt? 
Daß  ich  die  Alten  nicht  hinter  mir  ließ,  die  Schule  zu  hüten, 

Daß  sie  nach  Latium  gern  mir  in  das  Leben  gefolgt." 
Daß  ich  Natur  und  Kunst  zu  schaun  mich  treulich  bestrebe, 
Daß  kein  Name  mich  täuscht,  daß  mich  kein  Dogma 

beschränkt? 
Daß  nicht  des  Lebens  bedingender  Drang  mich,  den  Men- 
schen, verändert, 
Daß  ich  der  Heuchelei  dürftige  Maske  verschmäht? 
Solcher  Fehler,  die  du,  o  Muse,  so  emsig  gepfleget, 
Zeihet  der  Pöbel  mich;  Pöbel  nur  sieht  er  in  mir. 
Ja,  sogar  der  Bessere  selbst,  gutmütig  und  bieder, 

Will  mich  anders;  doch  du,  Muse,  befiehlst  mir  allein. 
Denn  du  bist  es  allein,  die  noch  mir  die  innere  Jugend 

Frisch  erneuest,  und  sie  mir  bis  zu  Ende  versprichst. 

Aber  verdopple  nunmehr,  o  Göttin,  die  heilige  Sorgfalt! 

Ach!  die  Scheitel  umwalltreichlichdie  Locke  nicht  mehr: 


4 1 6  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Dabedarfman  der  Kränze,  sich  selbst  und  andre  zu  täuschen; 

Kränzte  doch  Cäsar  selbst  nur  aus  Bedürfnis  das  Haupt. 

Hast  du  ein  Lorbeerreis  mir  bestimmt,  so  laß  es  am  Zweige 

Weiter  grünen,  und  gib  einst  es  dem  Würdigern  hin; 
Aber  Rosen  winde  genug  zum  häuslichen  Kranze, 

Bald  als  Lilie  schlingt  silberne  Locke  sich  durch. 
Schüre  die  Gattin  das  Feuer,  auf  reinlichem  Herde  zu 

kochen! 

Werfe  der  Knabe  das  Reis,  spielend,  geschäftig  dazu! 

Laß  im  Bechernicht  fehlen  den  Wein!  Gesprächige  Freunde, 

Gleichgesinnte,  herein!    Kränze,  sie  warten  auf  euch. 

Erst  die  Gesundheit  des  Mannes,  der,  endlich  vom  Namen 

Homeros 
Kühn  ims  befreiend,  uns  auch  ruft  in  die  vollere  Bahn. 
Denn  wer  wagte  mit  Göttern  den  Kampf?  und  wer  mit 

dem  Einen? 
Doch  Homeride  zu  sein,  auch  nur  als  letzter,  ist  schön. 
Darum  boret  das  neuste  Gedicht!  Noch  einmal  getrunken! 
Euch  besteche  der  Wein,  Freundschaft  und  Liebe  das 

Ohr. 
Deutschen  selber  fuhr  ich  euch  zu,  in  die  stillere  Wohnung, 
Wo  sich,  nah  der  Natur,  menschlich  der  Mensch  noch 

erzieht.  . 

Uns  begleite  des  Dichters  Geist,  der  seine  Luise  M 

Rasch  dem  würdigen  Freund,  uns  zu  entzücken,  verband. 
Auch  die  traurigen  Bilder  der  Zeit,  sie  führ  ich  vorüber; 

Aber  es  siege  der  Mut  in  dem  gesunden  Geschlecht. 
Hab  ich  euch  Tränen  ins  Auge  gelockt,  imd  Lust  in  die 

Seele 
Singend  geflößt,  so  kommt,  drücket  mich  herzHch  ans 

Herz! 
Weise  denn  sei  das  Gespräch!    Uns  lehret  Weisheit  am 

Ende 
Das  Jahrhundert;  wen  hat  das  Geschick  nicht  geprüft: 
Blicket  heiterer  nun  auf  jene  Schmerzen  zurücke, 

Wenn  euch  ein  fröhlicher  Sinn  manches  entbehrlich 

erklärt. 
Menschen  lernten  wir  kennen  und  Nationen;  so  laßt  uns, 
•  Unser  eigenes  Herz  kennend,  uns  dessen  erfreun. 


üi 


1794/7   WEIMAR  417 

AUCH  erscheint  ein  Herr  F*   rlietorisch,   grimmig- 
ironisch, 
Seltsam  gebärdet  er  sich,  plattdeutsch,  im  Zeitungs- 
format. 

SfiANCE 

HIER  ists,  wo  unter  eignem  Namen 
Die  Buchstaben  sonst  zusammenkamen. 
Mit  Scharlachkleidern  angetan, 
Saßen  die  Selbstlauter  obenan: 
A,  E,  I,  O  und  U  dabei. 
Machten  gar  ein  seltsam  Geschrei. 
Die  Mitlauter  kamen  mit  steifen  Schritten, 
Mußten  erst  um  Erlaubnis  bitten: 
Präsident  A  war  ihnen  geneigt. 
Da  wurd  ihnen  denn  der  Platz  gezeigt; 
Andre  aber,  die  mußten  stehn, 
Als  Pe-Ha  und  Te-Ha  und  solches  Getön. 
Dann  gabs  ein  Gerede,  man  weiß  nicht  wie: 
Das  nennt  man  eine  Akademie. 

HAUS -PARK 

LIEBE  Mutter,  die  Gespielen 
Sagen  mir  schon  manche  Zeit, 
Daß  ich  besser  sollte  fühlen, 
Was  Natur  im  Freien  beut. 
Bin  ich  hinter  diesen  Mauern, 
Diesen  Hecken,  diesem  Buchs, 
Wollen  sie  mich  nur  bedauern 
Neben  diesem  alten  Jux. 

Solche  schroffe  grüne  Wände 
Ließen  sie  nicht  länger  stehn; 
Kann  man  doch  von  einem  Ende 
Gleich  bis  an  das  andre  sehn. 
Von  der  Schere  fallen  Blätter, 
Fallen  Blüten,  welch  ein  Schmerz! 
Asmus,  unser  lieber  Vetter, 
Nennt  es  puren  Schneiderscherz. 

GOETHE  XIV  27. 


4 1 8  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Stehn  die  Pappeln  doch  so  prächtig 
Um  des  Nachbars  Gartenhaus; 
Und  bei  uns  wie  niederträchtig 
Nehmen  sich  die  Zwiebeln  aus! 
Wollt  ihr  nicht  den  Wunsch  erfüllen— 
Ich  bescheide  mich  ja  wohl! 
Heuer  nur,  um  Gottes  willen, 
Liebe  Mutter,  keinen  Kohl! 

ALEXIS  UND  DORA 
Alexis 

SAG,  wie  kommst  du  zu  dem  Besen 
Und,  was  schlimmer  ist,  zum  Reim? 

Dora 
Bin  in  Halberstadt  gewesen 
Bei  dem  guten  Vater  Gleim. 

DER  SCHATZGRÄBER 

ARM  am  Beutel,  krank  am  Herzen, 
Schleppt  ich  meine  langen  Tage. 
Armut  ist  die  größte  Plage, 
Reichtum  ist  das  höchste  Gut! 
Und,  zu  enden  meine  Schmerzen, 
Ging  ich,  einen  Schatz  zu  graben. 
Meine  Seele  sollst  du  haben! 
Schrieb  ich  hin  mit  eignem  Blut. 

Und  so  zog  ich  Kreis'  um  KLreise, 
Stellte  wunderbare  Flammen, 
Kraut  und  Knochenwerk  zusammen: 
Die  Beschwörung  war  vollbracht. 
Und  auf  die  gelernte  Weise 
Grub  ich  nach  dem  alten  Schatze 
Auf  dem  angezeigten  Platze; 
Schwarz  imd  stürmisch  war  die  Nacht. 

Und  ich  sah  ein  Licht  von  weiten, 
Und  es  kam  gleich  einem  Sterne 


j 


1794/7  WEIMAR  419 

Hinten  aus  der  fernsten  Ferne, 
Eben  als  es  Zwölfe  schlug. 
Und  da  galt  kein  Vorbereiten: 
Heller  wards  mit  einem  Male 
Von  dem  Glanz  der  vollen  Schale, 
Die  ein  schöner  Knabe  trug. 

Holde  Augen  sah  ich  blinken 
Unter  dichtem  Blumenkranze; 
In  des  Trankes  Himmelsglanze 
Trat  er  in  den  Kreis  herein. 
Und  er  hieß  mich  freundlich  trinken; 
Und  ich  dacht:  es  kann  der  Knabe 
Mit  der  schönen  lichten  Gabe 
Wahrlich  nicht  der  Böse  sein. 

Trinke  Mut  des  reinen  Lebens! 
Dann  verstehst  du  die  Belehrung, 
Kommst,  mit  ängstlicher  Beschwörung, 
Nicht  zurück  an  diesen  Ort. 
Grabe  hier  nicht  mehr  vergebens: 
Tages  Arbeit!  Abends  Gäste! 
Saure  Wochen!  Frohe  Feste! 
Sei  dein  künftig  Zauberwort. 


DER  NEUE  PAUSIAS  UND  SEIN  BLUMENMÄDCHEN 

Pausias  von  Sicyon,  der  Maler,  war  als  Jüngling  in  Glyceren,  seine 
Mitbürgerin,  verliebt,  welche  Blumenkränze  zu  winden  einen  sehr 
erfinderischen  Geist  hatte.  Sie  wetteiferten  miteinander,  und  er 
brachte  die  Nachahmung  der  Blumen  zur  größten  Mannigfaltigkeit. 
Endlich  malte  er  seine  Geliebte,  sitzend,  mit  einem  Kranze  be- 
schäftigt. Dieses  Bild  wurde  für  eins  seiner  besten  gehalten  und  die 
Kranzwinderin  oder  Kranzhändlerin  genannt,  weil  Glycere  sich  auf 
diese  Weise  als  ein  armes  Mädchen  ernährt  hatte.  Lucius  LucuUus 
kaufte  eine  Kopie  in  Athen  für  zwei  Talente.  {Plinius,  Historia 
aaturalis  XXXV,  11.) 

Sie 

SCHÜTTE  die  Blumen  nur  her,  zu  meinen  Füßen  und 
deinen! 
Welch  ein  chaotisches  Bild  holder  Verwirrung  du  streust! 


420  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Er 
Du  erscheinest  als  Liebe,  die  Elemente  zu  knüpfen; 
Wie  du  sie  bindest,  so  wird  nun  erst  ein  Leben  daraus. 

Sie 
Sanft  berühre  die  Rose,  sie  bleib  im  Körbchen  verborgen; 
Wo  ich  dich  finde,  mein  Freund,  öffentlich  reich  ich  sie  dir. 

Er 
Und  ich  tu,  als  kennt  ich  dich  nicht,  und  danke  dir  freund- 
lich; 
Aber  dem  Gegengeschenk  weichet  die  Geberin  aus, 

Sie 
Reiche  die  Hyazinthe  mir  nun,  und  reiche  die  Nelke, 
Daß  die  frühe  zugleich  neben  der  späteren  sei. 

Er 

Laß  im  blumigen  Kreise  zu  deinen  Füßen  mich  sitzen, 
Und  ich  fülle  den  Schoß  dir  mit  der  lieblichen  Schar. 

Sie 
Reiche  den  Faden  mir  erst;    dann  sollen  die  Garten- 
verwandten, 
Die  sich  von  ferne  nur  sahn,  nebeneinander  sich  freun. 

Er 
Was   bevvundr  ich   zuerst?   was   zuletzt?  die   herrlichen 

Blumen? 
Oder  der  Finger  Geschick?  oder  der  Wählerin  Geist? 

Sie 
Gib  auch  Blätter,  den  Glanz  der  blendenden  Blumen  zu 

mildern: 
Auch  das  Leben  verlangt  ruhige  Blätter  im  Kranz. 

Er 

Sage,  was  wählst  du  so  lange  bei  diesem  Strauße?  Gewiß  ist 
Dieser  jemand  geweiht,  den  du  besonders  bedenkst. 

Sie 
Hundert  Sträuße  verteil  ich  des  Tags,  und  Kränze  di 

Menge; 
Aber  den  schönsten  doch  bring  ich  am  Abende  dir. 


I 


17  94/7   WEIMAR  421 

Er 
Ach!  wie  wäre  der  Maler  beglückt,  der  diese  Gewinde 
Malte,  das  blumige  Feld,  ach!  und  die  Göttin  zuerst! 

Sie 
Aber  doch  mäßig  beglückt  ist  der,  mich  dünkt,  der  am 

Boden 
Hier  sitzt,  dem  ich  den  Kuß  reichend  noch  glücklicher 

bin. 
Er 
Ach,   Geliebte,  noch  Einen!    Die  neidischen  Lüfte  des 

Morgens 
Nahmen  den  ersten  sogleich  mir  von  den  Lippen  hinweg. 

Sie 
Wie  der  Frühling  die  Blumen  mir  gibt,  so  geb  ich  die 

Küsse 
Gern  dem  Geliebten;  und  hier  sei  mit  dem  Kusse  der 

Kranz! 
Er 
Hätt  ich  das  hohe  Talent  des  Pausias  glücklich  empfangen: 
Nachzubilden  den  Kranz,  war  ein  Geschäfte  des  Tags! 

Sie 
Schön  ist  er  wirklich.  Sieh  ihn  nur  an!  Es  wechseln  die 

schönsten 
Kinder  Florens  um  ihn,  bunt  und  gefällig,  den  Tanz. 

Er 
In  die  Kelche  versenkt  ich  mich  dann  und  erschöpfte  den 

süßen 
Zauber,  den  die  Natur  über  die  Kronen  ergoß. 

Sie 
Und  so  fand  ich  am  Abend  noch  frisch  den  gebundenen 

Kranz  hier; 
Unverwelklich  sprach  uns  von  der  Tafel  er  an. 

Er 
Ach,  wie  fühl  ich  mich  arm  und  unvermögend!  wie  wünscht 

ich 
Festzuhalten  das  Glück,  das  mir  die  Augen  versengt! 


42  2  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Sie 
Unzufriedener  Mann!   Du  bist  ein  Dichter,  und  neidest 
Jenes  Alten  Talent?  Brauche  das  deinige  doch! 

Er 

Und  erreicht  wohl  der  Dichter  den  Schmelz  der  farbigen 

Blumen: 
Neben  deiner  Gestalt  bleibt  nur  ein  Schatten  sein  Wort! 

Sie 

Aber  vermag  der  Maler  wohl  auszudrücken:  Ich  liebe? 
Nur  dich  lieb  ich,  mein  Freund!  lebe  für  dich  nur  allein! 

Er 
Ach!  und  der  Dichter  selbst  vermag  nicht  zu  sagen:  Ich 

liebe! 
Wie  du,  himmlisches  Kind,  süß  mir  es  schmeichelst  ins 

Ohr. 
Sie 
Viel  vermögen  sie  beide;  doch  bleibt  die  Sprache  des  Kusses, 
Mit  der  Sprache  des  Blicks,  nur  den  Verliebten  ge- 
schenkt. 
Er 
Du  vereinigest  alles;  du  dichtest  und  malest  mit  Blumen: 
Florens  Kinder  sind  dir  Farben  und  Worte  zugleich. 

Sie 
Nur  ein  vergängliches  Werk  entwindet  der  Hand  sich  des 

Mädchens 
Jeden  Morgen:  die  Pracht  welkt  vor  dem  Abende  schon. 

Er  3^ 

Auch  so  geben  die  Götter  vergängliche  Gaben,  und  locken 
Mit  erneutem  Geschenk  immer  die  Sterblichen  an. 

Sie 
Hat  dir  doch  kein  Strauß,  kein  Kranz  des  Tages  gefehlet, 
Seit  dem  ersten,  der  dich  mir  so  von  Herzen  verband. 

Er 

Ja,  noch  hängt  er  zu  Hause,  der  erste  Kranz,  in  der  Kammer, 
Welchen  du  mir,  den  Schmaus  lieblich  umwandelnd, 

gereicht. 


&  1794/7   WEIMAR  423 

Sie 
Da  ich  den  Becher  dir  kränzte,  die  Rosenknospe  hineinfiel, 

i-  Und  du  trankest,  und  riefst:  Mädchen,  die  Bhimen  sind 
Gift! 
Er 
Und  dagegen  du  sagtest:  Sie  sind  voll  Honig,  die  Blumen; 
Aber  die  Biene  nur  findet  die  Süßigkeit  aus. 

Sie 
Und  der  rohe Timanthergriffmich  und  sagte:  Die  Hummeln 
r      Forschen  des  herrlichen  Kelchs  süße  Geheimnisse  wohl? 

'  Er 

Und  du  wandtest  dich  weg,  und  wolltest  fliehen;  es  stürzten 
Vor  dem  täppischen  Mann  Körbchen  und  Blumen  hinab. 

Sie 
Und  du  riefst  ihm  gebietend:   Das  Mädchen  laß  nur!  die 

Sträuße, 
So  wie  das  Mädchen  selbst,  sind  für  den  feineren  Sinn. 

Er 
Aber  fester  hielt  er  dich  nur,  es  grinste  der  Lacher, 
Und  dein  Kleid  zerriß  oben  vom  Nacken  herab. 

Sie 

Und  du  warfst  in  begeisterter  Wut  den  Becher  hinüber, 

Daß  er  am  Schädel  ihm,  häßlich  vergossen,  erklang. 

Er 

Wein  und  Zorn  verblendeten  mich;  doch  sah  ich  den  weißen 
Nacken,  die  herrliche  Brust,  die  du  bedecktest,  im  Blick. 

Sie 
Welch  ein  Getümmel  ward  tmd  ein  Aufstand!   Purpurn 

das  Blut  lief. 
Mit  dem  Weine  vermischt,  greulich  dem  Gegner  vom 

Haupt. 

Dich  nur  sah  ich,  nur  dich  am  Boden  knieend,  verdrießlich; 
Mit  der  einen  Hand  hieltst  das  Gewand  du  hinauf. 


424  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Sie 
Ach,  da  flogen  die  Teller  nach  dir!  Ich  sorgte,  den  adeln 
Fremdling  träfe  der  Wurf  kreisend  geschwungnen  Me- 
talls. 
Er 
Und  doch  sah  ich  nur  dich,  wie  rasch  mit  der  anderen 

Hand  du 
Körbchen,  Blumen  und  Kranz  sammeltest  unter  dem 

Stuhl. 
Sie 
Schützend  tratest  du  vor,  daß  nicht  mich  verletzte  der  Zufall, 
Oder  der  zornige  Wirt,  weil  ich  das  Mahl  ihm  gestört. 

Er 
Ja,  ich  erinnre  mich  noch;  ich  nahm  den  Teppich  wie  einer. 
Der  auf  dem  linken  Arm  gegen  den  Stier  ihn  bewegt. 

Sie 
Ruhe  gebot  der  Wirt  und  sinnige  Freunde.  Da  schlüpft  ich 
Sachte  hinaus-  nach  dir  wendet  ich  immer  den  Blick. 

Er 
Ach,  du  warst  mir  verschwunden!  Vergebens  sucht  ich  in,, 

allen  1 

Winkeln  des  Hauses  herum,  sowie  auf  Straßen  und  Markt.  ' 

Sie 
Schamhaft  blieb  ich  verborgen.  Das  unbescholtene  Mäd- 
chen, 
Sonst  von  den  Bürgern  geliebt,  war  nun  das  Märchen 

des  Tags. 
Er 
Blumen  sah  ich  genug  und  Sträuße,  Kränze  die  Menge; 
Aber  du  fehltest  mir,  aber  du  fehltest  der  Stadt. 
Sie 
Stille  saß  ich  zu  Hause.  Da  blätterte  los  sich  vom  Zweif 
Manche  Rose,  so  auch  dorrte  die  Nelke  dahin. 
Er 

Mancher  Jüngling  sprach  auf  dem  Platz:   Da  liegen  die 

Blumen! 
Aber  die  Liebliche  fehlt,  die  sie  verbände  zum  Kranz. 


1794/7   WEIMAR  425 

Sie 
Kränze  band  ich  indessen  zu  Haus,  und  ließ  sie  verwelken, 
■ '    Siehst  du?  da  hangen  sie  noch,  neben  dem  Herde,  fürdich. 

Er 
Auch  so  welkte  der  Kranz,  dein  erstes  Geschenk!  Ich  ver- 
gaß nicht 
Ihn  im  Getümmel,  ich  hing  neben  dem  Bett  mir  ihn  auf. 

Sie 
Abends  betrachtet  ich  mir  die  welkenden,  saß  noch  und 

weinte, 
Bis  in  der  dunkelen  Nacht  Farbe  nach  Farbe  verlosch. 

Er 
Irrend  ging  ich  umher  und  fragte  nach  deiner  Behausung; 
Keiner  der  Eitelsten  selbst  konnte  mir  geben  Bescheid. 

Sie 
Keiner  hat  je  mich  besucht,  und  keiner  weiß  die  entlegne 
Wohnung;  die  Größe  der  Stadt  birget  die  Ärmere  leicht. 

Er 
Irrend  lief  ich  umher  und  flehte  zur  spähenden  Sonne: 
Zeige  mir,  mächtiger  Gott,  wo  du  im  Winkel  ihr  scheinst! 

Sie 
Große  Götter  hörten  dich  nicht;  doch  Penia  hört'  es. 
Endlich  trieb  die  Not  nach  dem  Gewerbe  mich  aus. 

Er 
Trieb  nicht  noch  dich  ein  anderer  Gott,  den  Beschützer 

zu  suchen? 
Hatte  nicht  Amor  für  uns  wechselnde  Pfeile  getauscht? 

Sie 
Spähend  sucht  ich  dich  auf  bei  vollem  Markt,  und  ich  sah 

dich! 

Er 
Und  es  hielt  das  Gedräng  keines  der  Liebenden  auf. 

Sie 
Schnell  wir  teilten  das  Volk,  wir  kamen  zusammen,  du 

standest. 


426  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Er 

Und  du  standest  vor  mir,  ja!  und  wir  waren  allein. 

Sie 
Mitten  unter  den  Menschen!  sie  schienen  nur  Sträucher 

und  Bäume, 

Er 
Und  mir  schien  ihr  Getös  nur  ein  Geriesel  des  Quells. 

Sie 
Immer  allein  sind  Liebende  sich  in  der  größten  Ver- 
sammlung; 
Aber  sind  sie  zu  zwein,  stellt  auch  der  Dritte  sich  ein. 

Er 
Amor,  ja!  er  schmückt  sich  mit  diesen  herrlichen  Kränzen. 
Schütte  die  Blumen  nun  doch  fort,  aus  dem  Schöße 

den  Rest! 

Sie 
Nun,  ich  schüttle  sie  weg,  die  schönen.  In  deiner  Um- 
armung, 
Lieber,  geht  mir  auch  heut  wieder  die  Sonne  nur  auf. 


NACHGEFÜHL 

WENN  die  Reben  wieder  blühen, 
Rühret  sich  der  Wein  im  Fasse; 
Wenn  die  Rosen  wieder  glühen, 
Weiß  ich  nicht,  wie  mir  geschieht. 

Tränen  rinnen  von  den  Wangen, 
Was  ich  tue,  was  ich  lasse; 
Nur  ein  unbestimmt  Verlangen 
Fühl  ich,  das  die  Brust  durchglüht. 

Und  zuletzt  muß  ich  mir  sagen, 
Wenn  ich  mich  bedenk  und  fasse, 
Daß  in  solchen  schönen  Tagen 
Doris  einst  für  mich  geglüht. 


1794/7  WEIMAR  427 

ABSCHIED 

ZU  lieblich  ists,  ein  Wort  zu  brechen, 
Zu  schwer  die  vvohlerkannte  Pflicht, 
Und  leider  kann  man  nichts  versprechen, 
Was  unserm  Herzen  widerspricht. 

Du  übst  die  alten  Zauberlieder, 

Du  lockst  ihn,  der  kaum  ruhig  war. 

Zum  Schaukelkahn  der  süßen  Torheit  wieder, 

Erneust,  verdoppelst  die  Gefahr. 

Was  suchst  du  mir  dich  zu  verstecken! 
Sei  offen,  flieh  nicht  meinen  Blick! 
Früh  oder  spät  mußt  ichs  entdecken. 
Und  hier  hast  du  dein  Wort  zurück. 

Was  ich  gesollt,  hab  ich  vollendet. 

Durch  mich  sei  dir  von  nun  an  nichts  verwehrt; 

Allein  verzeih  dem  Freund,  der  sich  nun  von  dir  wendet 

Und  still  in  sich  zurücke  kehrt. 

AN  MIGNON 

ÜBER  Tal  und  Fluß  getragen. 
Ziehet  rein  der  Sonne  Wagen. 
Ach,  sie  regt  in  ihrem  Lauf, 
So  wie  deine,  meine  Schmerzen, 
Tief  im  Herzen, 
Immer  morgens  wieder  auf. 

Kaum  will  mir  die  Nacht  noch  frommen, 

Denn  die  Träume  selber  kommen 

Nun  in  trauriger  Gestalt, 

Und  ich  fühle  dieser  Schmerzen, 

Still  im  Herzen 

Heimlich  bildende  Gewalt. 

Schon  seit  manchen  schönen  Jahren 
Seh  ich  unten  Schiffe  fahren, 
Jedes  kommt  an  seinen  Ort; 


42  8  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Aber  ach,  die  steten  Schmerzen, 

Fest  im  Herzen, 

Schwimmen  nicht  im  Strome  fort. 

Schön  in  Kleidern  muß  ich  kommen, 
Aus  dem  Schrank  sind  sie  genommen, 
Weil  es  heute  Festtag  ist; 
Niemand  ahnet,  daß  von  Schmerzen 
Herz  im  Herzen 
Grimmig  mir  zerrissen  ist. 

Heimlich  muß  ich  immer  weinen, 
Aber  freundlich  kann  ich  scheinen 
Und  sogar  gesund  und  rot; 
Wären  tödlich  diese  Schmerzen 
Meinem  Herzen, 
Ach,  schon  lange  war  ich  tot. 

LEGENDE 

ALS  noch,  verkannt  und  sehr  gering, 
Unser  Herr  auf  der  Erde  ging, 
Und  viele  Jünger  sich  zu  ihm  fanden, 
Die  sehr  selten  sein  Wort  verstanden. 
Liebt'  er  sich  gar  über  die  Maßen, 
Seinen  Hof  zu  halten  auf  der  Straßen, 
Weil  unter  des  Himmels  Angesicht 
Man  immer  besser  und  freier  spricht. 
Er  Heß  sie  da  die  höchsten  Lehren 
Aus  seinem  heiligen  Munde  hören; 
Besonders  durch  Gleichnis  und  Exempel 
Macht'  er  einen  jeden  Markt  zum  Tempel. 

So  schlendert'  er  in  Geistes  Ruh 
Mit  ihnen  einst  einem  Städtchen  zu, 
Sah  etwas  blinken  auf  der  Straß, 
Das  ein  zerbrochen  Hufeisen  was. 
Er  sagte  zu  Sankt  Peter  drauf: 
Heb  doch  einmal  das  Eisen  auf! 
Sankt  Peter  war  nicht  aufgeräumt, 
Er  hatte  soeben  im  Gehen  geträumt, 


1794/7  WEIMAR  429 

So  was  vom  Regiment  der  Welt, 
Was  einem  jeden  wohlgefällt: 
Denn  im  Kopf  hat  das  keine  Schranken; 
Das  waren  so  seine  liebsten  Gedanken. 
Nun  war  der  Fund  ihm  viel  zu  klein, 
Hätte  müssen  Krön  und  Scepter  sein; 
Aber  wie  sollt  er  seinen  Rücken 
Nach  einem  halben  Hufeisen  bücken? 
Er  also  sich  zur  Seite  kehrt 
Und  tut,  als  hätt  ers  nicht  gehört. 

Der  Herr,  nach  seiner  Langmut,  drauf 
Hebt  selber  das  Hufeisen  auf 
Und  tut  auch  weiter  nicht  dergleichen. 
Als  sie  nun  bald  die  Stadt  erreichen. 
Geht  er  vor  eines  Schmiedes  Tür, 
Nimmt  von  dem  Mann  drei  Pfennig  dafür. 
Und  als  sie  über  den  Markt  nun  gehen, 
Sieht  er  daselbst  schöne  Kirschen  stehen. 
Kauft  ihrer,  so  wenig  oder  so  viel, 
Als  man  für  einen  Dreier  geben  will, 
Die  er  sodann  nach  seiner  Art 
Ruhig  im  Ärmel  aufbewahrt. 

Nun  gings  zum  andern  Tor  hinaus. 
Durch  Wies  und  Felder  ohne  Haus, 
Auch  war  der  Weg  von  Bäumen  bloß; 
Die  Sonne  schien,  die  Hitz  war  groß. 
So  daß  man  viel  an  solcher  Statt 
Für  einen  Trunk  Wasser  gegeben  hätt. 
Der  Herr  geht  immer  voraus  vor  allen, 
Läßt  unversehens  eine  Kirsche  fallen. 
Sankt  Peter  war  gleich  dahinter  her. 
Als  wenn  es  ein  goldner  Apfel  war; 
Das  Beerlein  schmeckte  seinem  Gaum. 
Der  Herr,  nach  einem  kleinen  Raum, 
Ein  ander  Kirschlein  zur  Erde  schickt, 
Womach  Sankt  Peter  schnell  sich  bückt. 
So  läßt  der  Herr  ihn  seinen  Rücken 
Gar  vielmal  nach  den  Kirschen  bücken. 


430  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Das  dauert  eine  ganze  Zeit. 
Dann  sprach  der  Herr  mit  Heiterkeit: 
Tatst  du  zur  rechten  Zeit  dich  regen, 
Hättst  dus  bequemer  haben  mögen. 
Wer  geringe  Ding  wenig  achtet, 
Sich  um  geringere  Mühe  macht. 

DIE  BRAUT  VON  KORINTH 

NACH  Korinthus  von  Athen  gezogen 
Kam  ein  Jüngling,  dort  noch  unbekannt 
Einen  Bürger  hofft'  er  sich  gewogen; 
Beide  Väter  waren  gastverwandt, 
Hatten  frühe  schon 
Töchterchen  xmd  Sohn 
Braut  und  Bräutigam  voraus  genannt. 

Aber  wird  er  auch  willkommen  scheinen, 

Wenn  er  teuer  nicht  die  Gunst  erkauft? 

Er  ist  noch  ein  Heide  mit  den  Seinen, 

Und  sie  sind  schon  Christen  und  getauft. 

Keimt  ein  Glaube  neu, 

Wird  oft  Lieb  und  Treu 

Wie  ein  böses  Unkraut  ausgerauft. 

Und  schon  lag  das  ganze  Haus  im  stillen, 

Vater,  Töchter,  nur  die  Mutter  wacht; 

Sie  empfängt  den  Gast  mit  bestem  Willen, 

Gleich  ins  Prunkgemach  wird  er  gebracht. 

Wein  tmd  Essen  prangt, 

Eh  er  es  verlangt: 

So  versorgend  wünscht  sie  gute  Nacht. 

Aber  bei  dem  wohlbestellten  Essen 

Wird  die  Lust  der  Speise  nicht  erregt; 

Müdigkeit  läßt  Speis  und  Trank  vergessen, 

Daß  er  angekleidet  sich  aufs  Bette  legt; 

Und  er  schlummert  fast, 

Als  ein  seltner  Gast 

Sich  zur  offnen  Tür  herein  bewegt. 


1794/7   WEIMAR  431 

Denn  er  sieht,  bei  seiner  Lampe  Schimmer 

Tritt,  mit  weißem  Schleier  und  Gewand, 

Sittsam  still  ein  Mädchen  in  das  Zimmer, 

Um  die  Stirn  ein  schwarz-  und  goldnes  Band. 

Wie  sie  ihn  erblickt, 

Hebt  sie,  die  erschrickt. 

Mit  Erstaunen  eine  weiße  Hand. 

Bin  ich,  rief  sie  aus,  so  fremd  im  Hause, 

Daß  ich  von  dem  Gaste  nichts  vernahm.* 

Ach,  so  hält  man  mich  in  meiner  Klause! 

Und  nun  überfällt  mich  hier  die  Scham. 

Ruhe  nur  so  fort 

Auf  dem  Lager  dort. 

Und  ich  gehe  schnell,  so  wie  ich  kam. 

Bleibe,  schönes  Mädchen!  ruft  der  Knabe, 

Rafft  von  seinem  Lager  sich  geschwind: 

Hier  ist  Ceres',  hier  ist  Bacchus'  Gabe, 

Und  du  bringst  den  Amor,  liebes  Kind! 

Bist  vor  Schrecken  blaß! 

Liebe,  komm  und  laß, 

Laß  uns  sehn,  wie  froh  die  Götter  sind. 

Ferne  bleib,  o  Jüngling!  bleibe  stehen; 

Ich  gehöre  nicht  den  Freuden  an. 

Schon  der  letzte  Schritt  ist,  ach!  geschehen 

Durch  der  guten  Mutter  kranken  Wahn, 

Die  genesend  schwur: 

Jugend  und  Natur 

Sei  dem  Himmel  künftig  Untertan. 

Und  der  alten  Götter  bunt  Gewimmel 
Hat  sogleich  das  stille  Haus  geleert. 
Unsichtbar  wird  Einer  nur  im  Himmel, 
Und  ein  Heiland  wird  am  Kreuz  verehrt; 
Opfer  fallen  hier. 
Weder  Lamm  noch  Stier, 
Aber  Menschenopfer  unerhört. 


432  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Und  er  fragt  und  wäget  alle  Worte, 

Deren  keines  seinem  Geist  entgeht. 

Ist  es  möglich,  daß  am  stillen  Orte 

Die  geliebte  Braut  hier  vor  mir  steht? 

Sei  die  Meine  nur! 

Unsrer  Väter  Schwur 

Hat  vom  Himmel  Segen  uns  erfleht. 

Mich  erhältst  du  nicht,  du  gute  Seele! 

Meiner  zweiten  Schwester  gönnt  man  dich. 

Wenn  ich  mich  in  stiller  Klause  quäle. 

Ach!  in  ihren  Armen  denk  an  mich, 

Die  an  dich  nur  denkt. 

Die  sich  liebend  kränkt; 

In  die  Erde  bald  verbirgt  sie  sich. 

Nein!  bei  dieser  Flamme  seis  geschworen, 

Gütig  zeigt  sie  Hymen  uns  voraus; 

Bist  der  Freude  nicht  und  mir  verloren, 

Kommst  mit  mir  in  meines  Vaters  Haus. 

Liebchen,  bleibe  hier! 

Feire  gleich  mit  mir 

Unerwartet  unsern  Hochzeitschmaus. 

Und  schon  wechseln  sie  der  Treue  Zeichen; 

Golden  reicht  sie  ihm  die  Kette  dar. 

Und  er  will  ihr  eine  Schale  reichen, 

Silbern,  künstlich,  wie  nicht  eine  war. 

Die  ist  nicht  für  mich; 

Doch,  ich  bitte  dich, 

Eine  Locke  gib  von  deinem  Haar. 

Eben  schlug  die  dumpfe  Geisterstunde, 

Und  nun  schien  es  ihr  erst  wohl  zu  sein. 

Gierig  schlürfte  sie  mit  blassem  Munde 

Nun  den  dunkel  blutgefärbten  Wein; 

Doch  vom  Weizenbrot, 

Das  er  freundlich  bot. 

Nahm  sie  nicht  den  kleinsten  Bissen  ein. 


1794/7   WEIMAR  433 

Und  dem  Jüngling  reichte  sie  die  Schale, 

Der,  wie  sie,  nun  hastig  lüstern  trank. 

Liebe  fordert  er  beim  stillen  Mahle; 

Ach,  sein  armes  Herz  war  liebekrank. 

Doch  sie  widersteht, 

Wie  er  immer  fleht, 

Bis  er  weinend  auf  das  Bette  sank. 

Und  sie  kommt  imd  wirft  sich  zu  ihm  nieder: 

Ach,  wie  ungern  seh  ich  dich  gequält! 

Aber,  ach!  berührst  du  meine  Glieder, 

Fühlst  du  schaudernd,  was  ich  dir  verhehlt. 

Wie  der  Schnee  so  weiß, 

Aber  kalt  wie  Eis 

Ist  das  Liebchen,  das  du  dir  erwählt. 

Heftig  faßt  er  sie  mit  starken  Armen, 

Von  der  Liebe  Jugendkraft  durchmannt: 

Hoffe  doch,  bei  mir  noch  zu  erwarmen. 

Wärst  du  selbst  mir  aus  dem  Grab  gesandt! 

Wechselhauch  und  Kuß! 

Liebes Überfluß! 

Brennst  du  nicht  und  fühlest  mich  entbrannt.^ 

Liebe  schließet  fester  sie  zusammen, 

Tränen  mischen  sich  in  ihre  Lust; 

Gierig  saugt  sie  seines  Mundes  Flammen, 

Eins  ist  nur  im  andern  sich  bewußt. 

Seine  Liebeswut 

Wärmt  ihr  starres  Blut, 

Doch  es  schlägt  kein  Herz  in  ihrer  Brust. 

Unterdessen  schleichet  auf  dem  Gange 

Häuslich  spät  die  Mutter  noch  vorbei. 

Horchet  an  der  Tür  und  horchet  lange, 

Welch  ein  sonderbarer  Ton  es  sei: 

Klag-  und  Wonnelaut 

Bräutigams  und  Braut, 

Und  des  Liebestammeins  Raserei. 

GOETHE  XIV  28. 


434  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Unbeweglich  bleibt  sie  an  der  Türe, 
Weil  sie  erst  sich  überzeugen  muß, 
Und  sie  hört  die  höchsten  Liebesschvvüre, 
Lieb  und  Schmeichelworte,  mit  Verdruß- 
Still!  der  Hahn  erwacht! — 
Aber  morgen  Nacht 
Bist  du  wieder  da?— und  Kuß  auf  Kuß. 

Länger  hält  die  Mutter  nicht  das  Zürnen, 

Öffnet  das  bekannte  Schloß  geschwind:— 

Gibt  es  hier  im  Hause  solche  Dirnen, 

Die  dem  Fremden  gleich  zu  Willen  sind?— 

So  zur  Tür  hinein. 

Bei  der  Lampe  Schein 

Sieht  sie — Gott!  sie  sieht  ihr  eigen  Kind. 

Und  der  Jüngling  will  im  ersten  Schrecken 

Mit  des  Mädchens  eignem  Schleierflor, 

Mit  dem  Teppich  die  Geliebte  decken; 

Doch  sie  windet  gleich  sich  selbst  hervor. 

Wie  mit  Geists  Gewalt 

Hebet  die  Gestalt 

Lang  und  langsam  sich  im  Bett  empor. 

Mutter!  Mutter!  spricht  sie  hohle  Worte, 

So  mißgönnt  Ihr  mir  die  schöne  Nacht! 

Ihr  vertreibt  mich  von  dem  warmen  Orte. 

Bin  ich  zur  Verzweiflung  nur  erwacht? 

Ists  Euch  nicht  genug, 

Daß  ins  Leichentuch, 

Daß  Ihr  früh  mich  in  das  Grab  gebracht? 

Aber  aus  der  schwerbedeckten  Enge 

Treibet  mich  ein  eigenes  Gericht, 

Eurer  Priester  summende  Gesänge 

Und  ihr  Segen  haben  kein  Gewicht; 

Salz  und  Wasser  kühlt 

Nicht,  wo  Jugend  fühlt; 

Ach!  die  Erde  kühlt  die  Liebe  nicht. 


1794/7   WEIMAR  435 

Dieser  Jüngling  war  mir  erst  versprochen, 

Als  noch  Venus'  heitrer  Tempel  stand. 

Mutter,  habt  Ihr  doch  das  Wort  gebrochen, 

Weil  ein  fremd,  ein  falsch  Geliibd  Euch  band! 

Doch  kein  Gott  erhört, 

Wenn  die  Mutter  schwört, 

Zu  versagen  ihrer  Tochter  Hand. 

Aus  dem  Grabe  werd  ich  ausgetrieben, 

Noch  zu  suchen  das  vermißte  Gut, 

Noch  den  schon  verlornen  Mann  zu  lieben 

Und  zu  saugen  seines  Herzens  Blut. 

Ists  um  den  geschehn, 

Muß  nach  andern  gehn, 

Und  das  junge  Volk  erliegt  der  Wut. 

Schöner  Jüngling!  kannst  nicht  länger  leben; 

Du  versiechest  mm  an  diesem  Ort. 

Meine  Kette  hab  ich  dir  gegeben; 

Deine  Locke  nehm  ich  mit  mir  fort. 

Sieh  sie  an  genau! 

Morgen  bist  du  grau, 

Und  nur  bratm  erscheinst  du  wieder  dort. 

Höre,  Mutter,  nun  die  letzte  Bitte: 

Einen  Scheiterhaufen  schichte  du; 

Öffne  meine  bange  kleine  Hütte, 

Bring  in  Flammen  Liebende  zur  Ruh! 

Wenn  der  Funke  sprüht. 

Wenn  die  Asche  glüht, 

Eilen  wir  den  alten  Göttern  zu. 


DER  GOTT  UND  DIE  BAJADERE 
Indische  Legende 

MAHADÖH,  der  Herr  der  Erde, 
Kommt  herab  zum  sechsten  Mal, 


Daß  er  unsersgleichen  werde. 
Mit  zu  fühlen  Freud  und  Qual. 


436  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Er  bequemt  sich,  hier  zu  wohnen, 

Läßt  sich  alles  selbst  geschehn. 

Soll  er  strafen  oder  schonen, 

Muß  er  Menschen  menschlich  sehn. 
Und  hat  er  die  Stadt  sich  als  Wandrer  betrachtet, 
Die  Großen  belauert,  auf  Kleine  geachtet, 
Verläßt  er  sie  abends,  um  weiter  zu  gehn. 

Als  er  nun  hinausgegangen, 

Wo  die  letzten  Häuser  sind, 

Sieht  er,  mit  gemalten  Wangen, 

Ein  verlornes  schönes  Kind. 

Grüß  dich,  Jungfrau!  —  Dank  der  Ehre! 

Wart,  ich  komme  gleich  hinaus — 

Und  wer  bist  du? — Bajadere, 

Und  dies  ist  der  Liebe  Haus. 
Sie  rührt  sich,  die  Zimbeln  zum  Tanze  zu  schlagen, 
Sie  weiß  sich  so  lieblich  im  Kreise  zu  tragen, 
Sie  neigt  sich  und  biegt  sich,  und  reicht  ihm  den  Strauß. 

Schmeichelnd  zieht  sie  ihn  zur  Schwelle, 

Lebhaft  ihn  ins  Haus  hinein. 

Schöner  Fremdling,  lampenhelle 

Soll  sogleich  die  Hütte  sein. 

Bist  du  müd,  ich  will  dich  laben. 

Lindern  deiner  Füße  Schmerz. 

Was  du  willst,  das  sollst  du  haben, 

Ruhe,  Freuden  oder  Scherz. 
Sie  lindert  geschäftig  geheuchelte  Leiden. 
Der  Göttliche  lächelt;  er  siehet  mit  Freuden 
Durch  tiefes  Verderben  ein  menschliches  Herz. 

Und  er  fordert  Sklavendienste; 
Immer  heitrer  wird  sie  nur. 
Und  des  Mädchens  frühe  Künste 
Werden  nach  und  nach  Natur. 
Und  so  stellet  auf  die  Blüte 
Bald  und  bald  die  Frucht  sich  ein; 
Ist  Gehorsam  im  Gemüte, 
Wird  nicht  fern  die  Liebe  sein. 


1794/7   WEIMAR  437 

Aber,  sie  schärfer  und  schärfer  zu  prüfen, 
Wählet  der  Kenner  der  Höhen  und  Tiefen 
Lust  und  Entsetzen  und  grimmige  Pein. 

Und  er  küßt  die  bunten  Wangen, 

Und  sie  fühlt  der  Liebe  Qual, 

Und  das  Mädchen  steht  gefangen, 

Und  sie  weint  zum  erstenmal; 

Sinkt  zu  seinen  Füßen  nieder, 

Nicht  ma  Wollust  noch  Gewinst, 

Ach!  und  die  gelenken  Glieder, 

Sie  versagen  allen  Dienst. 
Und  so  zu  des  Lagers  vergnüglicher  Feier 
Bereiten  den  dunklen  behaglichen  Schleier 
Die  nächtlichen  Stunden,  das  schöne  Gespinst. 

Spät  entschlummert  unter  Scherzen, 

Früh  erwacht  nach  kurzer  Rast, 

Findet  sie  an  ihrem  Herzen 

Tot  den  vielgeliebten  Gast. 

Schreiend  stürzt  sie  auf  ihn  nieder, 

Aber  nicht  erweckt  sie  ihn; 

Und  man  trägt  die  starren  Glieder 

Bald  zur  Flammengrube  hin. 
Sie  höret  die  Priester,  die  Totengesänge, 
Sie  raset  und  rennet  und  teilet  die  Menge. 
Wer  bist  du?  was  drängt  zu  der  Grube  dich  hin? 

Bei  der  Bahre  stürzt  sie  nieder, 

Ihr  Geschrei  durchdringt  die  Luft: 

Meinen  Gatten  will  ich  wieder! 

Und  ich  such  ihn  in  der  Gruft. 

Soll  zu  Asche  mir  zerfallen 

Dieser  Glieder  Götterpracht? 

Mein!  er  war  es,  mein  vor  allen! 

Ach,  nur  Eine  süße  Nacht! 
Es  singen  die  Priester:  Wir  tragen  die  Alten, 
Nach  langem  Ermatten  und  spätem  Erkalten, 
Wir  tragen  die  Jugend,  noch  eh  sies  gedacht. 


43»  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Höre  deiner  Priester  Lehre: 

Dieser  war  dein  Gatte  nicht. 

Lebst  du  doch  als  Bajadere, 

Und  so  hast  du  keine  Pflicht. 

Nur  dem  Körper  folgt  der  Schatten 

In  das  stille  Totenreich; 

Nur  die  Gattin  folgt  dem  Gatten: 

Das  ist  Pflicht  und  Ruhm  zugleich. 
Ertöne,  Drommete,  zu  heihger  Klage! 
O  nehmet,  ihr  Götter!  die  Zierde  der  Tage. 
O  nehmet  den  Jüngling  in  Flammen  zu  euch: 

So  das  Chor,  das  ohn  Erbarmen 

Mehret  ihres  Herzens  Not; 

Und  mit  ausgestreckten  Armen 

Springt  sie  in  den  heißen  Tod. 

Doch  der  Götter-Jüngling  hebet 

Aus  der  Flamme  sich  empor. 

Und  in  seinen  Armen  schwebet 

Die  Geliebte  mit  hervor. 
Es  freut  sich  die  Gottheit  der  reuigen  Sünder; 
Unsterbh'che  heben  verlorene  Kinder 
Mit  feurigen  Armen  zum  Himmel  empor. 


AN  SCHILLER 

mit  einer  kleinen  mineralogischen  Sammlung 

DEM  Herren  in  der  Wüste  bracht 
Der  Satan  einen  Stein 
Und  sagte:  Herr,  durch  deine  Macht 
Laß  es  ein  Brötchen  sein! 

Von  vielen  Steinen  sendet  dir 
Der  Freund  ein  Musterstück, 
Ideen  gibst  du  bald  dafür 
Ihm  tausendfach  zurück. 


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1794/7  WEIMAR  439 

DER  ZAUBERLEHRLING 

AT  der  alte  Hexenmeister 
Sich  doch  einmal  wegbegeben! 


Und  nun  sollen  seine  Geister 
Auch  nach  meinem  Willen  leben. 
Seine  Wort'  und  Werke 
Merkt  ich  und  den  Brauch, 
Und  mit  Geistesstärke 
Tu  ich  Wimder  auch. 

Walle!  walle 

Manche  Strecke, 

Daß,  zum  Zwecke, 

Wasser  fließe 

Und  mit  reichem,  vollem  Schwalle 

Zu  dem  Bade  sich  ergieße. 

Und  nun  komm,  du  alter  Besen! 
Nimm  die  schlechten  LumpenhüUenj 
Bist  schon  lange  Knecht  gewesen: 
Nun  erfülle  meinen  Willen! 
Auf  zwei  Beinen  stehe, 
Oben  sei  ein  Kopf, 
Eile  nun  und  gehe 
Mit  dem  Wassertopfl 

Walle!  walle 

Manche  Strecke, 

Daß,  zum  Zwecke, 

Wasser  fließe 

Und  mit  reichem,  vollem  Schwalle 

Zu  dem  Bade  sich  ergieße. 

Seht,  er  läuft  zum  Ufer  nieder, 
Wahrlich!  ist  schon  an  dem  Flusse, 
Und  mit  Blitzesschnelle  wieder 
Ist  er  hier  mit  raschem  Gusse. 
Schon  zum  zweiten  Male! 
Wie  das  Becken  schwillt! 


440  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Wie  sich  jede  Schale 
Voll  mit  Wasser  füllt! 

Stehe!  stehe! 

Denn  wir  haben 

Deiner  Gaben 

Vollgemessen!  — 

Ach,  ich  merk  es!  Wehe!  wehe! 

Hab  ich  doch  das  Wort  vergessen! 

Ach,  das  Wort,  worauf  am  Ende 
Er  das  wird,  was  er  gewesen. 
Ach,  er  läuft  und  bringt  behende! 
Wärst  du  doch  der  alte  Besen! 
Immer  neue  Güsse 
Bringt  er  schnell  herein, 
Ach!  und  hundert  Flüsse 
Stürzen  auf  mich  ein. 

Nein,  nicht  länger 

Kann  ichs  lassen; 

Will  ihn  fassen. 

Das  ist  Tücke! 

Ach!  nun  wird  mir  immer  bänger! 

Welche  Miene!  welche  Blicke! 

O,  du  Ausgeburt  der  Hölle! 
Soll  das  ganze  Haus  ersaufen? 
Seh  ich  über  jede  Schwelle 
Doch  schon  Wasserströme  laufen. 
Ein  verruchter  Besen, 
Der  nicht  hören  will! 
Stock,  der  du  gewesen. 
Steh  doch  wieder  still! 

Willsts  am  Ende 

Gar  nicht  lassen.* 

Will  dich  fassen. 

Will  dich  halten 

Und  das  alte  Holz  behende 

Mit  dem  scharfen  Beile  spalten. 


1794/7   WEIMAR  441 

Seht,  da  kommt  er  schleppend  wieder! 
Wie  ich  mich  nur  auf  dich  werfe, 
Gleich,  o  Kobold,  liegst  du  nieder; 
Krachend  trifft  die  glatte  Schärfe. 
Wahrlich!  brav  getroffen! 
Seht,  er  ist  entzwei! 
Und  nun  kann  ich  hoffen, 
Und  ich  atme  frei! 

Wehe!  wehe! 
Beide  Teile 

Stehn  in  Eile 

Schon  als  Knechte 

Völlig  fertig  in  die  Höhe! 

Helft  mir,  ach!  ihr  hohen  Mächte! 

Und  sie  laufen!  Naß  und  nässer 
Wirds  im  Saal  vmd  auf  den  Stufen. 
Welch  entsetzliches  Gewässer! 
Herr  und  Meister!  hör  mich  rufen! — 
Ach,  da  kommt  der  Meister! 
Herr,  die  Not  ist  groß! 
Die  ich  rief,  die  Geister 
Werd  ich  nun  nicht  los. 

"In  die  Ecke, 

Besen!  Besen! 

Seids  gewesen. 

Denn  als  Geister 

Ruft  euch  niu-,  zu  diesem  Zwecke, 

Erst  hervor  der  alte  Meister.'- 


1797 
REISE  IN  DIE  SCHWEIZ 


DER  EDELKx\ABE  Ui\D  DIE  MÜLLERIN 

Edelknabe 

WOHIN:  Wohin? 
Schöne  Müllerin! 
Wie  heißt  du: 

Müllerin 
Liese. 

Edelknabe 
Wohin  denn?  Wohin, 
Mit  dem  Rechen  in  der  Hand? 

Müllerin 
Auf  des  Vaters  Land, 
Auf  des  Vaters  Wiese. 

Edelknabe 
Und  gehst  so  allein? 

Müllerin 
Das  Heu  soll  herein, 
Das  bedeutet  der  Rechen. 
Und  im  Garten  daran 
Fangen  die  Birnen  zu  reifen  an, 
Die  will  ich  brechen. 

Edelknabe 
Ist  nicht  eine  stille  Laube  dabei? 

Müllerin 
Sogar  ihrer  zwei, 
An  beiden  Ecken. 

Edelknabe 
Ich  komme  dir  nach, 
Und  am  heißen  Mittag 
Wollen  wir  uns  drein  verstecken. 
Nicht  wahr,  im  grünen  vertravdichen  Haus— 

Müllerin 
Das  gäbe  Geschichten. 

Edelknabe 
Ruhst  du  in  meinen  Armen  aus? 


446  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Müllerin 
Mitnichten! 

Denn  wer  die  artige  Müllerin  küßt, 
Auf  der  Stelle  verraten  ist. 
Euer  schönes  dunkles  Kleid 
Tat  mir  leid 
So  weiß  zu  färben. 

Gleich  und  gleich!  so  allein  ists  recht! 
Darauf  will  ich  leben  und  sterben. 
Ich  liebe  mir  den  Müllerknecht; 
An  dem  ist  nichts  zu  verderben. 


DER  JUNGGESELL  UND  DER  MÜHLBACH 

Gesell 

WO  willst  du,  klares  Bächlein,  hin 
So  munter? 
Du  eilst  mit  frohem,  leichtem  Sinn 
Hinunter. 

Was  suchst  du  eilig  in  dem  Tal.^ 
So  höre  doch  und  sprich  einmal! 

Bach 
Ich  war  ein  Bächlein,  Junggesell; 
Sie  haben 

Mich  so  gefaßt,  damit  ich  schnell 
Im  Graben 

Zur  Mühle  dort  hinunter  soll, 
Und  immer  bin  ich  rasch  und  voll. 

Gesell 

Du  eilest  mit  gelaßnem  Mut 

Zur  Mühle, 

Und  weißt  nicht,  was  ich  junges  Blut 

Hier  fühle. 

Es  blickt  die  schöne  Müllerin 

Wohl  freundlich  manchmal  nach  dir  hin? 


J 


1797   REISE  IN  DIE  SCHWEIZ  447 

Bach 

Sie  öfifnet  früh  beim  Morgenlicht 

Den  Laden 

Und  kommt,  ihr  liebes  Angesicht 

Zu  baden. 

Ihr  Busen  ist  so  voll  und  weiß; 

Es  wird  mir  gleich  zum  Dampfen  heiß. 

Gesell 

Kann  sie  im  Wasser  Liebesglut 

Entzünden, 

Wie  soll  man  Ruh  mit  Fleisch  imd  Blut 

Wohl  finden? 

Wenn  man  sie  einmal  nur  gesehn. 

Ach!  immer  muß  man  nach  ihr  gehn. 

Bach 
Dann  stürz  ich  auf  die  Räder  mich 
Mit  Brausen, 

Und  alle  Schaufeln  drehen  sich 
Im  Sausen. 

Seitdem  das  schöne  Mädchen  schafft, 
Hat  auch  das  Wasser  beßre  Kraft. 

Gesell 

Du  Armer,  fühlst  du  nicht  den  Schmerz, 

Wie  andre? 

Sie  lacht  dich  an  und  sagt  im  Scherz: 

Nun  wandre! 

Sie  hielte  dich  wohl  selbst  zurück 

Mit  einem  süßen  Liebesblick? 

Bach 
Mir  wird  so  schwer,  so  schwer,  vom  Ort 
Zu  fließen: 

Ich  krümme  mich  nur  sachte  fort 
Durch  Wiesen; 

Und  kam  es  erst  auf  mich  nur  an, 
Der  Weg  war  bald  zurückgetan. 


448  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Gesell 
Geselle  meiner  Liebesqual, 
Ich  scheide; 

Du  murmelst  mir  vielleicht  einmal 
Zur  Freude. 

Geh,  sag  ihr  gleich  und  sag  ihr  oft, 
Was  still  der  Knabe  wünscht  und  hofift. 

DER  MÜLLERIN  REUE 
Jüngling 

NUR  fort,  du  braune  Hexe,  fort! 
Aus  meinem  gereinigten  Hause, 
Daß  ich  dich,  nach  dem  ernsten  Wort, 
Nicht  zause! 

Was  singst  du  hier  für  Heuchelei 
Von  Lieb  und  stiller  Mädchentreu? 
Wer  mag  das  Märchen  hören! 

Zigeunerin 
Ich  singe  von  des  Mädchens  Reu 
Und  langem,  heißem  Sehnen; 
Denn  Leichtsinn  wandelte  sich  in  Treu 
Und  Tränen. 

Sie  fürchtet  der  Mutter  Drohen  nicht  mehr, 
Sie  fürchtet  des  Bruders  Faust  nicht  so  sehr, 
Als  den  Haß  des  herzlich  Geliebten. 

Jüngling 
Von  Eigennutz  sing  und  von  Verrat, 
Von  Mord  imd  diebischem  Rauben; 
Man  wird  dir  jede  falsche  Tat 
Wohl  glauben. 

Wenn  sie  Beute  verteilt,  Gewand  und  Gut, 
Schlimmer  als  je  ihr  Zigeuner  tut, 
Das  sind  gewohnte  Geschichten. 

Zigeunerin 
"Ach  weh!  ach  weh!   Was  hab  ich  getan! 
Was  hilft  mir  nun  das  Lauschen! 


1797  REISE  IN  DIE  SCHWEIZ  449 

Ich  hör  an  meine  Kammer  heran 

Ihn  rauschen. 

Da  klopfte  mir  hoch  das  Herz,  ich  dacht; 

O  hättest  du  doch  die  Liebesnacht 

Der  Mutter  nicht  verraten!" 

Jüngling 
Ach,  leider!  trat  ich  auch  einst  hinein 
Und  ging  verfuhrt  im  stillen: 
Ach,  Süßchen!  laß  mich  zu  dir  ein 
Mit  Willen! 

Doch  gleich  entstand  ein  Lärm  und  Geschrei, 
Es  rannten  die  tollen  Verwandten  herbei 
Noch  siedet  das  Blut  mir  im  Leibe. 

Zigeunerin 
"Kommt  nun  dieselbige  Stunde  zurück, 
Wie  still  michs  kränket  und  schmerzet! 
Ich  habe  das  nahe,  das  einzige  Glück 
Verscherzet. 

Ich  armes  Mädchen,  ich  war  zu  jung! 
Es  war  mein  Bruder  verrucht  genung. 
So  schlecht  an  dem  Liebsten  zu  handeln." 

Der  Dichter 
So  ging  das  schwarze  Weib  in  das  Haus, 
In  den  Hof  zur  springenden  Quelle; 
Sie  wusch  sich  heftig  die  Augen  aus. 
Und  helle 

Ward  Aug  und  Gesicht,  und  weiß  und  klar 
Stellt  sich  die  schöne  Müllerin  dar 
Dem  erstaunt- erzürnten  Knaben. 

Müllerin 
Ich  furchte  fürwahr  dein  erzürnt  Gesicht, 
Du  Süßer,  Schöner  und  Trauter! 
Und  Schlag  imd  Messerstiche  nicht; 
Nur  lauter 

Sag  ich  von  Schmerz  imd  Liebe  dir 
Und  will  zu  deinen  Füßen  hier 
Nun  leben  oder  auch  sterben. 

GOETHE  XIV  ,9. 


450  LYRISCHE  DICHTUNGFN 

Jüngling 
O  Neigung,  sage,  wie  hast  du  so  tief 
Im  Herzen  dich  verstecket? 
Wer  hat  dich,  die  verborgen  schlief, 
Gewecket? 

Ach,  Liebe,  du  wohl  unsterblich  bist! 
Nicht  kann  Verrat  und  hämische  List 
Dein  göttlich  Leben  töten, 

Müllerin 
Liebst  du  mich  noch  so  hoch  und  sehr, 
Wie  du  mir  sonst  geschworen. 
So  ist  uns  beiden  auch  nichts  mehr 
Verloren, 

Nimm  hin  das  vielgeliebte  Weib! 
Den  jimgen  unberührten  Leib, 
Es  ist  nun  alles  dein  eigen! 

Beide 
Nun,  Sonne,  geh  hinab  und  hinauf! 
Ihr  Sterne,  leuchtet  imd  dunkelt! 
Es  geht  ein  Liebesgestim  mir  auf 
Und  funkelt. 

Solange  die  Quelle  springt  und  rinnt. 
So  lange  bleiben  wir  gleichgesinnt. 
Eins  an  des  andern  Herzen. 

AMYNTAS 

NIKIAS,  trefflicher  Mann,  du  Arzt  des  Leibs  mid  der 
Seele! 
Krank,  ich  bin  es  fürwahr;  aber  dein  Mittel  ist  hart. 
Ach!  mir  schwanden  die  Kräfte  dahin,  dem  Rate  zu  folgen; 
Ja,  und  es  scheinet  der  Freund  schon  mir  ein  Gegner 

zu  sein. 
Widerlegen  kann  ich  dich  nicht;  ich  sage  mir  alles, 

Sage  das  härtere  Wort,  das  du  verschweigest,  mir  auch. 
Aber,  ach!  das  Wasser  entstürzt  der  Steile  des  Felsens 
Rasch,  und  die  Welle  des  Bachs  halten  Gesänge  nicht 

auf. 


1797   REISE  IN  DIE  SCHWEIZ  451 

Rast  nicht  unaufhaltsam  der  Sturm?  und  wälzet  die  Sonne 

Sich,  von  dem  Gipfel  des  Tags,  nicht  in  die  Wellen 

hinab? 
Und  so  spricht  mir  rings  die  Natur:  Auch  dubist,  Amyntas, 

Unter  das  strenge  Gesetz  ehrner  Gewalten  gebeugt. 
Runzle  die  Stime  nicht  tiefer,  mein  Freimd,  imd  höre 

gefällig. 

Was  mich  gestern  ein  Baum,  dort  an  dem  Bache,  ge- 
lehrt. 
Wenig  Äpfel  trägt  er  mir  nur,  der  sonst  so  beladne; 

Sieh,  der  Efeu  ist  schuld,  der  ihn  gewaltig  umgibt. 
Und  ich  faßte  das  Messer,  das  krummgebogene,  scharfe, 

Trennte  schneidend,  imd  riß  Ranke  nach  Ranken  herab; 
Aber  ich  schauderte  gleich,  als,  tief  erseufzend  und  kläglich, 

Aus  den  Wipfeln  zu  mir  lispelnde  Klage  sich  goß: 
O  verletze  mich  nicht!  den  treuen  Gartengenossen, 

Dem  du  als  Knabe,  so  früh,  manche  Genüsse  verdankt. 
O  verletze  mich  nicht!  du  reißest  mit  diesem  Geflechte, 

Das  du  gewaltig  zerstörst,  grausam  das  Leben  mir  aus. 
Hab  ich  nicht  selbst  sie  genährt,  und  sanft  sie  herauf  mir 

erzogen? 

Ist  v/ie  mein  eigenes  Laub  nicht  mir  das  ihre  verwandt? 
Soll  ich  nicht  lieben  die  Pflanze,  die,  meiner  einzig  be- 
dürftig. 

Still  mit  begieriger  Kraft  mir  um  die  Seite  sich  schlingt? 
Tausend  Ranken  wurzelten  an,  mit  tausend  und  tausend 

Fasern  senket  sie  fest  mir  in  das  Leben  sich  ein. 
Nahrung  nimmt  sie  von  mir;  was  ich  bedürfte,  genießt  sie. 

Und  so  saugt  sie  das  Mark,  sauget  die  Seele  mir  aus. 
Nur  vergebens  nähr  ich  mich  noch;  die  gewaltige  Wurzel 

Sendet  lebendigen  Safts,  ach!  nur  die  Hälfte  hinauf. 
Denn  der  gefährliche  Gast,  der  geliebteste,  maßet  behende 

Unterweges  die  Kraft  herbstlicher  Früchte  sich  an. 
Nichts  gelangt  zur  Krone  hinauf;  die  äußersten  Wipfel 
.    Dorren,  es  dorret  der  Ast  über  dem  Bache  schon  hin. 
Ja,  die  Verräterin  ists!  sie  schmeichelt  mir  Leben  und 

Güter, 

Schmeichelt  die  strebende  Kraft,  schmeichelt  die  Hoff- 
nung mir  ab. 


452  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Sie  nur  fühl  ich,  nur  sie,  die  umschlingende,  freue  der 

Fesseln, 
Freue  des  tötenden  Schmucks  fremder  Umlaubimg  mich 

nur. 
Halte  das  Messer  zurück!  o  Nikias,  schone  den  Armen, 
Der  sich  in  liebender  Lust,  willig  gezwungen,  verzehrt! 
Süß  ist  jede  Verschwendung;  o  laß  mich  der  schönsten 

genießen! 
Wer  sich  der  Liebe  vertraut,  hält  er  sein  Leben  zu  Rat? 


EUPHROSYNE 

AUCH  von  des  höchsten  Gebirgs  beeisten  zackigen 
Gipfeln 
Schwindet  Purpur  und  Glanz  scheidender  Sonne  hin- 
weg. 
Lange  verhüllt  schon  Nacht  das  Tal  und  die  Pfade  des 

Wandrers, 
Der,  am  tosenden  Strom,  auf  zu  der  Hütte  sich  sehnt. 
Zu  dem  Ziele  des  Tags,  der  stillen  hirtlichen  Wohnimg; 

Und  der  göttliche  Schlaf  eilet  gefällig  voraus. 

Dieser  holde  Geselle  des  Reisenden.  Daß  er  auch  heute 

Segnend  kränze  das  Haupt  mir  mit  dem  heiligen  Mohn! 

Aber  was  leuchtet  mir  dort  vom  Felsen  glänzend  herüber 

Und  erhellet  den  Duft  schäumender  Ströme  so  hold? 

Strahlt  die  Sonne  vielleicht  durch  heimliche  Spalten  und 

Klüfte? 
Denn  kein  irdischer  Glanz  ist  es,  der  wandelnde,  dort. 
Näher  wälzt  sich  die  Wolke,  sie  glüht.    Ich  staune  dem 

Wunder! 
Wird  der  rosige  Strahl  nicht  ein  bewegtes  Gebild? 
Welche  Göttin  nahet  sich  mir?  und  welche  der  Musen 

Suchet  den  treuen  Freund,  selbst  in  dem  grausen  Geklüft? 
Schöne  Göttin!  enthülle  dich  mir,  tmd  täusche,  verschwin- 
dend, 
Nicht  den  begeisterten  Sinn,  nicht  das  gerührte  Gemüt. 
Nenne,  wenn  du  es  darfst  vor  einem  Sterblichen,  deinen 
Göttlichen  Namen;  wo  nicht:  rege  bedeutend  mich  auf, 


J 


1797   REISE  IN  DIE  SCHWEIZ  453 

jDaß  ich  fühle,  welche  du  seist  von  den  ewigen  Töchtern 
ft^  Zeus',  und  der  Dichter  sogleich  preise  dich  würdig  im 
''  Lied. 

''Kennst  du  mich,  Guter,  nicht  mehr?  Und  käme  diese  Ge- 
stalt dir, 
Die  du  doch  sonst  geliebt,  schon  als  ein  fremdes  Gebild? 
Zwar  der  Erde  gehör  ich  nicht  mehr,  und  trauernd  ent- 

schwang  sich 
Schon  der  schaudernde  Geist  jugendlich  frohem  Genuß; 
Aber  ich  hoffte  mein  Bild  noch  fest  in  des  Freundes  Er- 

innrung 
Eingeschrieben,  und  noch  schön  durch  die  Liebe  ver- 
klärt. 
Ja,  schon  sagt  mir  gerührt  dein  Blick,  mir  sagt  es  die  Träne: 

Euphrosyne,  sie  ist  noch  von  dem  Freunde  gekannt. 
Sieh,  die  Scheidende  zieht  durch  Wald  und  grauses  Ge- 
birge, 
Sucht  den  wandernden  Mann,  ach!  in  der  Feme  noch 

auf; 
Sucht  den  Lehrer,  den  Freimd,  den  Vater,  blicket  noch 

einmal 
Nach  dem  leichten  Gerüst  irdischer  Freuden  zurück. 
Laß  mich  der  Tage  gedenken,  da  mich,  das  Kind,  du  dem 

Spiele, 
Jener  täuschenden  Kunst  reizender  Musen  geweiht. 
Laß  mich  der  Stunde  gedenken  und  jedes  kleineren  Um- 

stands; 
Ach,  wer  ruft  nicht  so  gern  Unwiederbringliches  an! 
Jenes  süße  Gedränge  der  leichtesten  irdischen  Tage, 

Ach,  wer  schätzt  ihn  genug,  diesen  vereilenden  Wert! 
Klein  erscheinet  es  nun,  doch  ach!  nicht  kleinlich  dem 

Herzen; 
Macht  die  Liebe,  die  Kunst  jegliches  Kleine  doch  groß. 
Denkst  du  der  Stunde  noch  wohl,  wie  auf  dem  Bretter- 
gerüste 
Du  mich  der  höheren  Kunst  ernstere  Stufen  geführt.' 
Knabe  schien  ich,  ein  rührendes  Kind,  du  nanntest  mich 

Arthur, 
Und  belebtest  in  mir  britisches  Dichter- Gebild, 


454  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Drohtestmitgrimmiger  Glut  den  armen  Augen  und  wandtest 

Selbst  den  tränenden  Blick,  innig  getäuschet,  hinweg. 
Ach!  da  warst  du  so  hold  und  schütztest  ein  trauriges  Leben, 

Das  die  verwegene  Flucht  endlich  dem  Knaben  entriß. 
Freundlich  faßtest  du  mich,  den  Zerschmetterten,  trugst 

mich  von  dannen, 

Und  ich  heuchelte  lang,  dir  an  dem  Busen,  den  Tod. 
Endlich  schlug  die  Augen  ich  auf,  und  sah  dich,  in  ernste, 

Stille  Betrachtung  versenkt,  über  den  Liebling  geneigt. 
Kindlich  strebt  ich  empor  und  küßte  die  Hände  dir  dankbar, 

Reichte  zum  reinen  Kuß  dir  den  gefälligen  Mund, 
Fragte:  Warum,  mein  Vater,  so  ernst?  und  hab  ich  gefehlet, 

O!  so  zeige  mir  an,  wie  mir  das  Beßre  gelingt. 
Keine  Mühe  verdrießt  mich  bei  dir,  und  alles  und  jedes 

Wiederhol  ich  so  gern,  wenn  du  mich  leitest  und  lehrst. 
Aber  du  faßtest  mich  stark  und  drücktest  mich  fester  im 

Arme, 

Und  es  schauderte  mir  tief  in  dem  Busen  das  Herz. 
Nein!  mein  liebliches  Kind,  so  riefst  du,  alles  und  jedes, 

Wie  du  es  heute  gezeigt,  zeig  es  auch  morgen  der  Stadt. 
Rühre  sie  alle,  wie  mich  du  gerührt,  und  es  fließen  zum 

Beifall 

Dir  von  dem  trockensten  Aug  herrliche  Tränen  herab. 
Aber  am  tiefsten  trafst  du  doch  mich,  den  Freimd,  der  im 

Arm  dich 

Hält,  den  selber  der  Schein  früherer  Leiche  geschreckt. 
Ach,  Natur,  wie  sicher  und  groß  in  allem  erscheinst  du! 

Himmel  und  Erde  befolgt  ewiges,  festes  Gesetz: 
Jahre  folgen  auf  Jahre,  dem  Frühling  reichet  der  Sommer, 

Und  dem  reichlichen  Herbst  traulich  der  Winter  die 

Hand. 
Felsen  stehen  gegründet,  es  stürzt  sich  das  ewige  Wasser 

Aus  der  bewölkten  Kluft  schäumend  und  brausend  hinab. 
Fichten  grünen  so  fort,  und  selbst  die  entlaubten  Gebüsche 

Hegen,  im  Winter  schon,  heimliche  Knospen  am  Zweig. 
Alles  entsteht  und  vergeht  nach  Gesetz;  doch  über  des 

Menschen 

Leben,  dem  köstlichen  Schatz,  herrschet  ein  schwanken- 
des Los. 


1797  REISE  IN  DIE  SCHWEIZ  455 

Nicht  dem  blühenden  nickt  der  willig  scheidende  Vater, 

Seinem  trefif liehen  Sohn,  freundlich  vom  Rande  der 

Gruft; 
Nicht  der  Jüngere  schließt  dem  Älteren  immer  das  Auge, 

Das  sich  willig  gesenkt,  kräftig  dem  Schwächeren  zu. 
Öfter,  ach!  verkehrt  das  Geschick  die  Ordnung  der  Tage: 

Hilflos  klaget  ein  Greis  Kinder  und  Enkel  umsonst, 
Steht,  ein  beschädigter  Stamm,  dem  rings  zerschmetterte 

Zweige 

Um  die  Seiten  umüer  strömende  Schloßen  gestreckt. 
Und  so,  liebliches  Kind,  durchdrang  mich  die  tiefe  Be- 
trachtung, 

Als  du,  zur  Leiche  verstellt,  über  die  Arme  mir  hingst; 
Aber  freudig  seh  ich  dich  mir  in  dem  Glänze  der  Jugend, 

Vielgeliebtes  Geschöpf,  wieder  am  Herzen  belebt. 
Springe  fröhlich  dahin,  verstellter  Knabe!  Das  Mädchen 

Wächst  zur  Freude  der  Welt,  mir  zum  Entzücken  heran. 
Immer  strebe  so  fort,  und  deine  natürlichen  Gaben 

Bilde,   bei  jeglichem  Schritt  steigenden  Lebens,  die 

Kunst. 
Sei  mir  lange  zur  Lust,  und  eh  mein  Auge  sich  schließet. 

Wünsch  ich  dein  schönes  Talent  glücklich  vollendet 

zu  sehn. — 
Also  sprachst  du,  und  nie  vergaß  ich  der  wichtigen  Stunde! 

Deutend  entwickelt  ich  mich  an  dem  erhabenen  Wort. 
O  wie  sprach  ich  so  gerne  zum  Volk  die  rührenden  Reden, 

Die  du,  voller  Gehalt,  kindlichen  Lippen  vertraut! 
O  wie  bildet  ich  mich  an  deinen  Augen,  und  suchte 

Dich  im  tiefen  Gedräng  staunender  Hörer  heraus! 
Doch  dort  wirst  du  nun  sein,  und  stehn,  und  nimmer  be- 
wegt sich 

Euphrosyne  hervor,  dir  zu  erheitern  den  Blick. 
Du  vernimmst  sie  nicht  mehr,  die  Töne  des  wachsenden 

Zöglings, 

Die  du  zu  liebendem  Schmerz  frühe,  so  frühe!  gestimmt. 
Andere  kommen  und  gehn;  es  werden  dir  andre  gefallen. 

Selbst  dem  großen  Talent  drängt  sich  ein  größeres  nach. 
Aber  du,  vergesse  mich  nicht!   Wenn  eine  dir  jemals 

Sich  im  verwormen  Geschäft  heiter  entgegen  bewegt^ 


456  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Deinem  Winke  sich  fügt,  an  deinem  Lächeln  sich  freuet 

Und  am  Platze  sich  nur,  den  du  bestimmtest,  gefällt, 
Wenn  sie  Mühe  nicht  spart  noch  Fleiß,  wenn  tätig  der 

Kräfte, 

Selbst  bis  zur  Pforte  des  Grabs,  freudiges  Opfer  sie 

bringt — 
Guter!  dann  gedenkest  du  mein,  und  rufest  auch  spät  noch: 

Euphrosyne,  sie  ist  wieder  erstanden  vor  mir! 
Vieles  sagt  ich  noch  gern;  doch  ach!  die  Scheidende  weilt 

nicht. 

Wie  sie  wollte;  mich  führt  streng  ein  gebietender  Gott. 
Lebe  wohl!  schon  zieht  michs  dahin  in  schwankendem 

Eilen. 

Einen  Wunsch  nur  vernimm,  freundlich  gewähre  mir 

ihn: 
Laß  nicht  ungerühmt  mich  zu  den  Schatten  hinabgehn! 

Nur  die  Muse  gewährt  einiges  Leben  dem  Tod. 
Denn  gestaltlos  schweben  umher  in  Persephoneias 

Reiche,  massenweis.  Schatten  vom  Namen  getrennt; 
Wen  der  Dichter  aber  gerühmt,  der  wandelt,  gestaltet, 

Einzeln,  gesellet  dem  Chor  aller  Heroen  sich  zu. 
Freudig  tret  ich  einher,  von  deinem  Liede  verkündet, 

Und  der  Göttin  Blick  weilet  gefällig  auf  mir. 
Mild  empfängt  sie  mich  dann,  und  nennt  mich;  es  winken 

die  hohen 

Göttlichen  Frauen  mich  an,  immer  die  nächsten  am 

Thron. 
Penelopeia  redet  zu  mir,  die  treuste  der  Weiber, 

Auch  Euadne,  gelehnt  auf  den  geliebten  Gemahl. 
Jüngere  nahen  sich  dann,  zu  früh  herunter  gesandte. 

Und  beklagen  mit  mir  unser  gemeines  Geschick. 
Wenn  Antigene  kommt,  die  schwesterlichste  der  Seelen, 

Und  Polyxena,  trüb  noch  von  dem  bräutlichen  Tod, 
Seh  ich  als  Schwestern  sie  an  xmd  trete  würdig  zu  ihnen; 

Denn  der  tragischen  Kunst  holde  Geschöpfe  sind  sie. 
Bildete  doch  ein  Dichter  auch  mich;  und  seine  Gesänge, 

Ja,  sie  vollenden  an  mir,  was  mir  das  Leben  versagt." — 
Also  sprach  sie,  und  noch  bewegte  der  liebliche  Mund  sich. 

Weiter  zu  reden;  allein  schwirrend  versagte  der  Ton. 


1797  REISE  IN  DIE  SCHWEIZ  457 

Denn  aus  dem  Purpurgewölk,  dem  schwebenden,  immer 

bewegten, 

Trat  der  herrliche  Gott  Hermes  gelassen  hervor; 
Mild  erhob  er  den  Stab  und  deutete:  wallend  verschlangen 

Wachsende  Wolken,  im  Zug,  beide  Gestalten  vor  mir. 
Tiefer  liegt  die  Nacht  um  mich  her;  die  stürzenden  Wasser 

Brausen  gewaltiger  nun  neben  dem  schlüpfrigen  Pfad. 
Unbezwingliche  Trauer  befällt  mich,  entkräftender  Jammer, 

Und  ein  moosiger  Fels  stützet  den  Sinkenden  nur. 
Wehmut  reißt  durch  die  Saiten  der  Brust,  die  nächtlichen 

Tränen 

Fließen;  und  über  dem  Wald  kündet  der  Morgen  sich  an. 

SCHWEIZERALPE 

WAR  doch  gestern  dein  Haupt  noch  so  braun  wie  die 
Locke  der  Lieben, 
Deren  holdes  Gebild  still  aus  der  Ferne  mir  winkt; 
Silbergrau  bezeichnet  dir  früh  der  Schnee  nun  die  Gipfel, 
Der  sich  in  stürmender  Nacht  dir  um  den  Scheitel  er- 
goß. 
Jugend,  ach!  ist  dem  Alter  so  nah,  durchs  Leben  ver- 
bunden. 
Wie  ein  beweglicher  Traum  Gestern  imd  Heute  ver- 
band. 

DAS  BLÜMLEIN  WUNDERSCHÖN 
Lied  des  gefangnen  Grafen 

Graf 

ICH  kenn  ein  Blümlein  Wunderschön 
Und  trage  darnach  Verlangen; 
Ich  möcht  es  gerne  zu  suchen  gehn, 
Allein  ich  bin  gefangen. 
Die  Schmerzen  sind  mir  nicht  gering; 
Denn  als  ich  in  der  Freiheit  ging, 
Da  hatt  ich  es  in  der  Nähe. 

Von  diesem  ringsum  steilen  Schloß 
Laß  ich  die  Augen  schweifen 


458  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Und  kanns  vom  hohen  Turmgeschoß 

Mit  Blicken  nicht  ergreifen; 

Und  wer  mirs  vor  die  Augen  brächt, 

Es  wäre  Ritter  oder  Knecht, 

Der  sollte  mein  Trauter  bleiben. 

Rose 
Ich  blühe  schön,  und  höre  dies 
Hier  unter  deinem  Gitter. 
Du  meinest  mich,  die  Rose,  gewiß, 
Du  edler,  armer  Ritter! 
Du  hast  gar  einen  hohen  Sinn, 
Es  herrscht  die  Blumenkönigin 
Gewiß  auch  in  deinem  Herzen. 

Graf 
Dein  Purpur  ist  aller  Ehren  wert 
Im  grünen  Überkleide; 
Darob  das  Mädchen  dein  begehrt, 
Wie  Gold  und  edel  Geschmeide. 
Dein  Kranz  erhöht  das  schönste  Gesicht: 
Allein  du  bist  das  Blümchen  nicht, 
Das  ich  im  stillen  verehre. 

Lilie 
Das  Röslein  hat  gar  stolzen  Brauch 
Und  strebet  immer  nach  oben; 
Doch  wird  ein  liebes  Liebchen  auch 
Der  Lilie  Zierde  loben. 
Wems  Herze  schlägt  in  treuer  Brust 
Und  ist  sich  rein,  wie  ich,  bewußt, 
Der  hält  mich  wohl  am  höchsten. 

Graf 
Ich  nenne  mich  zwar  keusch  imd  rein, 
Und  rein  von  bösen  Fehlen; 
Doch  muß  ich  hier  gefangen  sein 
Und  muß  mich  einsam  quälen. 
Du  bist  mir  zwar  ein  schönes  Bild 
Von  mancher  Jungfrau,  rein  imd  mild: 
Doch  weiß  ich  noch  was  Liebers. 


1797   REISE  IN  DIE  SCHWEIZ  459 

Nelke 
Das  mag  wohl  ich,  die  Nelke,  sein, 
Hier  in  des  Wächters  Garten, 
Wie  würde  sonst  der  Alte  mein 
Mit  so  viel  Sorge  warten? 
Im  schönen  Kreis  der  Blätter  Drang, 
Und  Wohlgeruch  das  Leben  lang, 
Und  alle  tausend  Farben. 

Graf 
Die  Nelke  soll  man  nicht  verschmähn, 
Sie  ist  des  Gärtners  Wonne: 
Bald  muß  sie  in  dem  Lichte  stehn, 
Bald  schützt  er  sie  vor  Sonne; 
Doch  was  den  Grafen  glücklich  macht, 
Es  ist  nicht  ausgesuchte  Pracht: 
Es  ist  ein  stilles  Blümchen. 

Veilchen 
Ich  steh  verborgen  und  gebückt 
Und  mag  nicht  gerne  sprechen, 
Doch  will  ich,  weil  sichs  eben  schickt, 
Mein  tiefes  Schweigen  brechen. 
Wenn  ich  es  bin,  du  guter  Mann, 
Wie  schmerzt  michs,  daß  ich  hinauf  nicht  kann 
Dir  alle  Gerüche  senden. 

Graf 
Das  gute  Veilchen  schätz  ich  sehr: 
Es  ist  so  gar  bescheiden 
Und  duftet  so  schön;  doch  brauch  ich  mehr 
In  meinem  herben  Leiden. 
Ich  will  es  euch  nur  eingestehn: 
Auf  diesen  dürren  Felsenhöhn 
Ist  's  Liebchen  nicht  zu  finden. 

Doch  wandelt  imten,  an  dem  Bach, 
Das  treuste  Weib  der  Erde 
Und  seufzet  leise  manches  Ach, 
Bis  ich  erlöset  werde. 


46o  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Wenn  sie  ein  blaues  Blümchen  bricht 
Und  immer  sagt:  Vergiß  mein  nicht! 
So  fühl  ichs  in  der  Ferne. 

Ja,  in  der  Ferne  fühlt  sich  die  Macht, 
Wenn  zwei  sich  redlich  lieben; 
Drum  bin  ich  in  des  Kerkers  Nacht 
Auch  noch  lebendig  blieben. 
Und  wenn  mir  fast  das  Herze  bricht, 
So  ruf  ich  nur:  Vergiß  mein  nicht! 
Da  komm  ich  wieder  ins  Leben. 


1798-1805  WEIMAR 


I 


WEISSAGUNGEN  DES  BAKIS 

WAHNSINN  nift  man  dem  Kalchas,  und  Wahnsinn 
ruft  man  Kassandren, 
Eh  man  nach  Ilion  zog,  wenn  man  von  Ilion  kommt. 
Wer  kann  hören  das  Morgen  und  Übermorgen?  Nicht  Einer! 
Denn,  was  gestern  und  ehgestem  gesprochen— wer  hörts? 

LANG  und  schmal  ist  ein  Weg.  Sobald  du  ihn  gehest, 
so  wird  er 
Breiter;  aber  du  ziehst  Schlangengewinde  dir  nach. 
Bist  du  ans  Ende  gekommen,  so  werde  der  schreckliche 

Kjioten 
Dir  zur  Blume,  und  du  gib  sie  dem  Ganzen  dahin. 

NICHT  Zukünftiges  nur  verkündet  Bakis;  auchjetztnoch 
Still  Verborgenes  zeigt  er,  als  ein  Kundiger,  an. 
Wünschelruten  sind  hier,  sie  zeigen  am  Stamm  nicht  die 

Schätze; 
Nur  in  der  fühlenden  Hand  regt  sich  das  magische  Reis. 

WENN  sich  der  Hals  des  Schwanes  verkürzt  und, 
mit  Menschengesichte, 
Sich  der  prophetische  Gast  über  den  Spiegel  bestrebt, 
Läßt  den  silbernen  Schleier  die  Schöne  dem  Nachen  ent- 
fallen. 
Ziehen  dem  Schwimmenden  gleich  goldene  Ströme  sich 

nach. 

ZWEIE  seh  ich!  den  Großen!  ich  seh  den  Größern! 
Die  beiden 
Reiben,  mit  feindlicher  Kraft,  einer  den  andern  sich  auf. 
Hier  ist  Felsen  und  Land,  und  dort  sind  Felsen  und  Wellen! 
Welcher  der  Größere  sei,  redet  die  Parze  nur  aus. 

KOMMT  ein  wandernder  Fürst,  auf  kalter  Schwelle  zu 
schlafen, 
Schlinge  Ceres  den  Kranz,  stille  verflechtend,  um  ihn; 
Dann  verstummen  die  Hunde;  es  wird  ein  Geier  ihn  wecken. 
Und  ein  tätiges  Volk  freut  sich  des  neuen  Geschicks. 


464  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

SIEBEN  gehn  verhüllt,  und  sieben  mit  offnem  Gesichte. 
Jene  furchtet  das  Volk,  fürchten  die  Großen  der  Welt. 
Aber  die  andern  sinds,  die  Verräter!  von  keinem  erforschet; 
Denn  ihr  eigen  Gesicht  birget  als  Maske  den  Schalk. 

GESTERN  war  es  noch  nicht,  und  weder  heute  noch 
morgen 
Wird  es,  imd  jeder  verspricht  Nachbarn  und  Freunden 

es  schon; 
Ja,  er  verspricht  es  den  Feinden.  So  edel  gehn  wir  ins  neue 
Säclum  hinüber,  und  leer  bleibet  die  Hand  und  der 

Mund. 

MÄUSE  laufen  zusammen  auf  offnem  Markte;  der  Wan- 
drer 
Kommt,  auf  hölzernem  Fuß,  vierfach  und  klappernd 

heran. 
Fliegen  die  Tauben  der  Saat  in  gleichem  Momente  vorüber: 
Dann  ist,  Tola,  das  Glück  unter  der  Erde  dir  hold. 

EINSAM  schmückt  sich,  zu  Hause,  mit  Gold  und  Seide 
die  Jungfrau; 
Nicht  vom  Spiegel  belehrt,  fühlt  sie  das  schickliche 

Kleid. 
Tritt  sie  hervor,  so  gleicht  sie  der  Magd;  nur  Einer  von 

allen 
Kennt  sie;  es  zeiget  sein  Aug  ihr  das  vollendete  Bild. 

JA,  vom  Jupiter  rollt  ihr,  mächtig  strömende  Fluten, 
Über  Ufer  und  Damm,  Felder  tmd  Gärten  mit  fort. 
Einen  seh  ich!  Er  sitzt  und  harfeniert  der  Verwüstung; 
Aber  der  reißende  Strom  nimmt  auch  die  Lieder  hinweg. 

MÄCHTIG  bist  du!  gebildet  zugleich,  und  alles  ver- 
neigt sich, 
Wenn  du,  mit  herrlichem  Zug,  über  den  Markt  dich  be- 
wegst. 
Endlich  ist  er  vorüber.  Da  lispelt  fragend  ein  jeder: 
War  denn  Gerechtigkeit  auch  in  der  Tugenden  Zug.^ 


1798/1805  WEIMAR  465 

MAUERN  seh  ich  gestürzt,  und  Mauern  seh  ich  er- 
richtet, 
Hier  Gefangene,  dort  auch  der  Gefangenen  viel, 
Ist  vielleicht  nur  die  Welt  ein  großer  Kerker?  und  frei  ist 
Wohl  der  Tolle,  der  sich  Ketten  zu  Kränzen  erkiest. 

LASS  mich  ruhen,  ich  schlafe.—  "Ich  aber  wache."— 
Mitnichten! — 
"Träumst  du?"— Ich  werde  geliebt!— "Freilich,  du  redest 

im  Traum." — 
Wachender,  sage,  was  hast  du?— "Da  sieh  nur  alle  die 

Schätze!"— 
Sehen  soll  ich?  Ein  Schatz,  wird  er  mit  Augen  gesehn? 

SCHLÜSSEL  liegen  im  Buche  zerstreut,  das  Rätsel  zu 
lösen, 
Denn  der  prophetische  Geist  ruft  den  Verständigen  an. 
Jene  nenn  ich  die  Klügsten,  die  leicht  sich  vom  Tage  be- 
lehren 
Lassen;  es  bringt  wohl  der  Tag  Rätsel  und  Lösung  zu- 
gleich. 

AUCH  Vergangenes  zeigt  euch  Bakis;  denn  selbst  das 
Vergangne 
Ruht,  verblendete  Welt,  oft  als  ein  Rätsel  vor  dir. 
Wer  das  Vergangene  kennte,  der  wüßte  das  Künftige;  beides 
Schließt  an  heute  sich  rein,  als  ein  Vollendetes,  an. 

TUN  die  Himmel  sich  auf  und  regnen,  so  träufelt  das 
Wasser 
Über  Felsen  und  Gras,  Mauern  und  Bäume  zugleich. 
Kehret  die  Sonne  zurück,  so  verdampfet  vom  Steine  die 

Wohltat; 
Nur  das  Lebendige  hält  Gabe  der  Göttlichen  fest. 

SAG,  was  zählst  du?— "Ich  zähle,  damit  ich  die  Zehne 
begreife. 
Dann  ein   andres  Zehn,   Hundert  und  Tausend  her- 
nach."— 
GOETHE  xrv  ,o. 


466  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Näher  kommst  du  dazu,  sobald  du  mir  folgest.— "Und 

wie  denn?" — 
Sage  zur  Zehne:  sei  zehn!  Dann  sind  die  Tausende  dein. 

HAST  du  die  Welle  gesehen,  die  über  das  Ufer  ein- 
her schlug? 
Siehe  die  zweite,  sie  kommt!  rollet  sich  sprühend  schon 

aus! 
Gleich  erhebt  sich  die  dritte!  Fürwahr,  du  wartest  ver- 
gebens. 
Daß  die  letzte  sich  heut  ruhig  zu  Füßen  dir  legt. 

EINEM  möcht  ich  gefallen!  so  denkt  das  Mädchen;  den 
zweiten 
Find  ich  edel  und  gut,  aber  er  reizet  mich  nicht. 
Wäre  der  dritte  gewiß,  so  wäre  mir  dieser  der  Liebste. 
Ach,  daß  der  Unbestand  immer  das  Lieblichste  bleibt! 

BLASS  erscheinest  du  mir,  und  tot  dem  Auge.  Wie  rufet 
du, 
Aus  der  innem  Kjaft,  heiliges  Leben  empor? 
"War  ich  dem  Auge  vollendet,  so  könntest  du  ruhig  ge- 
nießen; 
Nur  der  Mangel  erhebt  über  dich  selbst  dich  hinweg." 

ZWEIMAL  färbt  sich  das  Haar;  zuerst  aus  dem  Blonden 
ins  Braime, 
Bis  das  Braune  sodann  silbergediegen  sich  zeigt. 
Halb  errate  das  Rätsel!  so  ist  die  andere  Hälfte 
Völlig  dir  zu  Gebot,  daß  du  die  erste  bezwingst. 

WAS  erschrickst  du? — "Hinweg,  hinweg  mit  diesen 
Gespenstern! 
Zeige  die  Blume  mir  doch;  zeig  mir  ein  Menschen- 
gesicht!— 
Ja,  nun  seh  ich  die  Blumen;  ich  sehe  die  Menschenge- 
sichter— " 
Aber  ich  sehe  dich  nun  selbst  als  betrognes  Gespenst. 


1 798/1805  WEIMAR  467 

EINER  rollet  daher;  es  stehen  ruhig  die  Neune: 
Nach  vollendetem  Lauf  liegen  die  Viere  gestreckt. 
Helden  finden  es  schön,  gewaltsam  trefiend  zu  wirken; 
Denn  es  vermag  nur  ein  Gott,  Kegel  und  Kugel  zu  sein. 

WIEVIEL  Äpfel  verlangst  du  für  diese  Blüten?— "Ein 
Tausend; 
Denn  der  Blüten  sind  wohl  zwanzig  der  Tausende  hier. 
Und  von  zwanzig  nur  Einen,  das  find  ich  billig." — Du  bist 

schon 
Glücklich,  wenn  du  dereinst  Einen  von  Tausend  be- 
hältst. 

SPRICH,  wie  ward  ich  die  Sperlinge  los?  so  sagte  der 
Gärtner: 
Und  die  Raupen  dazu,  ferner  das  Käfergeschlecht, 
Maulwvurf,  Erdfloh,  Wespe,  die  Würmer,  das  Teufelsge- 
züchte?— 
"Laß  sie  nur  alle,  so  frißt  einer  den  anderen  auf." 

KLINGELN  hör  ich:  es  sind  die  lustigen  Schlittenge- 
läute. 
Wie  sich  die  Torheit  doch  selbst  in  der  Kälte  noch  rührt! 
"Klingeln  hörst  du?  Mich  deucht,  es  ist  die  eigene  Kappe, 
Die  sich  am  Ofen  dir  leis  um  die  Ohren  bewegt." 

SEHT  den  Vogel!  er  fliegt  von  einem  Baume  zum  andern, 
Nascht  mit  geschäftigem  Pick  imter  den  Früchten 

umher. 
Frag  ihn,  er  plappert  auch  wohl,  imd  wird  dir  offen  ver- 
sichern, 
Daß  er  der  hehren  Natur  herrliche  Tiefen  erpickt. 

EINES  kenn  ich  verehrt,  ja  angebetet  zu  Fuße; 
Auf  die  Scheitel  gestellt,  wird  es  von  jedem  verflucht. 
Eines  kenn  ich,  und  fest  bedruckt  es  zufrieden  die  Lippe: 
Doch  in  dem  zweiten  Moment  ist  es  der  Abscheu  der 

Welt. 


468  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

DIESES  ist  es,  das  Höchste,  zu  gleicher  Zeit  das  Ge- 
meinste; 
Nun  das  Schönste,  sogleich  auch  das  Abscheulichste 

nun. 
Nur  im  Schlürfen  genieße  du  das,  und  koste  nicht  tiefer: 
Unter  dem  reizenden  Schaum  sinket  die  Neige  zu  Grund. 

EIN  beweglicher  Körper  erfreut  mich,  ewig  gewendet 
Erst  nach  Norden,  und  dann  ernst  nach  der  Tiefe 

hinab. 
Doch  ein  andrer  gefällt  mir  nicht  so;  er  gehorchet  den 

Winden, 
Und  sein  ganzes  Talent  löst  sich  in  Bücklingen  auf. 

EWIG  wird  er  euch  sein  der  Eine,  der  sich  in  Viele 
Teilt,  und  Einer  jedoch,  ewig  der  Einzige  bleibt. 
Findet  in  Einem  die  Vielen,  empfindet  die  Vielen  wie 

Einen; 
Und  ihr  habt  den  Beginn,  habet  das  Ende  der  Kirnst. 

AN  DEN  NEUEN  SANKT  ANTONIUS 

HERR  Bruder, 
Welch  ein  Luder 
Bringst  du  in  deine  Einsiedelei! 
Ohne  Zweifel, 
Dich  versucht  der  Teufel. 
Gott  steh  uns  bei! 

DEUTSCHER  PARNASS 

UNTER  diesen 
Lorbeerbüschen , 
Auf  den  Wiesen, 
An  den  frischen 
Wasserfällen 

Meines  Lebens  zu  genießen, 
Gab  Apoll  dem  heitern  Knaben, 
Und  so  haben 


1 798/1805  WEIMAR  469 

Mich,  im  stillen, 

Nach  des  Gottes  hohem  Willen 

Hehre  Musen  auferzogen, 

Aus  den  hellen 

Silberquellen 

Des  Pamassus  mich  erquicket 

Und  das  keusche,  reine  Siegel 

Auf  die  Lippen  mir  gedrücket. 

Und  die  Nachtigall  umkreiset 
Mich  mit  dem  bescheidnen  Flügel. 
Hier  in  Büschen,  dort  auf  Bäumen 
Ruft  sie  die  verwandte  Menge, 
Und  die  himmlischen  Gesänge 
Lehren  mich  von  Liebe  träumen. 

Und  im  Herzen  wächst  die  Fülle 

Der  gesellig  edlen  Triebe, 

Nährt  sich  Freimdschaft,  keimet  Liebe, 

Und  Apoll  belebt  die  Stille 

Seiner  Täler,  seiner  Höhen. 

Süße  laue  Lüfte  wehen. 

Alle,  denen  er  gewogen, 

Werden  mächtig  angezogen. 

Und  ein  Edler  folgt  dem  andern. 

Dieser  kommt  mit  munterm  Wesen 

Und  mit  oflöiem,  heitrem  Blicke; 

Diesen  seh  ich  ernster  wandeln; 

Und  ein  andrer,  kaum  genesen. 

Ruft  die  alte  Kraft  zurücke; 

Denn  ihm  drang  durch  Mark  imd  Leben 

Die  verderblich  holde  Flamme, 

Und  was  Amor  ihm  entwendet, 

Kann  Apoll  nur  wiedergeben: 

Ruh  und  Lust  und  Harmonien 

Und  ein  kräftig  rein  Bestreben. 

Auf,  ihr  Brüder, 
Ehrt  die  Lieder! 
Sie  sind  gleich  den  guten  Taten. 


470  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Wer  kann  besser  als  der  Sänger 
Dem  verirrten  Freunde  raten? 
Wirke  gut,  so  wirkst  du  länger, 
Als  es  Menschen  sonst  vermögen. 

Ja!  ich  höre  sie  von  weiten, 
Ja!  sie  greifen  in  die  Saiten, 
Mit  gewaltgen  Götterschlägen 
Rufen  sie  zu  Recht  und  Pflichten 
Und  bewegen, 

Wie  sie  singen,  wie  sie  dichten, 
Zum  erhabensten  Geschäfte, 
Zu  der  Bildung  aller  Kräfte. 

Auch  die  holden  Phantasien 

Blühen 

Ringsumher  auf  allen  Zweigen, 

Die  sich  balde. 

Wie  im  holden  Zauberwalde, 

Voller  goldnen  Früchte  beugen. 

Was  wir  fühlen,  was  wir  schauen 
In  dem  Land  der  höchsten  Wonne, 
Dieser  Boden,  diese  Sonne 
Locket  auch  die  besten  Frauen. 
Und  der  Hauch  der  lieben  Musen 
Weckt  des  Mädchens  zarten  Busen, 
Stimmt  die  Kehle  zum  Gesänge, 
Und  mit  schön  gefärbter  Wange 
Singet  sie  schon  würdge  Lieder, 
Setzt  sich  zu  den  Schwestern  nieder, 
Und  es  singt  die  schöne  Kette, 
Zart  und  zarter,  um  die  Wette. 

Doch  die  eine 

Geht  alleine 

Bei  den  Buchen, 

Unter  Linden, 

Dort  zu  suchen, 

Dort  zu  finden, 

Was  im  stillen  Morgenhaine 


1798/1805   WEIMAR  471 

Amor  schalkisch  ihr  entwendet, 
Ihres  Herzens  holde  Stille, 
Ihres  Busens  erste  Fülle. 
Und  sie  traget  in  die  grünen 
Schattenwälder, 

Was  die  Männer  nicht  verdienen, 
Ihre  lieblichen  Gefühle; 
Scheuet  nicht  des  Tages  Schwüle, 
Achtet  nicht  des  Abends  Kühle 
Und  verliert  sich  in  die  Felder. 
Stört  sie  nicht  auf  ihren  Wegen! 
Muse,  geh  ihr  still  entgegen! 

Doch  was  hör  ich?  Welch  ein  Schall 

Überbraust  den  Wasserfall? 

Sauset  heftig  durch  den  Hain? 

Welch  ein  Lärmen,  welch  ein  Schrein? 

Ist  es  möglich,  seh  ich  recht? 

Ein  verwegenes  Geschlecht 

Dringt  ins  Heiligtum  herein. 

Hier  hervor 
Strömt  ein  Chor! 
Liebeswut, 
Weinesglut 
Rast  im  Blick, 
Sträubt  das  Haar! 
Und  die  Schar, 
Mann  und  Weib — 
Tigerfell 
Schlägt  umher — 
Ohne  Scheu 
Zeigt  den  Leib. 
Und  Metall, 
Rauher  Schall, 
Grellt  ins  Ohr. 
Wer  sie  hört, 
Wird  gestört. 
Hier  hervor 


472  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Drängt  das  Chor; 
Alles  flieht, 
Wer  sie  sieht. 

Ach,  die  Büsche  sind  geknickt! 
Ach,  die  Blumen  sind  erstickt 
Von  den  Sohlen  dieser  Brut. 
Wer  begegnet  ihrer  Wut? 

Brüder,  laßt  uns  alles  wagen! 

Eure  reine  Wange  glüht. 

Phöbus  hilft  sie  uns  verjagen, 

Wenn  er  unsre  Schmerzen  sieht; 

Und  uns  Waffen 

Zu  verschaffen, 

Schüttert  er  des  Berges  Wipfel, 

Und  vom  Gipfel 

Prasseln  Steine 

Durch  die  Haine. 

Brüder,  faßt  sie  mächtig  aufl 

Schloßenregen 

Ströme  dieser  Brut  entgegen 

Und  vertreib  aus  unsem  milden, 

Himmelreinen  Lustgefilden 

Diese  Fremden,  diese  Wilden! 

Doch  was  seh  ich? 

Ist  es  möglich? 

Unerträglich 

Fährt  es  mir  durch  alle  Glieder, 

Und  die  Hand 

Sinket  von  dem  Schwünge  nieder. 

Ist  es  möglich: 

Keine  Fremden! 

Unsre  Brüder 

Zeigen  ihnen  selbst  die  Wege! 

O  die  Frechen! 

Wie  sie  mit  den  Klapperblechen 

Selbst  voraus  im  Takte  ziehn! 

Gute  Brüder,  laßt  uns  fliehn! 


1798/180 5  WEIMAR  473 

Doch  ein  Wort  zu  den  Verwegnen! 
Ja,  ein  Wort  soll  euch  begegnen, 
Kräftig  wie  ein  Donnerschlag. 
Worte  sind  des  Dichters  Waffen; 
Will  der  Gott  sich  Recht  verschaffen, 
Folgen  seine  Pfeile  nach. 

War  es  möglich,  eure  hohe 
Götterwürde 

Zu  vergessen!  Ist  der  rohe, 
Schwere  Thyrsus  keine  Bürde 
Für  die  Hand,  auf  zarten  Saiten 
Nur  gewöhnet  hinzugleiten.^ 
Aus  den  klaren  Wasserfällen, 
Aus  den  zarten  Rieselwellen 
Tränket  ihr 

Gar  Silens  abscheulich  Tier.i* 
Dort  entweiht  es  Aganippen 
Mit  den  rohen,  breiten  Lippen, 
Stampft  mit  ungeschickten  Füßen, 
Bis  die  Wellen  trübe  fließen. 

O  wie  möcht  ich  gern  mich  täuschen? 

Aber  Schmerzen  fühlt  das  Ohr; 

Aus  den  keuschen, 

Heilgen  Schatten 

Dringt  verhaßter  Ton  hervor. 

Wild  Gelächter 

Statt  der  Liebe  süßem  Wahn! 

Weiberhasser  und  -Verächter 

Stimmen  ein  TriumphHed  an. 

Nachtigall  und  Turtel  fliehen 

Das  so  keusch  erwärmte  Nest, 

Und  in  wütendem  Erglühen 

Hält  der  Faun  die  Nymphe  fest. 

Hier  wird  ein  Gewand  zerrissen, 

Dem  Genüsse  folgt  der  Spott, 

Und  zu  ihren  frechen  Küssen 

Leuchtet  mit  Verdruß  der  Gott. 


474  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Ja,  ich  sehe  schon  von  weiten 
Wolkenzug  und  Dunst  und  Rauch. 
Nicht  die  Leier  nur  hat  Saiten, 
Saiten  hat  der  Bogen  auch. 
Selbst  den  Busen  des  Verehrers 
Schlittert  das  gewaltge  Nahn, 
Denn  die  Flamme  des  Verheerers 
Kündet  ihn  von  weiten  an. 
O  vernehmt  noch  meine  Stimme, 
Meiner  Liebe  Bruderwort! 
Fliehet  vor  des  Gottes  Grimme, 
Eilt  aus  unsern  Grenzen  fort! 
Daß  sie  wieder  heilig  werde, 
Lenkt  hinweg  den  wilden  Zug! 
Vielen  Boden  hat  die  Erde, 
Und  unheiligen  genug. 
Uns  umleuchten  reine  Sterne, 
Hier  nur  hat  das  Edle  Wert. 

Doch  wenn  ihr  aus  rauher  Ferne 

Wieder  einst  zu  uns  begehrt. 

Wenn  euch  nichts  so  sehr  beglücket. 

Als  was  ihr  bei  ims  erprobt, 

Euch  nicht  mehr  ein  Spiel  entzücket. 

Das  die  Schranken  übertobt: 

Kommt  als  gute  Pilger  wieder, 

Steiget  froh  den  Berg  heran, 

Tiefgefühlte  Reuelieder 

Künden  uns  die  Brüder  an, 

Und  ein  neuer  Kranz  umwindet 

Eure  Schläfe  feierlich. 

Wenn  sich  der  Verirrte  findet. 

Freuen  alle  Götter  sich. 

Schneller  noch  als  Lethes  Fluten 

Um  der  Toten  stilles  Haus 

Löscht  der  Liebe  Kelch  den  Guten 

Jedes  Fehls  Erinnrung  aus. 

Alles  eilet  euch  entgegen, 

Und  ihr  kommt  verklärt  heran, 


1798/1805  WEIMAR  475 

Und  man  fleht  um  euem  Segen; 
Ihr  gehört  uns  doppelt  an! 

DIE  MUSAGETEN 

OFT  in  tiefen  Wintemächten 
Rief  ich  an  die  holden  Musen: 
Keine  Morgenröte  leuchtet, 
Und  es  will  kein  Tag  erscheinen; 
Aber  bringt  zur  rechten  Stimde 
Mir  der  Lampe  fromm  Geleuchte, 
Daß  es,  statt  Auror  und  Phöbus, 
Meinen  stillen  Fleiß  belebe! 
Doch  sie  ließen  mich  im  Schlafe, 
Dumpf  und  unerquicklich,  liegen. 
Und  nach  jedem  späten  Morgen 
Folgten  ungenutzte  Tage. 

Da  sich  nun  der  Frühling  regte, 
Sagt  ich  zu  den  Nachtigallen: 
Liebe  Nachtigallen,  schlaget 
Früh,  o  früh!  vor  meinem  Fenster, 
Weckt  mich  aus  dem  vollen  Schlafe, 
Der  den  Jüngling  mächtig  fesselt. 
Doch  die  lieberfüllten  Sänger 
Dehnten  nachts  vor  meinem  Fenster 
Ihre  süßen  Melodien, 
Hielten  wach  die  liebe  Seele, 
Regten  zartes,  neues  Sehnen 
Aus  dem  neugerührten  Busen. 
Und  so  ging  die  Nacht  vorüber, 
Und  Aurora  fand  mich  schlafen, 
Ja,  mich  weckte  kaum  die  Sonne. 

Endlich  ist  es  Sommer  worden, 
Und  beim  ersten  Morgenschimmer 
Reizt  mich  aus  dem  holden  Schlummer 
Die  geschäftig  frühe  Fliege. 
Unbarmherzig  kehrt  sie  wieder, 
Wenn  auch  oft  der  halb  Erwachte 


476  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Ungeduldig  sie  verscheuchet, 
Lockt  die  unverschämten  Schwestern, 
Und  von  meinen  Augenlidern 
Muß  der  holde  Schlaf  entweichen. 
Rüstig  spring  ich  von  dem  Lager, 
Suche  die  geliebten  Musen, 
Finde  sie  im  Buchenhaine, 
Mich  gefällig  zu  empfangen, 
Und  den  leidigen  Insekten 
Dank  ich  manche  goldne  Stunde. 
Seid  mir  doch,  ihr  Unbequemen, 
Von  dem  Dichter  hochgepriesen 
Als  die  wahren  Musageten. 

DIE  METAMORPHOSE  DER  PFLANZEN 

DICH  verwirret,  Geliebte,  die  tausendfältige  Mischung 
Dieses  Blumengewühls  über  dem  Garten  umher; 
Viele  Namen  hörest  du  an,  und  immer  verdränget 

Mit  barbarischem  Klang  einer  den  andern  im  Ohr. 
Alle  Gestalten  sind  ähnlich,  und  keine  gleichet  der  andern; 

Und  so  deutet  das  Chor  auf  ein  geheimes  Gesetz, 
Auf  ein  heiliges  Rätsel.   O  könnt  ich  dir,  liebliche  Freundin, 

Überliefern  sogleich  glücklich  das  lösende  Wort!  — 
Werdend  betrachte  sie  nun,  wie  nach  und  nach  sich  die 

Pflanze, 
Stufenweise  geführt,  bildet  zu  Blüten  und  Frucht. 
Aus  dem  Samen  entwickelt  sie  sich,  sobald  ihn  der  Erde 
Stille  befruchtender  Schoß  hold  in  das  Leben  entläßt 
Und  dem  Reize  des  Lichts,  des  heiligen,  ewig  bewegten, 
Gleich  den  zartesten  Bau  keimender  Blätter  empfiehlt. 
Einfach  schlief  in  dem  Samen  die  Kraft;  ein  beginnendes 

Vorbild 
Lag,  verschlossen  in  sich,  unter  die  Hülle  gebeugt, 
Blatt    und  Wurzel   und  Keim,   nur  halb  geformet   und 

faibios; 
Trocken  erhält  so  der  Kern  riihiges  Leben  bewahrt, 
Quillet  strebend  empor,  sich  milder  Feuchte  vertrauend, 
Und  erhebt  sich  sogleich  aus  der  umgebenden  Nacht. 


1 798/1805   WEIMAR  477 

Aber  einfach  bleibt  die  Gestalt  der  ersten  Erscheinung, 

Und  so  bezeichnet  sich  auch  unter  den  Pflanzen  das 

Kind. 
Gleich  darauf  ein  folgender  Trieb,  sich  erhebend,  erneuet, 

Knoten  auf  Knoten  getürmt,  immer  das  erste  Gebild. 
Zwar  nicht  immer  das  gleiche;  denn  mannigfaltig  erzeugt 

sich, 

Ausgebildet,  du  siehsts,  immer  das  folgende  Blatt, 
Ausgedehnter,  gekerbter,  getrennter  in  Spitzen  und  Teile, 

Die  verwachsen  vorher  ruhten  im  untern  Organ. 
Und  so  erreicht  es  zuerst  die  höchst  bestimmte  Vollendung, 

Die  bei  manchem  Geschlecht  dich  zum  Erstaunen  bewegt. 
Viel  gerippt  und  gezackt,  auf  mastig  strotzender  Fläche, 

Scheinet  die  Fülle  des  Triebs  frei  und  unendlich  zu  sein. 
Doch  hier  hält  die  Natur,  mit   mächtigen  Händen,  die 

Bildung 

An  imd  lenket  sie  sanft  in  das  Vollkommnere  hin. 
Mäßiger  leitet  sie  nun  den  Saft,  verengt  die  Gefäße, 

Und  gleich  zeigt  die  Gestalt  zartere  Wirkungen  an. 
Stille  zieht  sich  der  Trieb  der  strebenden  Ränder  zurücke. 

Und  die  Rippe  des  Stiels  bildet  sich  völliger  aus. 
Blattlos  aber  imd  schnell  erhebt  sich  der  zartere  Stengel, 

Und  ein  W^undergebild  zieht  den  Betrachtenden  an. 
Rings  im  Kreise  stellet  sich  nun,  gezählet  und  ohne 

Zahl,  das  kleinere  Blatt  neben  dem  ähnlichen  hin. 
Um  die  Achse  gedrängt,  entscheidet  der  bergende  Kelch 

sich. 

Der  zur  höchsten  Gestalt  farbige  Kronen  entläßt. 
Also  prangt  die  Natur  in  hoher,  voller  Erscheinung, 

Und  sie  zeiget,  gereiht,  Glieder  an  Glieder  gestuft. 
Immer  staunst  du  aufs  neue,  sobald  sich  am  Stengel  die 

Blume 

Über  dem  schlanken  Gerüst  wechselnder  Blätter  be- 
wegt. 
Aber  die  Herrlichkeit  wird  des  neuen  Schaffens  Verkün- 
dung. 

Ja,  das  farbige  Blatt  fühlet  die  göttliche  Hand; 
Und  zusammen  zieht  es  sich  schnell;  die  zartesten  Formen, 

Zwiefach  streben  sie  vor,  sich  zu  vereinen  bestimmt. 


4 7  8  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Traulich  stehen  sie  nun,  die  holden  Paare,  beisammen, 

Zahlreich  ordnen  sie  sich  um  den  geweihten  Altar. 
Hymen  schwebet  herbei,  und  herrliche  Düfte,  gewaltig, 

Strömen  süßen  Geruch,  alles  belebend,  umher. 
Nun  vereinzelt  schwellen  sogleich  unzählige  Keime, 

Hold  in  den  Mutterschoß  schwellender  Früchte  gehüllt. 
Und  hier  schließt  die  Natur  den  Ring  der  ewigen  Kräfte; 

Doch  ein  neuer  sogleich  fasset  den  vorigen  an. 
Daß  die  Kette  sich  fort  durch  alle  Zeiten  verlange. 

Und  das  Ganze  belebt,  so  wie  das  Einzelne,  sei. 
Wende  nun,  o  Geliebte,  den  Blick  zum  bunten  Gewim- 
mel, 

Das  verwirrend  nicht  mehr  sich  vor  dem  Geiste  bewegt. 
Jede  Pflanze  verkündet  dir  nun  die  ewgen  Gesetze, 

Jede  Blume,  sie  spricht  lauter  und  lauter  mit  dir. 
Aber  entzifferst  du  hier  der  Göttin  heilige  Lettern, 

Überall  siehst  du  sie  dann,  auch  in  verändertem  Zug. 
Kriechend  zaudre  die  Raupe,  der  Schmetterling  eile  ge- 
schäftig. 

Bildsam  andre  der  Mensch  selbst  die  bestimmte  Ge- 
stalt. 
O,  gedenke  denn  auch,  wie  aus  dem  Keim  der  Bekannt- 
schaft 

Nach  und  nach  in  uns  holde  Gewohnheit  entsproß, 
Freundschaft  sich  mit  Macht  aus  unserm  Innern  enthüllte, 

Und  wie  Amor  zuletzt  Blüten  und  Früchte  gezeugt. 
Denke,  wie  mannigfach  bald  die,  bald  jene  Gestalten, 

Still  entfaltend,  Natur  unsern  Gefühlen  geliehn! 
Freue  dich  auch  des  heutigen  Tags!  Die  heilige  Liebe 

Strebt  zu  der  höchsten  Frucht  gleicher  Gesinnungen 

auf. 
Gleicher  Ansicht  der  Dinge,  damit  in  harmonischem  An- 

schaun 

Sich  verbinde  das  Paar,  finde  die  höhere  Welt. 


1 798/1805  WEIMAR  479 

SOLDATENLIED  ZU  WALLENSTEINS  LAGER 

ES  leben  die  Soldaten, 
Der  Bauer  gibt  den  Braten, 
Der  Winzer  gibt  den  Most, 
Das  ist  Soldatenkost. 
Trallerallallallalla. 

Der  Bürger  muß  uns  backen, 
Den  Adel  muß  man  zwacken. 
Sein  Knecht  ist  unser  Knecht, 
Das  ist  Soldatenrecht. 
Trallerallallallalla. 

In  Wäldern  gehn  wir  pirschen 
Nach  allen  alten  Hirschen 
Und  bringen  frank  imd  frei 
Den  Männern  das  Geweih. 
Trallerallallallalla. 

Heut  schwören  wir  der  Hanne 
Und  morgen  der  Susanne, 
Die  Lieb  ist  immer  neu, 
Das  ist  Soldatentreu. 
Trallerallallallalla. 

Wir  schmausen  wie  Dynasten, 
Und  morgen  heißt  es  fasten; 
Früh  reich  imd  abends  bloß. 
Das  ist  Soldatenlos. 
Trallerallallallalla. 

Wer  hat,  der  muß  nur  geben; 
Wer  nichts  hat,  der  soll  leben. 
Der  Ehmann  hat  das  Weib, 
Und  wir  den  Zeitvertreib. 
Trallerallallallalla. 

Es  heißt  bei  unsem  Festen: 
Gestohlen  schmeckt  am  besten! 
Unrechtes  Gut  macht  fett. 
Das  ist  Soldatengebet. 
TrallerallallallaUa. 


48o  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

DIE  ZERSTÖRUNG  MAGDEBURGS 

O  Magdeburg  die  Stadt, 
Die  schöne  Mädchen  hat, 
Die  schöne  Fraun  und  Mädchen  hat, 
O  Magdeburg  die  Stadt. 

Da  alles  steht  im  Flor, 

Der  Tilly  zieht  davor. 

Durch  Garten  und  durch  Felder  Flor 

Der  Tilly  zieht  davor. 

Der  Tilly  steht  dadraus. 
Wer  rettet  Stadt  und  Haus? 
Geh,  Lieber,  geh  zum  Tor  hinaus 
Und  schlag  dich  mit  ihm  draus. 

Es  hat  noch  keine  Not, 
So  sehr  er  tobt  und  droht; 
Ich  küsse  deine  Wänglein  rot, 
Es  hat  noch  keine  Not. 

Die  Sehnsucht  macht  mich  bleich. 
Warum  bin  ich  denn  reich? 
Dein  Vater  ist  vielleicht  schon  bleich. 
Du,  Kind,  du  machst  mich  weich. 

O  Mutter,  gib  mir  Brot! 

Ist  denn  der  Vater  tot? 

O  Mutter,  gib  ein  Stückchen  Brot! 

O  welche  große  Not! 

Dein  Vater  lieb  ist  hin. 

Die  Bürger  alle  fliehn; 

Schon  fließt  das  Blut  die  Straße  hin, 

Wo  fliehn  wir  hin,  wohin? 

Die  Kirche  stürzt  in  Graus, 

Da  droben  brennt  das  Haus. 

Es  qualmt  das  Dach,  schon  flammts  heraus; 

Nur  auf  die  Straß  hinaus! 


1 798/1805  WEIMAR  481 

Ach,  keine  Rettung  mehr! 

In  Straßen  rast  das  Heer; 

Es  rast  mit  Flammen  hin  und  her. 

Ach,  keine  Rettung  mehr! 

Die  Häuser  stürzen  ein. 
Wo  ist  das  Mein  und  Dein! 
Das  Bündelchen,  es  ist  nicht  dein, 
Du  flüchtig  Mägdelein. 

I 

'  Die  Weiber  bangen  sehr. 

Die  Mägdlein  noch  viel  mehr. 
Was  lebt,  ist  keine  Jungfer  mehr; 
So  raset  Tillys  Heer. 

DIE  BURG  VON  OTRANTO 

Fortsetzungs-Weissagung 

SIND  die  Zimmer  sämtlich  besetzt  der  Burg  von  Otranto, 
Kommt,  voll  innigen  Grimms,  der  erste  Riesenbesitzer, 
Stückweis  an  und  verdrängt  die  neuen  falschen  Bewohner. 
Wehe!  den  Fliehenden.  Weh!  den  Bleibenden.    Also  ge- 
schieht es. 

ALS  das  heilige  Blatt  von  Maros  Grabe  getrennt  ward, 
Naht'  es,  der  Asche  getreu,  welkend  polarischer 

Nacht; 
Aber  im  Lande  bedeckt  von  Schnee  ergrünt  es  aufs  neue. 
Bietet  im  welkenden  Schmuck  traulich  den  Grazien  an. 

PHÖBOS  UND  HERMES 

DELOS'  ernster  Beherrscher  und  Majas  Sohn,  der  ge- 
wandte, 
Rechteten  heftig,  es  wünscht'  jeder  den  herrlichen  Preis. 
Hermes  verlangte   die  Leier,   die  Leier  verlangt'  auch 

Apollon, 
Doch  vergeblich  erfüllt  Hoffnung  den  beiden  das  Herz. 

GOETHE  XIV  31. 


482  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Denn  rasch  dränget  sich  Ares  heran,  gewaltsam  ent- 
scheidend, 

Schlägt  das  goldene  Spiel  wild  mit  dem  Eisen  entzwei. 
Hermes  lacht  unmäßig,  der  schadenfrohe;  doch  Phöbos 

Und  den  Musen  ergreift  inniger  Schmerz  das  Gemüt. 

SPIEGEL  DER  MUSE 

SICH  zu  schmücken  begierig,  verfolgte  den  rinnenden 
Bach  einst 
Früh  die  Muse  hinab,  sie  suchte  die  ruhigste  Stelle. 
Eilend  und  rauschend  indes  verzog  die  schwankende  Fläche 
Stets  das  bewegliche  Bild;  die  Göttin  wandte  sich  zürnend; 
Doch  der  Bach  rief  hinter  ihr  drein  und  höhnte  sie:  Freilich 
Magst  du  die  Wahrheit  nicht  sehn,   wie  rein  dir  mein 

Spiegel  sie  zeiget! 
Aber  indessen  stand  sie  schon  fern,  am  Winkel  des  Seees, 
Ihrer  Gestalt  sich  erfreuend,  und  rückte  den  Kranz  sich 

zurechte. 

DIE  ERSTE  WALPURGISNACHT 
Ein  Druide 

ES  lacht  der  Mai! 
Der  Wald  ist  frei 
Von  Eis  und  Reifgehänge. 
Der  Schnee  ist  fort; 
Am  grünen  Ort 
Erschallen  Lustgesänge. 
Ein  reiner  Schnee 
Liegt  auf  der  Höh; 
Doch  eilen  wir  nach  oben, 
Begehn  den  alten  heiigen  Brauch, 
Allvater  dort  zu  loben. 
Die  Flamme  lodre  durch  den  Rauch! 
So  wird  das  Herz  erhoben. 

Die  Druiden 
Die  Flamme  lodre  durch  den  Rauch! 
Begeht  den  alten  heiigen  Brauch, 


17 98/1805  WEIMAR  483 

Allvater  dort  zu  loben! 
Hinauf!  hinauf  nach  oben! 

Einer  aus  dem  Volke 
Könnt  ihr  so  verwegen  handeln? 
Wollt  ihr  denn  zum  Tode  wandeln? 
Kennet  ihr  nicht  die  Gesetze 
Unsrer  harten  Überwinder? 
Rings  gestellt  sind  ihre  Netze 
Auf  die  Heiden,  auf  die  Sünder. 
Ach,  sie  schlachten  auf  dem  Walle 
Unsre  Weiber,  unsre  Kinder. 
Und  wir  alle 
Nahen  uns  gewissem  Falle. 

Chor  der  Weiber 

Auf  des  Lagers  hohem  Walle 
Schlachten  sie  schon  unsre  Kinder. 
Ach,  die  strengen  Überwinder! 
Und  wir  alle 
Nahen  uns  gewissem  Falle. 

Ein  Druide 
Wer  Opfer  heut 
Zu  bringen  scheut, 
Verdient  erst  seine  Bande. 
Der  Wald  ist  frei! 
Das  Holz  herbei, 
Und  schichtet  es  zum  Brande! 
Doch  bleiben  wir 
Im  Buschrevier 
Am  Tage  noch  im  stillen, 
Und  Männer  stellen  wir  zur  Hut 
Um  eurer  Sorge  willen. 
Dann  aber  laßt  mit  frischem  Mut 
Uns  unsre  Pflicht  erfüllen. 

Chor  der  Wächter 
Verteilt  euch,  wackre  Männer,  hier 
Durch  dieses  ganze  Waldrevier 


484  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Und  wachet  hier  im  stillen, 
Wenn  sie  die  Pflicht  erfüllen. 

Ein  Wächter 
Diese  dumpfen  Pfaffenchristen, 
Laßt  mis  keck  sie  überlisten! 
Mit  dem  Teufel,  den  sie  fabeln, 
Wollen  wir  sie  selbst  erschrecken. 
Kommt!   Mit  Zacken  und  mit  Gabeln 
Und  mit  Glut  und  Klapperstöcken 
Lärmen  wir  bei  nächtger  Weile 
Durch  die  engen  Felsenstrecken. 
Kauz  und  Eule 
Heul  in  unser  Rundgeheule! 

Chor  der  Wächter 
Kommt  mit  Zacken  und  mit  Gabeln, 
Wie  der  Teufel,  den  sie  fabeln, 
Und  mit  wilden  Klapperstöcken 
Durch  die  leeren  Felsenstrecken! 
Kauz  und  Eule 
Heul  in  imser  Rundgeheule! 

Ein  Druide 
So  weit  gebracht. 
Daß  wir  bei  Nacht 
Allvater  heimlich  singen! 
Doch  ist  es  Tag, 
Sobald  man  mag 
Ein  reines  Herz  dir  bringen. 
Du  kannst  zwar  heut. 
Und  manche  Zeit, 
Dem  Feinde  viel  erlauben. 
Die  Flamme  reinigt  sich  vom  Rauch: 
So  reinge  unsern  Glauben! 
Und  raubt  man  uns  den  alten  Brauch, 
Dein  Licht,  wer  will  es  rauben? 

Ein  christlicher  Wächter 
Hilf,  ach,  hilf  mir,  Kriegsgeselle! 
Ach,  es  kommt  die  ganze  Hölle! 


1 798/1805    WEIMAR  485 

Sieh,  wie  die  verhexten  Leiber 
Durch  und  durch  von  Flamme  glühen! 
Menschen- Wolf  und  Drachen- Weiber, 
Die  im  Flug  vorüberziehen! 
Welch  entsetzliches  Getöse! 
Laßt  uns,  laßt  uns  alle  fliehen! 
Oben  flammt  und  saust  der  Böse, 
Aus  dem  Boden 
Dampfet  rings  ein  Höllen-Broden. 

Chor  der  christlichen  Wächter 
Schreckliche,  verhexte  Leiber, 
Menschen-Wölf  und  Drachen -Weiber! 
Welch  entsetzliches  Getöse! 
Sieh,  da  flammt,  da  zieht  der  Böse! 
Aus  dem  Boden 
Dampfet  rings  ein  Höllen-Broden. 

Chor  der  Druiden 
Die  Flamme  reinigt  sich  vom  Rauch: 
So  reinge  unsern  Glauben! 
Und  raubt  man  uns  den  alten  Brauch, 
Dein  Licht,  wer  kann  es  rauben! 

AN  DIE  GÜNSTIGEN 

DICHTER  lieben  nicht  zu  schweigen,^ 
Wollen  sich  der  Menge  zeigen. 
Lob  und  Tadel  muß  ja  sein! 
Niemand  beichtet  gern  in  Prosa; 
Doch  vertraun  wir  oft  sub  Rosa 
In  der  Musen  stillem  Hain. 

Was  ich  irrte,  was  ich  strebte, 
Was  ich  litt  und  was  ich  lebte. 
Sind  hier  Blumen  nur  im  Strauß; 
Und  das  Alter  wie  die  Jugend, 
Und  der  Fehler  wie  die  Tugend 
Nimmt  sich  gut  in  Liedern  aus. 


486  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

DER  MUSENSOHN 

DURCH  Feld  und  Wald  zu  schweifen, 
Mein  Liedchen  wegzupfeifen, 
So  gehts  von  Ort  zu  Ort! 
Und  nach  dem  Takte  reget, 
Und  nach  dem  Maß  beweget 
Sich  alles  an  mir  fort. 
Ich  kann  sie  kaum  erwarten, 
Die  erste  Blum  im  Garten, 
Die  erste  Blut  am  Baum. 
Sie  grüßen  meine  Lieder, 
Und  kommt  der  Winter  wieder. 
Sing  ich  noch  jenen  Traum. 
Ich  sing  ihn  in  der  Weite, 
Auf  Eises  Läng  und  Breite, 
Da  blüht  der  Winter  schön! 
Auch  diese  Blüte  schwindet, 
Und  neue  Freude  findet 
Sich  auf  bebauten  Höhn. 
Denn  wie  ich  bei  der  Linde 
Das  junge  Völkchen  finde, 
Sogleich  erreg  ich  sie. 
Der  stumpfe  Bursche  bläht  sich, 
Das  steife  Mädchen  dreht  sich 
Nach  meiner  Melodie. 
Ihr  gebt    den  Sohlen  Flügel 
Und  treibt  durch  Tal  und  Hügel 
Den  Liebling  weit  von  Haus. 
Ihr  lieben  holden  Musen, 
Wann  ruh  ich  ihr  am  Busen 
Auch  endlich  wieder  aus? 

AN  LINA 

LIEBCHEN,  kommen  diese  Lieder 
Jemals  wieder  dir  zur  Hand, 
Sitze  beim  Klaviere  nieder, 
Wo  der  Freund  sonst  bei  dir  stand. 


1 798/1805   WEIMAR  487 

Laß  die  Saiten  rasch  erklingen 
Und  dann  sieh  ins  Buch  hinein; 
Nur  nicht  lesen!  immer  singen! 
Und  ein  jedes  Blatt  ist  dein. 

Ach,  wie  traurig  sieht  in  Lettern, 
Schwarz  auf  weiß,  das  Lied  mich  an, 
Das  aus  deinem  Mund  vergöttern, 
Das  ein  Herz  zerreißen  kann! 

PARABELN* 
I 

EIN  Meister  einer  ländHchen  Schtde 
Erhub  sich  einst  von  seinem  Stuhle 
Und  hatte  fest  sich  vorgenommen, 
In  bessere  Gesellschaft  zu  kommen; 
Deswegen  er,  im  nahen  Bad, 
In  den  sogenannten  Salon  eintrat. 
Verblüfft  war  er  gleich  an  der  Tür, 
Als  wenns  ihm  zu  vornehm  widerführ; 
Macht  daher  dem  ersten  Fremden  rechts 
Einen  tiefen  Bückling,  es  war  nichts  Schlechts; 
Aber  hinten  hätt  er  nicht  vorgesehn, 
Daß  da  auch  wieder  Leute  stehn. 
Gab  einem  zur  Linken  in  den  Schoß 
Mit  seinem  Hintern  einen  derben  Stoß. 
Das  hätt  er  schnell  gern  abgebüßt; 
Doch  wie  er  eilig  den  wieder  begrüßt, 
So  stößt  er  rechts  einen  andern  an. 
Er  hat  wieder  jemand  was  Leids  getan. 
Und  wie  ers  diesem  wieder  abbittet, 
Ers  wieder  mit  einem  andern  verschüttet. 
Und  komplimentiert  sich  zu  seiner  Qual, 
Von  hinten  und  vorn,  so  durch  den  Saal, 

*  In  den  Ausgaben  der  Werke  folgen  der  Überschrift  die  Worte: 
Werden  fortgesetzt  bis  zum  Dutzend,  wodurch  man  den  hier  an- 
gedeuteten Charakter  völlig  zu  umzeichnen  hofft  und  zugleich 
unserer  Zeit,  welche  das  Charakteristische  der  Kunst  so  sehr  zu 
schätzen  weiß,  einigen  Dienst  zu  leisten  glaubt. 


488  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Bis  ihm  endlich  ein  derber  Geist 
Ungeduldig  die  Türe  weist. 

Möge  doch  mancher,  in  seinen  Sünden, 
Hievon  die  Nutzanwendung  finden. 

II 

Da  er  nun  seine  Straße  ging, 

Dacht  er:  ich  machte  mich  zu  gering. 

Will  mich  aber  nicht  weiter  schmiegen; 

Denn  wer  sich  grün  macht,  den  fressen  die  Ziegen. 

So  ging  er  gleich  frisch  querfeldein, 

Und  zwar  nicht  über  Stock  und  Stein, 

Sondern  über  Äcker  und  gute  Wiesen, 

Zertrat  das  alles  mit  latschen  Füßen. 

Ein  Besitzer  begegnet  ihm  so 

Und  fragt  nicht  weiter  wie?  noch  wo? 

Sondern  schlägt  ihn  tüchtig  hinter  die  Ohren. 

Bin  ich  doch  gleich  wie  neugeboren! 
Ruft  unser  Wandrer  hochentzückt. 
Wer  bist  du.  Mann,  der  mich  beglückt? 
Möchte  mich  Gott  doch  immer  segnen, 
Daß  mir  so  fröhliche  Gesellen  begegnen! 

JENE  machen  Partei;  welch  unerlaubtes  Beginnen? 
Aber  unsre  Partei,  freilich,  versteht  sich  von  selbst. 


FRÜCHTE  bringet  das  Leben  dem  Mann;  doch  hangen 
sie  selten 
Rot  und  lustig  am  Zweig,  wie  uns  ein  Apfel  begrüßt. 

ALLE  Blüten  müssen  vergehn,  daß  Früchte  beglücken; 
Blüten  und  Frucht  zugleich  gebet  ihr   Musen   allein. 


DIESMAL  streust  du,  o  Herbst,  nur  leichte,  welkende 
Blätter; 
Gib  mir  ein  andermal  schwellende  Früchte  dafür. 


1 798/1805   WEIMAR  489 

DAS  SONETT 

SICH  in  erneutem  Kunstgebrauch  zu  üben, 
Ist  heiige  Pflicht,  die  wir  dir  auferlegen: 
Du  kannst  dich  auch,  wie  wir,  bestimmt  bewegen 
Nach  Tritt  und  Schritt,  wie  es  dir  vorgeschrieben. 

Denn  eben  die  Beschränkung  läßt  sich  Heben, 
Wenn  sich  die  Geister  gar  gewaltig  regen; 
Und  wie  sie  sich  denn  auch  gebärden  mögen. 
Das  Werk  zuletzt  ist  doch  vollendet  blieben. 

So  möcht  ich  selbst  in  künstlichen  Sonetten, 
In  sprachgewandter  Maße  kühnem  Stolze, 
Das  Beste,  was  Gefühl  mir  gäbe,  reimen; 

Nur  weiß  ich  hier  mich  nicht  bequem  zu  betten. 
Ich  schneide  sonst  so  gern  aus  ganzem  Holze, 
Und  müßte  nun  doch  auch  mitunter  leimen. 


NATUR  und  Kunst,  sie  scheinen  sich  zu  fliehen 
Und  haben  sich,  eh  man  es  denkt,  gefunden; 
Der  Widerwille  ist  auch  mir  verschwunden, 
Und  beide  scheinen  gleich  mich  anzuziehen. 

Es  gilt  wohl  nur  ein  redliches  Bemühen! 

Und  wenn  wir  erst  in  abgemeßnen  Stunden 
Mit  Geist  und  Fleiß  uns  an  die  Kunst  gebunden. 
Mag  frei  Natur  im  Herzen  wieder  glühen. 

So  ists  mit  aller  Bildung  auch  beschaffen: 
Vergebens  werden  ungebundne  Geister 
Nach  der  Vollendung  reiner  Höhe  streben. 

Wer  Großes  will,  muß  sich  zusammenraffen; 

In  der  Beschränkung  zeigt  sich  erst  der  Meister, 
Und  das  Gesetz  nur  kann  ims  Freiheit  geben. 


490  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

[In  das  Stammbuch  seines  Sohnes] 

GÖNNERN  reiche  das  Buch  und  reich  es  Freund-  und 
Gespielen, 
Reich  es  dem  Eilenden  hin,  der  sich  vorüber  bewegt. 
Wer  des  freundlichen  Worts,  des  Namens  Gabe  dir  spendet. 
Häufet  den  edlen  Schatz  holden  Erinnrens  dir  an. 

SELBST  erfinden  ist  schön;  doch  glücklich  von  andern 
Gefundnes 
Fröhlich  erkannt  und  geschätzt,  nennst  du  das  weniger 

dein? 


w 


AS  den  Jüngling  ergreift,  den  Mann  hält,  Greise 

noch  labet. 
Liebenswürdiges  Kind,  bleibe  dein  glückliches  Teil. 


ALTER  gesellet  sich  gern  der  Jugend,  Jugend  zum 
Alter; 
Aber  am  liebsten  bewegt  Gleiches  dem  Gleichen  sich  zu. 

DAUER  IM  WECHSEL 

HIELTE  diesen  frühen  Segen, 
Ach,  nur  Eine  Stimde  fest! 
Aber  vollen  Blütenregen 
Schüttelt  schon  der  laue  West. 
Soll  ich  mich  des  Grünen  freuen. 
Dem  ich  Schatten  erst  verdankt: 
Bald  wird  Sturm  auch  das  zerstreuen. 
Wenn  es  falb  im  Herbst  geschwankt. 

Willst  du  nach  den  Früchten  greifen, 
Eilig  nimm  dein  Teil  davon! 
Diese  fangen  an  zu  reifen. 
Und  die  andern  keimen  schon; 
Gleich  mit  jedem  Regengiisse 
Ändert  sich  dein  holdes  Tal, 
Ach,  und  in  demselben  Flusse 
Schwimmst  du  nicht  zum  zweitenmal. 


I 


1 798/1805   WEIMAR  491 

Du  nun  selbst!   Was  felsenfeste 
Sich  vor  dir  hervorgetan, 
Mauern  siehst  du,  siehst  Paläste 
Stets  mit  andern  Augen  an. 
Weggeschwunden  ist  die  Lippe, 
Die  im  Kusse  sonst  genas, 
Jener  Fuß,  der  an  der  Klippe 
Sich  mit  Gemsenfreche  maß. 

Jene  Hand,  die  gern  und  milde 
Sich  bewegte,  wohlzutun, 
Das  gegliederte  Gebilde, 
Alles  ist  ein  andres  nun. 
Und  was  sich  an  jener  Stelle 
Ntin  mit  deinem  Namen  nennt, 
Kam  herbei  wie  eine  Welle, 
Und  so  eilts  zum  Element. 

Laß  den  Anfang  mit  dem  Ende 
Sich  in  Eins  zusammenziehn! 
Schneller  als  die  Gegenstände 
Selber  dich  vorüberfliehn! 
Danke,  daß  die  Gunst  der  Musen 
Unvergängliches  verheißt. 
Den  Gehalt  in  deinem  Busen 
Und  die  Form  in  deinem  Geist. 


FRÜHZEITIGER  FRÜHLING 

TAGE  der  Wonne, 
Kommt  ihr  so  bald? 
Schenkt  mir  die  Sonne, 
Hügel  und  Wald? 

Reichlicher  fließen 
Bächlein  zumal. 
Sind  es  die  Wiesen? 
Ist  es  das  Tal? 


492  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Blauliche  Frische! 
Himmel  und  Höh! 
Goldene  Fische 
Wimmeln  im  See. 

Buntes  Gefieder 
Rauschet  im  Hain; 
Himmlische  Lieder 
Schallen  darein. 

Unter  des  Grünen 
Blühender  Kraft 
Naschen  die  Bienen 
Summend  am  Saft. 

Leise  Bewegung 
Bebt  in  der  Luft, 
Reizende  Regtmg, 
Schläfemder  Duft. 

Mächtiger  rühret 
Bald  sich  ein  Hauch, 
Doch  er  verlieret 
Gleich  sich  im  Strauch. 

Aber  zum  Busen 
Kehrt  er  zurück. 
Helfet,  ihr  Musen, 
Tragen  das  Glück! 

Saget,  seit  gestern 
Wie  mir  geschah? 
Liebliche  Schwestern, 
Liebchen  ist  da! 


ul: 


einem  Herren  steht  es  gut, 
was  er  befohlen,  selber  tut. 


[In  ein  Stammbuch] 

WEISE  die  Rose  nicht  ab  von  deinem  Busen,  sie 
blühet 
Noch  auf  der  Wange  dir,   noch  in  dem  Herzen  dir  auf. 


1 798/1805   WEIMAR  493 

LIEBE  teilet  die  Freud  und  den  Schmerz  und  fühlt 
sich  nur  Liebe. 


STIFTUNGSLIED 

WAS  gehst  du,  schöne  Nachbarin, 
Im  Garten  so  allein? 
Und  wenn  du  Haus  und  Felder  pflegst, 
Will  ich  dein  Diener  sein. 

Mein  Bruder  schlich  zur  Kellnerin 
Und  ließ  ihr  keine  Ruh. 
Sie  gab  ihm  einen  frischen  Trunk 
Und  einen  Kuß  dazu. 

Mein  Vetter  ist  ein  kluger  Wicht, 
Er  ist  der  Köchin  hold. 
Den  Braten  dreht  er  für  imd  für 
Um  süßen  Minnesold. 

Die  Sechse,  die  verzehrten  dann 
Zusammen  ein  gutes  Mahl, 
Und  singend  kam  ein  viertes  Paar 
Gesprungen  in  den  Saal. 

Willkommen!  und  Willkommen  auch 
Fürs  wackre  fünfte  Paar, 
Das  voll  Geschieht'  und  Neuigkeit 
Und  frischer  Schwanke  war. 

Noch  blieb  für  Rätsel,  Witz  und  Geist 
Und  feine  Spiele  Platz; 
Ein  sechstes  Pärchen  kam  heran, 
Gefunden  war  der  Schatz, 

Doch  eines  fehlt'  und  fehlte  sehr, 
Was  doch  das  Beste  tut: 
Ein  zärtlich  Pärchen  schloß  sich  an, 
Ein  treues  —  nun  wars  gut. 

Gesellig  feiert  fort  und  fort 
Das  imgestörte  Mahl, 
Und  eins  im  andern  freue  sich 
Der  heiigen  Doppelzahl. 


494  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

ZUM  NEUEN  JAHR 
WISCHEN  dem  Alten, 


z: 


^Zwischen  dem  Neuen, 
Hier  uns  zu  freuen 
Schenkt  uns  das  Glück, 
Und  das  Vergangne 
Heißt  mit  Vertrauen 
Vorwärts  zu  schauen, 
Schauen  zurück. 

Stunden  der  Plage, 
Leider,  sie  scheiden 
Treue  von  Leiden, 
Liebe  von  Lust; 
Bessere  Tage 
Sammlen  uns  wieder, 
Heitere  Lieder 
Stärken  die  Brust. 

Leiden  und  Freuden, 
Jener  verschwundnen. 
Sind  die  Verbundnen 
Fröhlich  gedenk. 
O  des  Geschickes 
Seltsamer  Windung! 
Alte  Verbindung, 
Neues  Geschenk! 

Dankt  es  dem  regen. 
Wogenden  Glücke, 
Dankt  dem  Geschicke 
Männiglich  Gut; 
Freut  euch  des  Wechsels 
Heiterer  Triebe, 
Offener  Liebe, 
Heimlicher  Glut! 

Andere  schauen 
Deckende  Falten 


17 98/1805   WEIMAR  495 

Über  dem  Alten 
Traurig  und  scheu; 
Aber  uns  leuchtet 
Freundliche  Treue; 
Sehet,  das  Neue 
Findet  uns  neu. 

So  wie  im  Tanze 
Bald  sich  verschwindet, 
Wieder  sich  findet 
Liebendes  Paar, 
So  durch  des  Lebens 
Wirrende  Beugung 
Führe  die  Neigung 
Uns  in  das  Jahr. 


ICH  wüßte  nicht,  daß  ich  ein  Grauen  spürte 
Vor  jenen  Alten  in  der  Unterwelt; 
Wenn  nur  nicht  jede,  die  mir  wohlgefällt. 
Hier  oben  mich  nach  Wunsch  regierte. 


SELBSTBETRUG 

DER  Vorhang  schwebet  hin  und  her 
Bei  meiner  Nachbarin. 
Gewiß,  sie  lauschet  überquer, 
Ob  ich  zu  Hause  bin, 

Und  ob  der  eifersüchtge  Groll, 
Den  ich  am  Tag  gehegt. 
Sich,  wie  er  nun  auf  immer  soll, 
Im  tiefen  Herzen  regt. 

Doch  leider  hat  das  schöne  Kind 
Dergleichen  nicht  gefühlt. 
Ich  seh,  es  ist  der  Abendwind, 
Der  mit  dem  Vorhang  spielt. 


496  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

KRIEGSERKLÄRUNG 

WENN  ich  doch  so  schön  war 
Wie  die  Mädchen  auf  dem  Land! 
Sie  tragen  gelbe  Hüte 
Mit  rosenrotem  Band. 

Glauben,  daß  man  schön  sei, 
Dächt  ich,  ist  erlaubt. 
In  der  Stadt,  ach!  ich  hab  es 
Dem  Junker  geglaubt. 

Nun  im  Frühling,  ach!  ists 
Um  die  Freuden  getan; 
Ihn  ziehen  die  Dirnen, 
Die  ländlichen,  an. 

Und  die  Taill  und  den  Schlepp 
Verändr  ich  zur  Stund; 
Das  Leibchen  ist  länger. 
Das  Röckchen  ist  rund. 

Trage  gelblichen  Hut 
Und  ein  Mieder  wie  Schnee, 
Und  sichle  mit  andern 
Den  blühenden  Klee. 

Spürt  er  imter  dem  Chor 
Etwas  Zierliches  aus, 
Der  lüsterne  Knabe, 
Er  winkt  mir  ins  Haus. 

Ich  begleit  ihn  verschämt. 
Und  er  kennt  mich  noch  nicht, 
Er  kneipt  mir  die  Wangen 
Und  sieht  mein  Gesicht. 

Die  Städterin  droht 
Euch  Dirnen  den  Krieg, 
Und  doppelte  Reize 
Behaupten  den  Sieg. 


1 798/1805  WEIMAR  497 

RITTER  KURTS  BRAUTFAHRT 

MIT  des  Bräutigams  Behagen 
Schwingt  sich  Ritter  Kurt  aufs  Roß; 
Zu  der  Trauung  soUs  ihn  tragen 
Auf  der  edlen  Liebsten  Schloß: 
Als  am  öden  Felsenorte 
Drohend  sich  ein  Gegner  naht, 
Ohne  Zögern,  ohne  Worte 
Schreiten  sie  zu  rascher  Tat. 

Lange  schwankt  des  Kampfes  Welle, 
Bis  sich  Kurt  im  Siege  freut; 
Er  entfernt  sich  von  der  Stelle, 
Überwinder  und  gebleut. 
Aber  was  er  bald  gewahret 
In  des  Busches  Zitterschein! 
Mit  dem  Säugling  still  gepaaret, 
Schleicht  ein  Liebchen  durch  den  Hain. 

Und  sie  winkt  ihm  auf  das  Plätzchen: 
Lieber  Herr,  nicht  so  geschwind! 
Habt  Ihr  nichts  an  Euer  Schätzchen, 
Habt  Ihr  nichts  für  Euer  Kind: 
Ihn  durchglühet  süße  Flamme, 
Daß  er  nicht  vorbei  begehrt, 
Und  er  findet  mm  die  Amme, 
Wie  die  Jungfrau,  liebenswert. 

Doch  er  hört  die  Diener  blasen, 
Denket  nun  der  hohen  Braut, 
Und  nun  wird  auf  seinen  Straßen 
Jahresfest  und  Markt  so  laut. 
Und  er  wählet  in  den  Buden 
Manches  Pfand  zu  Lieb  und  Huld; 
Aber  ach!  da  kommen  Juden 
Mit  dem  Schein  vertagter  Schuld. 

Und  nun  halten  die  Gerichte 
Den  behenden  Ritter  auf. 
O  verteufelte  Geschichte! 

GOETHE  XIV  3». 


498  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Heldenhafter  Lebenslauf! 
Soll  ich  heute  mich  gedulden? 
Die  Verlegenheit  ist  groß. 
Widersacher,  Weiber,  Schulden, 
Ach!  kein  Ritter  wird  sie  los. 

WANDRER  UND  PÄCHTERIN 

Er 

KANNST  du,  schöne  Pächtrin  ohnegleichen, 
Unter  dieser  breiten  Schattenlinde, 
Wo  ich  Wandrer  kurze  Ruhe  finde, 
Labung  mir  für  Durst  und  Hunger  reichen? 

Sie 
Willst  du.  Vielgereister,  hier  dich  laben. 
Sauren  Rahm  und  Brot  und  reife  Früchte, 
Nur  die  ganz  natürlichsten  Gerichte, 
Kannst  du  reichlich  an  der  Quelle  haben. 

Er 
Ist  mir  doch,  ich  müßte  schon  dich  kennen, 
Unvergeßne  Zierde  holder  Stunden! 
Ähnlichkeiten  hab  ich  oft  gefunden; 
Diese  muß  ich  doch  ein  VVimder  nennen. 

Sie 
Ohne  Wunder  findet  sich  bei  Wandrern 
Oft  ein  sehr  erklärliches  Erstaunen. 
Ja,  die  Blonde  gleichet  oft  der  Braunen; 
Eine  reizet  eben  wie  die  andern. 

Er 
Heute  nicht,  fürwahr,  zum  ersten  Male 
Hat  mirs  diese  Bildung  abgewonnen! 
Damals  war  sie  Sonne  aller  Sonnen 
In  dem  festlich  aufgeschmückten  Saale. 

Sie 
Freut  es  dich,  so  kann  es  wohl  geschehen, 
Daß  man  deinen  Märchenscherz  vollende: 
Purpurseide  floß  von  ihrer  Lende, 
Da  du  sie  zum  erstenmal  gesehen. 


r 


1798/1805  WEIMAR  499 

Er 
Nein,  fürwahr,  das  hast  du  nicht  gedichtet! 
Konnten  Geister  dir  es  offenbaren; 
Von  Juwelen  hast  du  auch  erfahren 
Und  von  Perlen,  die  ihr  Blick  vernichtet. 

Sie 
Dieses  eine  ward  mir  wohl  vertrauet: 
Daß  die  Schöne,  schamhaft,  zu  gestehen, 
Und  in  Hoffnung,  wieder  dich  zu  sehen. 
Manche  Schlösser  in  die  Luft  erbauet. 

Er 

Trieben  mich  umher  doch  alle  Winde! 
Sucht  ich  Ehr  und  Geld  auf  jede  Weise! 
Doch  gesegnet,  wenn  am  Schluß  der  Reise 
Ich  das  edle  Bildnis  wieder  finde. 

Sie 
Nicht  ein  Bildnis,  wirkUch  siehst  du  jene 
Hohe  Tochter  des  verdrängten  Blutes; 
Nun  im  Pachte  des  verlaßnen  Gutes 
Mit  dem  Bruder  freuet  sich  Helene. 

Er 
Aber  diese  herrlichen  Gefilde, 
Kann  sie  der  Besitzer  selbst  vermeiden? 
Reiche  Felder,  breite  Wies-  und  Weiden, 
Mächtge  Quellen,  süße  Himmelsmilde. 

Sie 
Ist  er  doch  in  alle  Welt  entlaufen! 
Wir  Geschwister  haben  viel  erworben; 
Wenn  der  Gute,  wie  man  sagt,  gestorben, 
Wollen  wir  das  Hinterlaßne  kaufen. 

Er 
Wohl  zu  kaufen  ist  es,  meine  Schöne! 
Vom  Besitzer  hört  ich  die  Bedinge; 
Doch  der  Preis  ist  keineswegs  geringe. 
Denn  das  letzte  Wort,  es  ist:  Helene! 


500  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Sie 
Könnt  uns  Glück  und  Höhe  nicht  vereinen! 
Hat  die  Liebe  diesen  Weg  genommen? 
Doch  ich  seh  den  wackren  Brader  kommen; 
Wenn  ers  hören  wird,  was  kann  er  meinen? 

HOCHZEITLIED 

WIR  singen  und  sagen  vom  Grafen  so  gern, 
Der  hier  in  dem  Schlosse  gehauset, 
Da,  wo  ihr  den  Enkel  des  seligen  Herrn, 
Den  heute  vermählten,  beschmauset. 
Nun  hatte  sich  jener  im  heiligen  Krieg 
Zu  Ehren  gestritten  durch  mannigen  Sieg; 
Und  als  er  zu  Hause  vom  Rösselein  stieg. 
Da  fand  er  sein  Schlösselein  oben, 
Doch  Diener  und  Habe  zerstoben. 

Da  bist  du  nun,  Gräflein,  da  bist  du  zu  Haus, 

Das  Heimische  findest  du  schlimmer! 

Zum  Fenster  da  ziehen  die  Winde  hinaus, 

Sie  kommen  durch  alle  die  Zimmer. 

Was  wäre  zu  tun  in  der  herbstlichen  Nacht? 

So  hab  ich  doch  manche  noch  schlimmer  vollbracht, 

Der  Morgen  hat  alles  wohl  besser  gemacht. 

Drum  rasch  bei  der  mondlichen  Helle 

Ins  Bett,  in  das  Stroh,  ins  Gestelle. 

Und  als  er  im  willigen  Schlummer  so  lag, 

Bewegt  es  sich  unter  dem  Bette. 

Die  Ratte,  die  raschle,  solange  sie  mag! 

Ja,  wenn  sie  ein  Bröselein  hätte! 

Doch  siehe!  da  stehet  ein  winziger  Wicht, 

Ein  Zwerglein  so  zierlich  mit  Ampelen- Licht, 

Mit  Redner- Gebärden  und  Sprecher- Gewicht, 

Zum  Fuß  des  ermüdeten  Grafen, 

Der,  schläft  er  nicht,  möcht  er  doch  schlafen. 

Wir  haben  uns  Feste  hier  oben  erlaubt, 

Seitdem  du  die  Zimmer  verlassen. 

Und  weil  wir  dich  weit  in  der  Ferne  geglaubt, 


1798/1805  WEIMAR  501 

So  dachten  wir  eben  zu  prassen. 

Und  wenn  du  vergönnest  und  wenn  dir  nicht  graut, 

So  schmausen  die  Zwerge,  behaglich  und  laut, 

Zu  Ehren  der  reichen,  der  niedlichen  Braut. 

Der  Graf  im  Behagen  des  Traumes: 

Bedienet  euch  immer  des  Raumes! 

Da  kommen  drei  Reiter,  sie  reiten  hervor, 

Die  imter  dem  Bette  gehalten; 

Dann  folget  ein  singendes,  klingendes  Chor 

Possierlicher,  kleiner  Gestalten; 

Und  Wagen  auf  Wagen  mit  allem  Gerät, 

Daß  einem  so  Hören  als  Sehen  vergeht, 

Wie's  nur  in  den  Schlössern  der  Könige  steht; 

Zuletzt  auf  vergoldetem  Wagen 

Die  Braut  imd  die  Gäste  getragen. 

So  rennet  nun  alles  in  vollem  Galopp 

Und  kürt  sich  im  Saale  sein  Plätzchen; 

Zum  Drehen  und  Walzen  und  lustigen  Hopp 

Erkieset  sich  jeder  ein  Schätzchen. 

Da  pfeift  es  und  geigt  es  imd  klinget  und  klirrt, 

Da  ringelts  und  schleift  es  und  rauschet  und  wirrt, 

Da  pisperts  und  knisterts  und  flisterts  und  schwirrt; 

Das  Gräflein,  es  blicket  hinüber, 

Es  dünkt  ihn,  als  lag  er  im  Fieber. 

Nun  dappelts  und  rappelts  und  klapperts  im  Saal 

Von  Bänken  und  Stühlen  und  Tischen, 

Da  will  nun  ein  jeder  am  festlichen  Mahl 

Sich  neben  dem  Liebchen  erfrischen; 

Sie  tragen  die  Würste,  die  Schinken  so  klein 

Und  Braten  und  Fisch  und  Geflügel  herein, 

Es  kreiset  beständig  der  köstliche  Wein; 

Das  toset  und  koset  so  lange, 

Verschwindet  zuletzt  mit  Gesänge. — 

Und  sollen  wir  singen,  was  weiter  geschehn, 
So  schweige  das  Toben  und  Tosen. 
Denn  was  er,  so  artig,  im  Kleinen  gesehn, 
Erfuhr  er,  genoß  er  im  Großen. 


502  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Trompeten  und  klingender,  singender  Schall 
Und  Wagen  und  Reiter  und  bräutlicher  Schwall, 
Sie  kommen  und  zeigen  und  neigen  sich  all, 
Unzählige,  selige  Leute. 
So  ging  es  und  geht  es  noch  heute. 

RÄTSEL 

EIN  Bruder  ists  von  vielen  Brüdern, 
In  allem  ihnen  völlig  gleich, 
Ein  nötig  Glied  von  vielen  Gliedern 
In  eines  großen  Vaters  Reich; 
Jedoch  erblickt  man  ihn  nur  selten, 
Fast  wie  ein  eingeschobnes  Kind: 
Die  andern  lassen  ihn  nur  gelten 
Da,  wo  sie  unvermögend  sind. 

TISCHLIED 

MICH  ergreift,  ich  weiß  nicht  wie, 
Himmlisches  Behagen. 
Will  michs  etwa  gar  hinauf 
Zu  den  Sternen  tragen? 
Doch  ich  bleibe  lieber  hier, 
Kann  ich  redlich  sagen, 
Beim  Gesang  und  Glase  Wein 
Auf  den  Tisch  zu  schlagen. 

Wundert  euch,  ihr  Freunde,  nicht, 
Wie  ich  mich  gebärde; 
Wirklich  ist  es  allerliebst 
Auf  der  lieben  Erde: 
Darum  schwör  ich  feierlich 
Und  ohn  alle  Fährde, 
Daß  ich  mich  nicht  freventlich 
Wegbegeben  werde. 

Da  wir  aber  allzumal 
So  beisammen  weilen, 
Dächt  ich,  klänge  der  Pokal 
Zu  des  Dichters  Zeilen. 


1 798/1805  WEIMAR  503 

Gute  Freunde  ziehen  fort, 
Wohl  ein  hundert  Meilen, 
Darum  soll  man  hier  am  Ort 
Anzustoßen  eilen. 

Lebe  hoch,  wer  Leben  schafft! 
Das  ist  meine  Lehre. 
Unser  König  denn  voran, 
Ihm  gebührt  die  Ehre. 
Gegen  inn-  und  äußern  Feind 
Setzt  er  sich  zur  Wehre; 
Ans  Erhalten  denkt  er  zwar, 
Mehr  noch,  wie  er  mehre. 

Nun  begrüß  ich  sie  sogleich, 
Sie,  die  einzig  Eine. 
Jeder  denke  ritterlich 
Sich  dabei  die  Seine. 
Merket  auch  ein  schönes  Kind, 
Wen  ich  eben  meine, 
Nun,  so  nicke  sie  mir  zu: 
Leb  auch  so  der  Meine! 

Freunden  gilt  das  dritte  Glas, 
Zweien  oder  dreien, 
Die  mit  uns  am  guten  Tag 
Sich  im  stillen  freuen 
Und  der  Nebel  trübe  Nacht 
Leis  und  leicht  zerstreuen; 
Diesen  sei  ein  Hoch  gebracht, 
Alten  oder  neuen. 

Breiter  wallet  nun  der  Strom, 

Mit  vermehrten  Wellen. 

Leben  jetzt  im  hohen  Ton 

Redliche  Gesellen! 

Die  sich  mit  gedrängter  Kraft 

Brav  zusammen  stellen 

In  des  Glückes  Sonnenschein 

Und  in  schlimmen  Fällen. 


S04  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Wie  wir  nun  zusammen  sind, 

Sind  zusammen  viele. 

Wohl  gelingen  denn,  wie  uns, 

Andern  ihre  Spiele! 

Von  der  Quelle  bis  ans  Meer 

Mahlet  manche  Mühle, 

Und  das  Wohl  der  ganzen  Welt 

Ists,  worauf  ich  ziele. 

GENERALBEICHTE 

LASSET  heut  im  edeln  Kreis 
Meine  Warnung  gelten! 
Nehmt  die  ernste  Stimmung  wahr, 
Denn  sie  kommt  so  selten. 
Manches  habt  ihr  vorgenommen, 
Manches  ist  euch  schlecht  bekommen, 
Und  ich  muß  euch  schelten. 

Reue  soll  man  doch  einmal 

In  der  Welt  empfinden! 

So  bekennt,  vertraut  und  fromm. 

Eure  größten  Sünden! 

Aus  des  Irrtums  falschen  Weiten 

Sammelt  euch  und  sucht  beizeiten 

Euch  zurecht  zu  finden. 

Ja,  wir  haben,  seis  bekannt, 
Wachend  oft  geträumet. 
Nicht  geleert  das  frische  Glas, 
Wenn  der  Wein  geschäumet; 
Manche  rasche  Schäferstunde, 
Flüchtgen  Kuß  vom  lieben  Munde 
Haben  wir  versäumet. 

Still  und  maulfaul  saßen  wir. 
Wenn  Philister  schwätzten, 
Über  göttlichen  Gesang 
Ihr  Geklatsche  schätzten. 


17 98/180.5  WEIMAR  505 

Wegen  glücklicher  Momente, 
Deren  man  sich  rühmen  könnte, 
Uns  zur  Rede  setzten. 

Willst  du  Absolution 

Deinen  Treuen  geben, 

Wollen  wir  nach  deinem  Wink 

Unabläßlich  streben. 

Uns  vom  Halben  zu  entwöhnen 

Und  im  Ganzen,  Guten,  Schönen 

Resolut  zu  leben. 

Den  Philistern  allzumal 
Wohlgemut  zu  schnippen, 
Jenen  Perlenschaum  des  Weins 
Nicht  nur  flach  zu  nippen, 
Nicht  zu  liebeln  leis  mit  Augen, 
Sondern  fest  uns  anzusaugen 
An  geliebte  Lippen. 

SCHÄFERS  KLAGELIED 

DA  droben  auf  jenem  Berge, 
Da  steh  ich  tausendmal, 
An  meinem  Stabe  gebogen, 
Und  schaue  hinab  in  das  Tal. 

Dann  folg  ich  der  weidenden  Herde, 
Mein  Hündchen  bewahret  mir  sie. 
Ich  bin  herunter  gekommen 
Und  weiß  doch  selber  nicht  wie. 

Da  stehet  von  schönen  Blumen 
Die  ganze  Wiese  so  voll. 
Ich  breche  sie,  ohne  zu  wissen, 
Wem  ich  sie  geben  soll. 

Und  Regen,  Sturm  und  Gewitter 
Verpaß  ich  unter  dem  Baum. 
Die  Türe  dort  bleibet  verschlossen; 
Denn  alles  ist  leider  ein  Traum. 


So6  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Es  stehet  ein  Regenbogen 
Wohl  über  jenem  Haus! 
Sie  aber  ist  weggezogen, 
Und  weit  in  das  Land  hinaus. 

Hinaus  in  das  Land  und  weiter, 
Vielleicht  gar  über  die  See. 
Vorüber,  ihr  Schafe,  vorüber! 
Dem  Schäfer  ist  gar  so  weh. 

DIE  GLÜCKLICHEN  GATTEN 

NACH  diesem  Frühlingsregen, 
Den  wir  so  warm  erfleht, 
Weibchen,  o  sieh  den  Segen, 
Der  unsre  Flur  durchweht. 
Nur  in  der  blauen  Trübe 
Verliert  sich  fern  der  Blick; 
Hier  wandelt  noch  die  Liebe, 
Hier  hauset  noch  das  Glück. 

Das  Pärchen  weißer  Tauben, 
Du  siehst,  es  fliegt  dorthin, 
Wo  um  besonnte  Lauben 
Gefüllte  Veilchen  blühn. 
Dort  banden  \vir  zusammen 
Den  allerersten  Strauß, 
Dort  schlugen  unsre  Flammen 
Zuerst  gewaltig  a.us. 

Doch  als  uns  vom  Altare, 
Nach  dem  beliebten  Ja, 
Mit  manchem  jungen  Paare 
Der  Pfarrer  eilen  sah, 
Da  gingen  andre  Sonnen 
Und  andre  Monden  auf. 
Da  war  die  Welt  gewonnen 
Für  unsern  Lebenslauf. 

Und  hunderttausend  Siegel 
Bekräftigten  den  Bund, 


1 798/1805   WEIMAR  507 

Im  Wäldchen  auf  dem  Hügel, 
Im  Busch  am  Wiesengrund, 
In  Höhlen,  im  Gemäuer 
Auf  des  Geklüftes  Höh, 
Und  Amor  trug  das  Feuer 
Selbst  in  das  Rohr  am  See. 

Wir  wandelten  zufrieden, 
Wir  glaubten  uns  zu  zwei; 
Doch  anders  wars  beschieden. 
Und  sieh!  wir  waren  drei; 
Und  vier  und  fünf  und  sechse, 
Sie  saßen  um  den  Topf, 
Und  nun  sind  die  Gewächse 
Fast  all  uns  übern  Kopf. 

Und  dort  in  schöner  Fläche 
Das  neugebaute  Haus 
Umschlingen  Pappelbäche, 
So  freundlich  siehts  heraus. 
Wer  schaffte  wohl  da  drüben 
Sich  diesen  frohen  Sitz? 
Ist  es,  mit  seiner  Lieben, 
Nicht  unser  braver  Fritz? 

Und  wo  im  Felsengrunde 
Der  eingeklemmte  Fluß 
Sich  schäumend  aus  dem  Schlünde 
Auf  Räder  stürzen  muß: 
Man  spricht  von  Müllerinnen, 
Und  wie  so  schön  sie  sind; 
Doch  immer  wird  gewinnen 
Dort  hinten  unser  Kind. 

Doch  wo  das  Grün  so  dichte 
Um  Kirch  und  Rasen  steht. 
Da,  wo  die  alte  Fichte 
Allein  zum  Himmel  weht. 
Da  ruhet  unsrer  Toten 
Frühzeitiges  Geschick 


5o8  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Und  leitet  von  dem  Boden 
Zum  Himmel  unsern  Blick. 

Es  blitzen  Waffenwogen 
Den  Hügel  schwankend  ab; 
Das  Heer,  es  kommt  gezogen, 
Das  uns  den  Frieden  gab. 
Wer  mit  der  Ehrenbinde 
Bewegt  sich  stolz  voraus? 
Er  gleichet  unserm  Kinde! 
So  kommt  der  Karl  nach  Haus. 

Den  liebsten  aller  Gäste 
Bewirtet  nun  die  Braut; 
Sie  wird  am  Friedensfeste 
Dem  Treuen  angetraut. 
Und  zu  den  Feiertänzen 
Drängt  jeder  sich  herbei; 
Da  schmückest  du  mit  Kränzen 
Der  jüngsten  Kinder  drei. 

Bei  Flöten  und  Schalmeien 
Erneuert  sich  die  Zeit, 
Da  wir  uns  einst  im  Reihen 
Als  junges  Paar  gefreut; 
Und  in  des  Jahres  Laufe, 
Die  Wonne  fühl  ich  schon! 
Begleiten  wir  zur  Taufe 
Den  Enkel  imd  den  Sohn. 

WELTSEELE 

VERTEILET  euch  nach  allen  Regionen 
Von  diesem  heiigen  Schmaus! 
Begeistert  reißt  euch  durch  die  nächsten  Zonen 
Ins  All  und  fiillt  es  aus! 

Schon  schwebet  ihr  in  ungemeßnen  Fernen 
Den  selgen  Göttertraum, 
Und  leuchtet  neu,  gesellig,  unter  Sternen 
Im  lichtbesäten  Raum. 


i 


1798/1805  WEIMAR  509 

Dann  treibt  ihr  euch,  gewaltige  Kometen, 
Ins  Weit  und  Weitr  hinan; 
Das  Labyrinth  der  Sonnen  und  Planeten 
Durchschneidet  eure  Bahn. 

Ihr  greifet  rasch  nach  ungeformten  Erden 
Und  wirket  schöpfrisch  jung, 
Daß  sie  belebt  und  stets  belebter  werden 
Im  abgemeßnen  Schwung. 

Und  kreisend  fuhrt  ihr  in  bewegten  Lüften 
Den  wandelbaren  Flor 

Und  schreibt  dem  Stein  in  allen  seinen  Grüften 
Die  festen  Formen  vor. 

Nun  alles  sich  mit  göttlichem  Erkühnen 
Zu  übertreffen  strebt; 

Das  Wasser  will,  das  unfruchtbare,  grünen. 
Und  jedes  Stäubchen  lebt. 

Und  so  verdrängt  mit  liebevollem  Streiten 
Der  feuchten  Qualme  Nacht; 
Nun  glühen  schon  des  Paradieses  Weiten 
In  überbimter  Pracht. 

Wie  regt  sich  bald,  ein  holdes  Licht  zu  schauen, 
Gestaltenreiche  Schar, 
Und  ihr  erstaunt,  auf  den  beglückten  Auen, 
Nun  als  das  erste  Paar, 

Und  bald  verlischt  ein  unbegrenztes  Streben 
Im  selgen  Wechselblick. 

Und  so  empfangt  mit  Dank  das  schönste  Leben 
Vom  All  ins  All  zurück. 

BERGSCHLOSS 

DA  droben  auf  jenem  Berge, 
Da  steht  ein  altes  Schloß, 
Wo  hinter  Toren  und  Türen 
Sonst  lauerten  Ritter  und  Roß. 


5IO  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Verbrannt  sind  Türen  und  Tore, 
Und  überall  ist  es  so  still; 
Das  alte  verfallne  Gemäuer 
Durchklettr  ich,  wie  ich  nur  will. 

Hierneben  lag  ein  Keller, 
So  voll  von  köstlichem  Wein; 
Nun  steiget  nicht  mehr  mit  Krügen 
Die  Kellnerin  heiter  hinein, 

Sie  setzt  den  Gästen  im  Saale 

Nicht  mehr  die  Becher  umher, 

Sie  füllt  zum  Heiligen  Mahle 

Dem  Pfaffen  das  Fläschchen  nicht  mehr. 

Sie  reicht  dem  lüsternen  Knappen 
Nicht  mehr  auf  dem  Gange  den  Trank, 
Und  nimmt  für  flüchtige  Gabe 
Nicht  mehr  den  flüchtigen  Dank. 

Denn  alle  Balken  und  Decken, 
Sie  sind  schon  lange  verbrannt. 
Und  Trepp  und  Gang  und  Kapelle 
In  Schutt  und  Trümmer  verwandt. 

Doch  als  mit  Zither  und  Flasche 
Nach  diesen  felsigen  Höhn 
Ich  an  dem  heitersten  Tage 
Mein  Liebchen  steigen  gesehn, 

Da  drängte  sich  frohes  Behagen 
Hervor  aus  verödeter  Ruh, 
Da  gings  wie  in  alten  Tagen 
Recht  feierlich  wieder  zu. 

Als  wären  für  stattliche  Gäste 
Die  weitesten  Räume  bereit. 
Als  kam  ein  Pärchen  gegangen 
Aus  jener  tüchtigen  Zeit. 

Als  stund  in  seiner  Kapelle 
Der  würdige  Pfaöe  schon  da 
Und  fragte:  Wollt  ihr  einander? 
Wir  aber  lächelten:  Ja! 


1 798/1805  WEIMAR  5" 

Und  tief  bewegten  Gesänge 
Des  Herzens  innigsten  Grund, 
Es  zeugte,  statt  der  Menge, 
Der  Echo  schallender  Mund. 

Und  als  sich  gegen  den  Abend 
Im  stillen  alles  verlor, 
Da  blickte  die  glühende  Sonne 
Zum  schroffen  Gipfel  empor. 

Und  Knapp  und  Kellnerin  glänzen 
Als  Herren  weit  und  breit; 
Sie  nimmt  sich  zum  Kredenzen 
Und  er  zum  Danke  sich  Zeit. 


NACHTGESANG 

Ogib,  vom  weichen  Pfühle, 
Träumend,  ein  halb  Gehör! 
Bei  meinem  Saitenspiele 
Schlafe!  was  willst  du  mehr? 

Bei  meinem  Saitenspiele 
Segnet  der  Sterne  Heer 
Die  ewigen  Gefühle; 
Schlafe!  was  willst  du  mehr? 

Die  ewigen  Gefühle 
Heben  mich,  hoch  und  hehr, 
Aus  irdischem  Gewühle; 
Schlafe!  was  willst  du  mehr? 

Vom  irdischen  Gewühle 
Trennst  du  mich  nur  zu  sehr, 
Bannst  mich  in  diese  Kühle; 
Schlafe!  was  willst  du  mehr? 

Bannst  mich  in  diese  Kühle, 
Gibst  nur  im  Traum  Gehör. 
Ach,  auf  dem  weichen  Pfühle 
Schlafe!  was  willst  du  mehr? 


512  LYRISCHE  DICHTUNGEN 


w 


SEHNSUCHT 
AS  zieht  mir  das  Herz  so? 


Was  zieht  mich  hinaus? 
Und  windet  und  schraubt  mich 
Aus  Zimmer  und  Haus? 
Wie  dort  sich  die  Wolken 
Um  Felsen  verziehn! 
Da  möcht  ich  hinüber, 
Da  möcht  ich  wohl  hin! 

Nun  wiegt  sich  der  Raben 

Geselliger  Flug; 

Ich  mische  mich  drunter 

Und  folge  dem  Zug. 

Und  Berg  und  Gemäuer 

Umfittichen  wir; 

Sie  weilet  da  drunten, 

Ich  spähe  nach  ihr. 

Da  kommt  sie  und  wandelt; 
Ich  eile  sobald, 
Ein  singender  Vogel, 
Zum  buschigen  Wald. 
Sie  weilet  und  horchet 
Und  lächelt  mit  sich: 
"Er  singet  so  lieblich 
Und  singt  es  an  mich." 

Die  scheidende  Sonne 
Verguldet  die  Höhn; 
Die  sinnende  Schöne, 
Sie  läßt  es  geschehn. 
Sie  wandelt  am  Bache 
Die  Wiesen  entlang, 
Und  finster  und  finstrer 
Umschlingt  sich  der  Gang; 

Auf  einmal  erschein  ich, 
Ein  blinkender  Stern. 
"Was  glänzet  da  droben, 


1798/1805  WEIMAR  513 

So  nah  und  so  fem?" 
Und  hast  du  mit  Staunen 
Das  Leuchten  erblickt, 
Ich  lieg  dir  zu  Füßen, 
Da  bin  ich  beglückt! 

DES  NEUEN  ALCINOUS 
erster  Teil 

LASST  mir  den  Phäaker  schlafen! 
Jenen  alten,  jenen  fernen; 
Freunde!  kommt  in  meinen  Garten, 
Den  gefühlten,  den  modernen. 

Freilich  nicht  vom  besten  Boden; 
Doch  in  allerschönster  Richtung, 
Nächst  an  Jena,  gegen  Weimar, 
Recht  im  Mittelpunkt  der  Dichtung. 

Will  dort  unter  Freundes -Zweigen 
Und  geschenkten  Bäiunen  leben; 
Doch  zu  ganz  gewisser  Rührung 
Steht  der  Kirchhof  gleich  daneben. 

Doch  weil  hinten  mancher  Toter 
An  der  dumpfen  Mauer  ranzet, 
Hat  daher  der  gute  Loder 
Lebensbäume  hingepflanzet. 

Der  nicht  gerne  Geld  vergeudet. 
Der  Direktor  Graf  von  Soden, 
Schickt  für  jedes  Stück  mir  vierzehn 
Stämmchen  aus  dem  besten  Boden. 

Ob  sie  alle,  wie  in  Franken 
Und  bei  Sickler,  frisch  bekleiben, 
Wird  sich  finden;  wenn  sie  dorren, 
Werd  ich  neue  Stücke  schreiben. 

Hier  an  diesem  Wege  stehen 
Die  Verleger  miteinander. 
Diese  Mispeln  pflanzte  Kummer, 
Diesen  Korkbaum  schickte  Sander. 

GOETHE  XIV  33. 


514  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Sollte  dieser  Kork  nun  freilich 
Wie  der  Geber  sich  verdicken, 
Mögen  Enkel  und  Urenkel 
Mit  dem  Weg  zur  Seite  rücken. 

Pflaumen  hat  er  mir  versprochen, 
Der  scharmante,  kleine  Merkel^ 
Und  nun  sind  es  Schlehen  worden; 
Meine  Kinder,  sind  sie  Ferkel? 

Hahnebutten  wählte  Bötfger 
Aus  Pomonens  bvmten  Kindern; 
Leidlich  schmecken  sie  durchfrostet, 
Doch  sie  kratzen  mich  im  H 


Kammerkätzchen,  Kammermäuschen 
Stifteten  die  schönsten  Nelken; 
Wieland  gab  ein  Lorbeerreischen, 
Doch  es  will  bei  mir  verwelken. 

Haselstauden  will  die  Gräfin 
Mir  ein  ganzes  Wäldchen  schenken, 
Und  sooft  ich  Nüsse  knacke, 
Will  ich  an  die  Freundin  denken. 

Auch  aus  Tiefurts  Zauberhainen 
Seh  ich  manches  Reis  mit  Freuden; 
Doch  um  einen  Lilienstengel 
Will  man  mich  besonders  neiden. 

Und  so  pflanzten  sie,  mit  Eifer, 
Nah'  und  ferne,  gute  Seelen, 
Und  der  Magistrat  zu  Naumburg 
Ließ  es  nicht  an  Kirschen  fehlen. 

Zweiter  Teil 

Wenn  ich  nun  im  holden  Haine 
Unter  meinen  Freunden  wandle, 
Mögens  meine  Feinde  haben, 
Die  als  Kegel  ich  behandle. 


1 798/1805  WEIMAR  515 

Kommt  nur  her,  geliebte  Freunde! 
Laßt  uns  schleudern,  laßt  uns  schieben; 
Seht  nur,  es  ist  jedem  Kegel 
Auch  sein  Name  angeschrieben. 

Da  den  Procerem  der  Mitte 
Tauft  ich  mir  zu  Vater  Kanten^ 
Hüben  Fichte^  drüben  Schelling, 
Als  die  nächsten  Geistsverwandten. 

Brown  steht  hinten  in  dem  Grunde, 
Röschlaub  aber  trutzt  mir  vorne, 
Und  besonders  diesen  letzten 
Hab  ich  immer  auf  dem  Korne. 

Dann  die  Schlegels  und  die  Tiecke 
Sollen  durcheinander  stürzen 
Und  durch  ihre  Purzelbäume 
Mir  die  lange  Zeit  verkürzen. 

Schieb  ich  Holz,  da  wird  gejubelt: 
Dreie!  Fünfe!  Sechse!  Neune! 
Immer  stürz  ich  meine  Feinde 
Über  ihre  steifen  Beine. 

Aber  weil  durch  ihren  Frevel 
Sie  verdienen  ewige  Hölle, 
Setzt  sie  der  behende  Junge 
Immer  wieder  auf  die  Stelle. 

Und  so  stürzen  meine  Feinde 
Durch  des  Arms  Geschick  und  Stärke; 
Danun  nannt  ich  auch  die  Kugeln 
Nach  den  Namen  meiner  Werke. 

Eine  heißt  die  Sucht  zu  glänzen', 
Und  dann  steigt  es  immer  höher: 
Das  Jahrhundert  nannt  ich  eine, 
Eine  den  Hyperboreer. 

Wie  Alcinous  behaglich 
Könnt  ich  mich  auf  Rosen  betten; 
Doch  das  Weimarsche  Theater 
Schickt  mir  mit  dem  Westwind  Kletten. 


Si6  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Und  das  Unkraut  wächst  behende, 
Und  aus  jedem  Distelkopfe 
Seh  ich  eine  Maske  blicken, 
Gräßlich  mit  behaartem  Schöpfe. 

Merkel  schickt  mir  einen  Boten, 
Doch  ich  schweige,  laß  ihn  warten; 
Weiter  geh  ich,  und  er  folgt  mir 
Gar  bescheiden  durch  den  Garten. 

Und  wie  jener  römsche  König 
Sich  den  höchsten  Mohn  erlesen, 
Also  fahr  ich  mit  der  Gerte 
In  das  schnöde  Distelwesen. 

Alle  die  verdammten  Köpfe, 
Die  so  frech  herüber  gucken, 
Sollen  gleich  vor  meinen  Hieben 
Fallen  oder  niederducken. 

Und  der  Bote  merkt  verwimdert 
Mein  geheinmisvolles  Wandeln, 
Geht  und  meldets  meinem  Freunde; 
Dieser  fängt  nun  an  zu  handeln. 

Und  so  glänzen  wir,  mit  Ehren, 
Unter  allen  kritschen  Mächten, 
Die  Verständgen,  die  Bescheidnen 
Und  besonders  die  Gerechten. 


TEUTSCHER  MERKUR,  NEUNTES  STUCK,  1802 

TNS  Teufels  Namen, 

XWas  sind  denn  eure  Namen! 

Im  Teutschen  Merkur 

Ist  keine  Spur 

Von  Vater  Wieland, 

Der  steht  auf  dem  blauen  Einband; 

Und  unter  dem  verfluchtesten  Reim 

Der  Name  Gleim. 


1 798/1805   WEIMAR  517 

[Erklärung  der  XIV.  Tafel  des  Werkes: 
Naturhistorisches  Bilder-  und  Lese-Buch  oder  Erzählungen  übei 
Gegenstände  aus  den  drei  Reichen  der  Natur.   Von  Jakob  Glatz.' 

NICHT  auf  der  grünen  Erde  nur 
Am  heitren  Sonnenschein 
Erfreut  sich  mannigfach  Natur; 
Auch  in  die  Felsen  tief  hinein 
Zeigt  sich  der  Form  imd  Farbe  Spur. 
Hier  dürfens  kleine  Muster  sein: 
Vernimm,  wie  Quarz  und  Kalk  so  rein 
In  Säulen  sich  und  Tafeln  häutt; 
Ein  schmales,  schön  gefärbtes  Band 
Harmonisch  durch  Aen  Jaspis  läuft; 
Ein  millionenkörnger  Sand 
Als  Fels  durch  alle  Lande  reicht: 
Ein  Pflanzenhaiifeji  sich  verkohlt, 
Verschüttet,  in  der  Erde  zeigt. 
Vernimm,  daß,  wer  auf  Berge  steigt, 
Meermuscheln  oft  herunterholt. 

Und  femer  wird  man  dir  erklären. 

Wie  du  dereinst  nach  manchem  sauem  Schritt 

Erfahren  wirst,  wohin  Granit, 

Porphyr  imd  Marmor  auf  der  Welt  gehören. 

Hast  du  an  Stein  und  Felsen  dann  genug, 
Gleich  werden  dich  Metalle  reizen, 
Nach  denen  Ktmst,  Gewalt  imd  Trug 
Mit  unverwandter  Mühe  geizen. 

Du  findest  in  der  Erde  Schoß 

Mit  stillen,  ahndungsvollen  Freuden 

Das  Gold  als  ein  metallisch  Moos 

Sich  wachsend  von  dem  Steine  scheiden, 

IDas  Silber  als  Gesträuch,  das  Kupfer  als  Gestrippe. 
Bewundrung  stammelt  deine  Lippe, 
Und  neue  Schätze  werden  bloß. 

Wenn  geometrisch  Zinn  und  Blei 
In  Fläch  und  Ecke  sich  beschränken, 


5 1 8  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

So  wird  das  Elsen  oft  sich  frei 

In  Zapfen  tropfend  niedersenken. 

Aus  des  Zinnobers  roter  Kraft 

Läuft  dir  Merkur  in  Kügelchen  entgegen, 

Und  was  der  Zink^  der  Kobalt  Gutes  schafft, 

Das  weiß  dein  Lehrer  auszulegen. 

Was  nun  auf  diesen  Blättern  fehlt, 
Das  zeigt  er  dir  im  Kabinette; 
An  seiner  Hand  besuche  dann  die  Stätte, 
Wo  unverhüllt  sich  uns  Natur  verhehlt, 
Die  dich  und  jeden  Stein  beseelt. 

VORSCHLAG  ZUR  GÜTE 

Er 

DU  gefällst  mir  so  wohl,  mein  liebes  Kind^ 
Und  wie  wir  hier  beieinander  sind, 
So  möcht  ich  nimmer  scheiden; 
Da  war  es  wohl  uns  beiden. 

Sie 
Gefall  ich  dir,  so  gefällst  du  mir; 
Du  sagst  es  frei,  ich  sag  es  dir. 
Eh  nun!  heiraten  wir  eben! 
Das  übrige  wird  sich  geben. 

Er 
Heiraten,  Engel,  ist  wunderlich  Wort; 
Ich  meint,  da  müßt  ich  gleich  wieder  fort. 

Sic 
Was  ists  denn  so  großes  Leiden? 
Gehts  nicht,  so  lassen  wir  uns  scheiden. 

DER  NARR  EPILOGIERT 

MANCH  gutes  Werk  hab  ich  verriebt, 
Ihr  nehmt  das  Lob,  das  kränkt  mich  nicht: 
Ich  denke,  daß  sich  in  der  Welt 
Alles  bald  wieder  ins  Gleiche  stellt. 
Lobt  man  mich,  weil  ich  was  Dummes  gemacht, 


1 798/1805  WEIMAR  519 

Dann  mir  das  Herz  im  Leibe  lacht; 
Schilt  man  mich,  weil  ich  was  Gutes  getan, 
So  nehm  ichs  ganz  gemächlich  an. 
Schlägt  mich  ein  Mächtiger,  daß  es  schmerzt, 
So  tu  ich,  als  hätt  er  nur  gescherzt; 
Doch  ist  es  einer  von  meinesgleichen, 
Den  weiß  ich  wacker  durchzustreichen. 
Hebt  mich  das  Glück,  so  bin  ich  froh 
Und  sing  in  dulci  Jubilo; 
Senkt  sich  das  Rad  und  quetscht  mich  nieder, 
So  denk  ich:  Nun,  es  hebt  sich  wieder! 
Grille  nicht  bei  Sommersonnenschein, 
Daß  es  wieder  werde  Winter  sein; 
Und  kommen  die  weißen  Flockenscharen, 
Da  Heb  ich  mir  das  Schlittenfahren. 
Ich  mag  mich  stellen,  wie  ich  will, 
Die  Sonne  hält  mir  doch  nicht  still. 
Und  immer  gehts  den  alten  Gang 
Das  liebe  lange  Leben  lang. 
Der  Knecht  so  wie  der  Herr  vom  Haus 
Ziehen  sich  täglich  an  und  aus; 
Sie  mögen  sich  hoch  oder  niedrig  messen: 
Müssen  wachen,  schlafen,  trinken  und  essen. 
Drum  trag  ich  über  nichts  ein  Leid. 
Machts  wie  der  Narr,  so  seid  ihr  gescheit! 

B.  UND  K. 

IHR  möchtet  gern  den  brüderlichen  Schlegeln 
Mit  Beil  imd  Axt  den  Reisekahn  zerstücken; 
Allein  sie  lassen  euch  schon  weit  im  Rücken 
Und  ziehen  fort  mit  Rudern  und  mit  Segeln. 

Zwar  war  es  billig,  diesen  frechen  Vögeln 
Auch  tüchtig  was  am  bimten  Zeug  zu  flicken; 
Doch  euch,  ihr  Musenlosen,  wirds  nicht  glücken, 
Drum,  Flegel,  bleibt  zu  Haus  mit  euem  Flegeln, 

Dramatisch  tanzt  ein  Esel  vor  Apollen 

Und  reichet  traulich  seinem  Frexmd  die  Pratschen, 
Dem  Häßlichzerrer  besserer  Naturen. 


520  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Der  liefert  Hexen,  jener  liefert  Huren, 
Und  beide  hören  sich  aus  einer  vollen 
Parterre -Kloak  bejubeln  und  beklatschen. 

Schämt  euch,  ihr  Bessern,  auch  mit  einzupatschen! 
Die  Müh,  uns  zu  vernichten,  ist  verloren: 
Wir  kommen  neugebärend,  neugeboren. 

TRIUMVIRAT 

DEN  Gott  der  Pfuschereien  zu  begrüßen, 
Kam  Leichtfuß,  Genius  der  Zeit,  gegangen: 
Laß  uns,  mein  Teurer,  aneinander  hangen 
Wie  Klett  und  Kleid;  Pedanten  mags  verdrießen. 

Wir  ruhen  bald  von  unsrer  einzgen,  süßen, 
Planlosen  Arbeit  mit  genährten  Wangen; 
Wenn  Dilettanten- Skizzen  einzig  prangen, 
Sei  ernste  Kirnst  ins  Fabelreich  verwiesen. 

An  Schmierern  fehlts  nicht,  nicht  am  Lob  der  Schmierer; 
Der  rühmt  sich  selbst,  den  preiset  ein  Verleger, 
Der  Gleiche  den,  der  Pöbel  einen  Dritten; 

Doch  fehlt  im  ganzen  noch  ein  Rädelsführer, 
Ein  unermüdlich  unverschämter  Präger 
Papierner  Münze.  Da  trat  in  die  Mitten 

Herr  Überall,  in  Tag-  und  Monatstempeln 

Den  Lumpenbrei  der  Pfuscher  und  der  Schmierer 
Mit  B  f  r  zum  Meisterwerk  zu  stempeln. 

K.  UND  B. 

DIE  gründlichsten  Schuften,  die  Gott  erschuf, 
Und  zwar  zu  eigenstem  Beruf, 
Auf  Deutschlands  angebauten  Gauen 
Die  Menge  zu  kirren  und  zu  krauen. 
Indem  sie  sagten  Tag  für  Tag, 
Was  jeder  gerne  hören  mag: 
Der  Nachbar  sei  brav  in  vielen  Stücken , 
Doch  könne  man  ihm  auch  am  Zeuge  flicken. 


1 798/1805   WEIMAR  521 

Vor  ihnen  beiden,  wie  vor  Gott, 

Sei  alle  Menschen-Tugend  Spott, 

Ja,  wenn  mans  recht  nimmt,  gar  ein  Laster. 

Das  machte  die  Herren  nicht  verhaßter; 

Denn  Hinz  und  Kunz,  an  ihren  Stellen, 

Glaubten  doch  auch  was  vorzustellen. 


GOTTHEITEN  zwei,  ich  weiß  nicht,  wie  sie  heißen- 
Denn  ich  bin  nicht  des  Heidentums  beflissen — 
Von  böser  Art  Gottheiten,  wie  wir  wissen, 
Die  gern,  was  Gott  und  Mensch  verband,  zerreißen. 

Die  beiden  also  sagten:  Laß  versuchen, 
Wie  wir  dem  deutschen  Volk  ein  Unheil  bringen; 
Sie  mögen  reden,  schwätzen,  tanzen,  singen, 
Sie  müssen  sich  und  all  ihr  Tun  verfluchen. 

Sie  lachten  gräßlich,  fingen  an  zu  formen 
Schlecht  schlechten  Teig,  und  kneteten  beflissen. 

Figuren  warens;  aber  wie , 

Das  sind  nun  Bött'ger,  Kotz'bue,  die  Enormen! 


WELCH  ein  verehrendes  Gedränge 
Schließt  den  verfluchten  Bött'ger  ein? 
Natürlich!  Jeder  aus  der  Menge 
Wünscht  sehnlich,  so  ein  Mann  zu  sein. 
Er  sah  fürwahr  die  Welt  genau; 
Doch  schaut'  er  sie  aus  seinen  Augen: 
Deswegen  konnte  Mann  und  Frau 
Auch  nicht  das  Allermindste  taugen. 
Daß  er  aus  Bosheit  schaden  mag, 
Das  ist  ihm  wohl  erlaubt; 
Doch  fluch  ich,  daß  er  Tag  für  Tag 
Auch  noch  zu  nützen  glaubt. 


522  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

TROST  IN  TRÄNEN 

WIE  kommts,  daß  du  so  traurig  bist, 
Da  alles  froh  erscheint? 
Man  sieht  dirs  an  den  Augen  an, 
Gewiß,  du  hast  geweint. 

"Und  hab  ich  einsam  auch  geweint, 
So  ists  mein  eigner  Schmerz, 
Und  Tränen  fließen  gar  so  süß, 
Erleichtem  mir  das  Herz." 

Die  frohen  Freunde  laden  dich, 
O  komm  an  unsre  Brust! 
Und  was  du  auch  verloren  hast. 
Vertraue  den  Verlust. 

"Ihr  lärmt  und  rauscht  und  ahnet  nicht, 
Was  mich,  den  Armen,  quält. 
Ach  nein,  verloren  hab  ichs  nicht, 
So  sehr  es  mir  auch  fehlt." 

So  rafie  denn  dich  eilig  auf. 
Du  bist  ein  junges  Blut. 
In  deinen  Jahren  hat  man  Kraft 
Und  zum  Erwerben  Mut. 

"Ach  nein,  erwerben  kann  ichs  nicht, 
Es  steht  mir  gar  zu  fern. 
Es  weilt  so  hoch,  es  blinkt  so  schön. 
Wie  droben  jener  Stern." 

Die  Sterne,  die  begehrt  man  nicht, 
Man  freut  sich  ihrer  Pracht, 
Und  mit  Entzücken  blickt  man  auf 
In  jeder  heitern  Nacht. 

"Und  mit  Entzücken  blick  ich  auf, 
So  manchen  lieben  Tag; 
Verweinen  laßt  die  Nächte  mich, 
Solang  ich  weinen  mag." 


1798/1805  WEIMAR  523 

MAGISCHES  NETZ 

Zum  ersten  Mai  1803 

SIND  es  Kämpfe,  die  ich  sehe? 
Sind  es  Spiele?  sind  es  Wunder? 
Fünf  der  allerliebsten  Knaben 
Gegen  fünf  Geschwister  streitend, 
Regelmäßig,  taktbeständig. 
Einer  Zaubrin  zu  Gebote. 

Blanke  Spieße  führen  jene, 
Diese  flechten  schnelle  Fäden, 
Daß  man  glaubt,  in  ihren  Schlingen 
Werde  sich  das  Eisen  fangen. 
Bald  gefangen  sind  die  Spieße; 
Doch  im  leichten  Kriegestanze 
Stiehlt  sich  einer  nach  dem  andern 
Aus  der  zarten  Schleifenreihe, 
Die  sogleich  den  Freien  haschet, 
Wenn  sie  den  Gebundnen  löset. 

So  mit  Ringen,  Streiten,  Siegen, 
Wechselflucht  und  Wiederkehren 
Wird  ein  künstlich  Netz  geflochten, 
Himmelsflocken  gleich  an  Weiße, 
Die,  vom  Lichten  in  das  Dichte, 
Musterhafte  Streifen  ziehen. 
Wie  es  Farben  kaum  vermöchten. 

Wer  empfängt  nun  der  Gewänder 
Allerwünschtes?  Wen  begünstigt 
Unsre  vielgeliebte  Herrin 
Als  den  anerkannten  Diener? 
Mich  beglückt  des  holden  Loses 
Treu  und  still  ersehntes  Zeichen! 
Und  ich  fühle  mich  umschlungen, 
Ihrer  Dienerschaft  gewidmet. 

Doch  indem  ich  so  behaglich. 
Aufgeschmückt  stolzierend  wandle, 


524  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Sieh!  da  knüpfen  jene  Losen, 
Ohne  Streit,  geheim  geschäftig, 
Andre  Netze,  fein  und  feiner, 
Dämmrungsfäden,  Mondenblicke, 
Nachtviolenduft  verwebend. 

Eh  wir  nur  das  Netz  bemerken, 
Ist  ein  Glücklicher  gefangen, 
Den  wir  andern,  den  wir  alle. 
Segnend  und  beneidend,  grüßen. 

DIE  PEST  AN  HERRN  POSSELT 

MAN  sucht  mich  von  des  Meeres  Strand, 
Von  Landes  Grenze  zu  entfernen, 
Doch  hoflf  ich  sehr,  dein  Vaterland 
Soll  mich  auch  nächstens  kennen  lernen. 
Der  Bettler  jammert  wie  der  Fürst, 
Die  Kleinen  heulen  wie  die  Großen; 
Doch  hofif  ich,  daß  du  mich  so  höchlich  preisen  wirst 
Wie  meine  Vettern,  die  Franzosen, 

BIST  du  Gemündisches  Silber,  so  fürchte  den  schwarzen 
Probierstein; 
Kotzebue,  ach,  warum  hast  du  nach  Rom  dich  verfügt? 

ULTIMATUM 

WOLLT',  ich  lebte  noch  hundert  Jahr 
Gesund  und  froh,  wie  ich  meistens  war; 
Merkel,  Spazier  und  Kotzebue 
Hätten  auch  so  lange  keine  Ruh, 
Müßtens  kollegialisch  treiben, 
Täglich  ein  Pasquill  auf  mich  schreiben. 
Das  würde  nun  fürs  nächste  Leben 
Sechsunddreißigtausend  fünfhundert  geben, 
Und  bei  der  schönen  runden  Zahl 
Rechn  ich  die  Schalttag  nicht  einmal. 
Gern  würd  ich  dieses  holde  Wesen 
Zu  Abend  auf  dem  Nachtstuhl  lesen, 


1798/1805  WEIMAR  525 

Grobe  Worte,  gelind  Papier 
Nach  Würdigkeit  bedienen  hier; 
Dann  legt  ich  ruhig,  nach  wie  vor. 
In  Gottes  Namen  mich  aufs  Ohr. 

AN  DEN  PRINZEN  VON  LIGNE 

IN  früher  Zeit,  noch  froh  und  frei. 
Spielt  ich  und  sang  zu  meinen  Spielen; 
Dann  fings  im  Herzen  an  zu  wühlen, 
Ich  fragte  nicht,  ob  ich  ein  Dichter  sei: 
Doch,  daß  ich  liebte,  könnt  ich  fühlen. 

So  bleibt  es  noch.     Ich  weiß  nicht  viel 
Von  eignen  dichterischen  Taten. 
Man  sagt,  mir  sei  als  Ernst  und  Spiel 
Nicht  übel  dies  und  Jens  geraten. 
Gern  hör  ich  Gutes  von  der  Kunst, 
Der  ich  mein  Leben  treu  geblieben; 
Doch  mich  in  meinen  Fretmden  lieben. 
Dies,  edler  Mann,  dies  ist  die  schönste  Gunst. 

WIE   du   Vertrauen  erweckst,  o  Genius    anderer 
Welten? 
Mehr  als  der  irdische  Mann  zeige  dich  selig  und  reich! 

JOHANNIS-FEUER  sei  unverwehrt, 
Die  Freude  nie  verloren! 
Besen  werden  immer  stumpf  gekehrt 
Und  Jungen  immer  geboren. 

SIEH!  das  gebändigte  Volk  der  lichtscheu  muckenden 
Kauze 
Kutscht  nun  selber,  o  Kant,  über  die  Wolken  dich  hin! 

CAMPES  LAOKOON 

SCHON  vom  Gifte  durchwühlt,  gebissen  und  wieder- 
gebissen, 
Vater  und  Sohn!  O!  Weh!  —  Heilige  Plastik!  o  weh! 


526  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

OFFEN  zeigt    sich   die  Pforte  des   bergabstürzenden 
Waldstroms; 
Doch  in  die  offene  kehrt  nimmer  das  Wasser  zurück. — 
Ja  doch!   es  kehret  zurück!    Schon  steigt  es  in  Wolken- 
gebild auf, 
Ziehet,  erhöhtesten  Schwungs,  morgengerötet  hinan. 

[An  die  Herzogin  Anna  Amalia] 

FREUNDLICH  empfange  das  Wort  laut  ausgesprochner 
Verehrung, 
Das  die  Parze  mir  fast  schnitt  von  den  Lippen  hinweg. 


HALTE  das  Bild  der  Würdigen  fest!    Wie  leuchtende 
Sterne 
Teilte  sie  aus  die  Natur  durch  den  unendlichen  Raum. 


WER  ist  der  glücklichste  Mensch?  Der  fremdes  Ver- 
dienst zu  empfinden 
Weiß  und  am  fremden  Genuß  sich  wie  am  eignen  zu 

freun. 


/'lELES  gibt  uns  die  Zeit  und  nimmts  auch,  aber  der 
/  Bessern 

Holde  Neigimg,  sie  sei  ewig  dir  froher  Genuß. 


WAS  auch  als  Wahrheit  oder  Fabel 
In  tausend  Büchern  dir  erscheint, 
Das  alles  ist  ein  Turm  zu  Babel, 
Wenn  es  die  Liebe  nicht  vereint. 


WAR  nicht  das  Auge  sonnenhaft. 
Die  Sonne  könnt  es  nie  erblicken; 
Lag  nicht  in  uns  des  Gottes  eigne  Kraft, 
Wie  könnt  uns  Göttliches  entzücken? 


1798/1805  WEIMAR  527 

PERFEKTIBILITÄT 

MÖCHT  ich  doch  wohl  besser  sein 
Als  ich  bin!     Was  war  es! 
Soll  ich  aber  besser  sein, 
Als  du  bist,  so  lehr  es! 

Möcht  ich  auch  wohl  besser  sein 
Als  so  mancher  andre! 
"Willst  du  besser  sein  als  wir, 
Lieber  Freund,  so  wandre.'' 


i8o6-i8io  WEIMAR 


GOETHE  XIV  34 


IST  erst  eine  dunkle  Kammer  gemacht 
Und  finstrer  als  ägyptische  Nacht, 
Durch  ein  gar  winzig  Löchlein  bringe 
Den  feinsten  Sonnenstrahl  herein, 
Daß  er  dann  durch  das  Prisma  dringe, 
Alsbald  wird  er  gebrochen  sein. 
Aufgedröselt,  bei  meiner  Ehr, 
Siehst  ihn,  als  ob  er  ein  Stricklein  war. 
Siebenfarbig  statt  weiß,  oval  statt  rund. 
Glaube  hierbei  des  Lehrers  Mimd: 
Was  sich  hier  auseinander  reckt. 
Das  hat  alles  in  Einem  gesteckt. 
Und  dir,  wie  manchem  seit  himdert  Jahr', 
Wächst  darüber  kein  graues  Haar. 


VANITAS!  VANITATUM  VANITAS! 

ICH  hab  mein  Sach  auf  Nichts  gestellt. 
Juchhe! 
Drum  ists  so  wohl  mir  in  der  Welt. 

Juchhe! 
Und  wer  will  mein  Kamerade  sein, 
Der  stoße  mit  an,  der  stimme  mit  ein 
Bei  dieser  Neige  Wein. 

Ich  stellt  mein  Sach  auf  Geld  und  Gut. 

Juchhe! 
Darüber  verlor  ich  Freud  und  Mut. 

O  weh! 
Die  Münze  rollte  hier  imd  dort, 
Und  hascht  ich  sie  an  einem  Ort, 
Am  andern  war  sie  fort. 

Auf  Weiber  stellt  ich  nun  mein  Sach. 

Juchhe! 
Daher  mir  kam  viel  Ungemach. 

O  weh! 
Die  Falsche  sucht'  sich  ein  ander  Teil, 
Die  Treue  macht'  mir  Langeweil, 
Die  Beste  war  nicht  feil. 


532  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Ich  stellt  mein  Sach  auf  Reis'  und  Fahrt. 

Juchhe! 
Und  ließ  meine  Vaterlandesart. 

O  weh! 
Und  mir  behagt'  es  nirgends  recht, 
Die  Kost  war  fremd,  das  Bett  war  schlecht, 
Niemand  verstand  mich  recht. 

Ich  stellt  mein  Sach  auf  Ruhm  und  Ehr. 

Juchhe! 
Und  sieh!  gleich  hatt  ein  andrer  mehr. 

O  weh! 
Wie  ich  mich  hatt  hervorgetan. 
Da  sahen  die  Leute  scheel  mich  an, 
Hatte  keinem  recht  getan. 

Ich  setzt  mein  Sach  auf  Kampf  und  Krieg. 

Juchhe! 
Und  ims  gelang  so  mancher  Sieg. 

Juchhe! 
Wir  zogen  in  Feindes  Land  hinein. 
Dem  Freunde  sollts  nicht  viel  besser  sein, 
Und  ich  verlor  ein  Bein. 

Nun  hab  ich  mein  Sach  auf  Nichts  gestellt. 

Juchhe! 
Und  mein  gehört  die  ganze  Welt. 

Juchhe! 
Zu  Ende  geht  nun  Sang  und  Schmaus. 
Nur  trinkt  mir  alle  Neigen  aus; 
Die  letzte  muß  heraus! 


AN  SILVIEN 

WENN  die  Zweige  Wurzeln  schlagen, 
Wachsen,  grünen,  Früchte  tragen, 
Möchtest  du  dem  Angedenken 
Deines  Freunds  ein  Lächeln  schenken. 


i8o6/io  WEIMAR  533 

UND  wenn  sie  zuletzt  erfrieren, 
Weil  man  sie  nicht  wohl  verschanzet, 
Will  sichs  alsobald  gebühren, 
Daß  man  hofifend  neue  pflanzet. 

[In  das  Stammbuch  von  Esther  Stock,  geb.  Moritz] 

WAS  uns  Günstiges  in  fernen  Landen 
Auch  begegnet,  sehnt,  bei  allem  Glück, 
Doch  das  Herz  zu  seiner  Jugend  Banden, 
Zu  dem  heimschen  Kreise  sich  zurück. 


AN  TISCHBEIN 

ERST  ein  Deutscher,  dann  ein  Schweizer, 
Dann  ein  Berg-  und  Tal -Durchkreuzer, 
Römer,  dann  Napolitaner, 
Philosoph  und  doch  kein  Aner, 
Dichter,  fruchtbar  allerorten. 
Bald  mit  Zeichen,  bald  mit  Worten, 
Immer  bleibest  du  derselbe 
Von  der  Tiber  bis  zur  Elbe! 
Glück  und  Heil!  so  wie  du  strebest, 
Leben!  so  wie  du  belebest, 
So  genieße!  laß  genießen! 
Bis  die  Nymphen  dich  begrüßen, 
Die  sich  in  der  Ilme  baden 
Und  aufs  freundlichste  dich  laden. 

AN  DENSELBEN 

ALLES,  was  du  denkst  und  sinnest. 
Was  du  der  Natur  und  Kunst 
Mit  Empfindung  abgewinnest. 
Drückst  du  aus  durch  Musengunst. 
Farbe  her!    Dein  Meisterwille 
Schafft  ein  sichtliches  Gedicht; 
Doch,  bescheiden  in  der  Fülle, 
Du  verschmähst  die  Worte  nicht. 


534  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

AN  DENSELBEN 

FÜR  das  Gute,  für  das  Schöne, 
Das  du  uns  so  reichlich  sendest, 
Möge  jegliche  Kamöne 
Freude  spenden,  wie  du  spendest! 
Möge  dir,  im  nordschen  Trüben, 
Aller  Guten,  aller  Lieben 
Reine  Neigung  so  bereiten, 
Überall  dich  zu  begleiten 
Mit  des  Umgangs  trauter  Wonne, 
Wie  im  heitern  Land  der  Sonne! 

AN  DENSELBEN 

STATT  den  Menschen  in  den  Tieren 
Zu  verlieren, 
Findest  du  ihn  klar  darin 
Und  belebst,  als  wahrer  Dichter, 
Schaf-  vmd  säuisches  Gelichter 
Mit  Gesinnung  wie  mit  Sinn. 
Auch  der  Esel  kommt  zu  Ehren 
Und  yaht  uns  weise  Lehren. 
Das,  was  BuflFon  nur  begonnen. 
Kommt  durch  Tischbein  an  die  Sonnen. 

ZELEBRITÄT 

AUF  großen  und  auf  kleinen  Brücken 
Stehn  vielgestaltete  Nepomuken 
Von  Erz,  von  Holz,  gemalt,  von  Stein, 
Kolossisch  hoch  imd  puppisch  klein. 
Jeder  hat  seine  Andacht  davor. 
Weil  Nepomuk  auf  der  Brücken  das  Leben  verlor. 

Ist  einer  nun  mit  Kopf  und  Ohren 
Einmal  zum  Heiligen  auserkoren, 
Oder  hat  er  unter  Henkershänden 
Erbärmlich  müssen  das  Leben  enden, 
So  ist  er  zur  Qualität  gelangt. 
Daß  er  gar  weit  im  Bilde  prangt. 


i8o6/io  WEIMAR  535 

Kupferstich,  Holzschnitt  tun  sich  eilen, 

Ihn  allen  Welten  mitzuteilen; 

Und  jede  Gestalt  wird  wohl  empfangen, 

Tut  sie  mit  seinem  Namen  prangen: 

Wie  es  denn  auch  dem  Herren  Christ 

Nicht  ein  Haar  besser  geworden  ist. 

Merkwürdig  für  die  Menschenkinder, 

Halb  Heiliger,  halb  armer  Sünder, 

Sehn  wir  Herrn  Werther  auch  allda 

Prangen  in  Holzschnitts- Gloria. 

Das  zeugt  erst  recht  von  seinem  Werte, 

Daß  mit  erbärmlicher  Gebärde 

Er  wird  auf  jedem  Jahrmarkt  prangen, 

Wird  in  Wirtsstuben  aufgehangen. 

Jeder  kann  mit  dem  Stocke  zeigen: 

"Gleich  wird  die  Kugel  das  Hirn  erreichen!" 

Und  jeder  spricht  bei  Bier  und  Brot: 

"Gott  seis  gedankt,  nicht  wir  sind  tot!" 

[Mephistopheles  spricht] 

SO  war  es  schon  in  meinen  Tagen: 
Ein  jeder  schlägt  gar  hoch  sich  an. 
Und  würdest  du  sie  alle  fragen  — 
Das  Wichtigste  hat  Er  getan. 

Es  lastet  schwer  die  schwere  Last, 
Die  selber  du  zu  tragen  hast; 
Und  ob  ein  andrer  ächzt  und  keicht, 
Für  dich  ist  seine  Bürde  leicht. 
* 

WAS  Völker  sterbend  hinterlassen, 
Das  ist  ein  bleicher  Schattenschlag: 
Du  siehst  ihn  wohl;  ihn  zu  erfassen. 
Läufst  du  vergebHch  Nacht  und  Tag. 

* 

WER  immerdar  nach  Schatten  greift, 
Kann  stets  nur  leere  Luft  erlangen: 
Wer  Schatten  stets  auf  Schatten  häuft, 
Sieht  endlich  sich  von  düstrer  Nacht  umfangen. 


536  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

[In  ein  Stammbuch] 

ZU  unsres  Lebens  oft  getrübten  Tagen 
Gab  uns  ein  Gott  Ersatz  für  alle  Plagen, 
Daß  unser  Blick  sich  himmelwärts  gewöhne, 
Den  Sonnenschein,  die  Tugend  imd  das  Schöne. 

DER  Zeitungsleser  sei  gesegnet, 
Der  liest,  was  heute  mir  begegnet. 

METAMORPHOSE  DER  TIERE 

WAGT  ihr,  also  bereitet,  die  letzte  Stufe  zu  steigen 
Dieses  Gipfels,  so  reicht  mir  die  Hand  und  öfihet 

den  freien 
Blick  ins  weite  Feld  der  Natur.  Sie  spendet  die  reichen 
Lebensgaben  umher,  die  Göttin;  aber  empfindet 
Keine  Sorge  wie  sterbliche  Fraun  um  ihrer  Gebomen 
Sichere  Nahrung;  ihr  ziemet  es  nicht:  denn  zwiefach 

bestimmte 
Sie  das  höchste  Gesetz,  beschränkte  jegliches  Leben, 
Gab  ihm  gemeßnes  Bedürfnis,  und  ungemessene  Gaben, 
Leicht  zu  finden,  streute  sie  aus,  und  ruhig  begünstigt 
Sie  das  muntre  Bemühn  der  vielfach  bedürftigen  Kinder; 
Unerzogen  schwärmen  sie  fort  nach  ihrer  Bestimmung. 

Zweck  sein  selbst  ist  jegliches  Tier,  vollkommen  ent- 
springt es 
Aus  dem  Schoß  der  Natur  und  zeugt  vollkommene  Kinder. 
Alle  Glieder  bilden  sich  aus  nach  ewgen  Gesetzen, 
Und  die  seltenste  Form  bewahrt  im  geheimen  das  Urbild. 
So  ist  jeglicher  Mund  geschickt,  die  Speise  zu  fassen. 
Welche  dem  Körper  gebührt;  es  sei  nun  schwächlich  und 

zahnlos 
Oder  mächtig  der  Kiefer  gezähnt,  in  jeglichem  Falle 
Fördert  ein  schicklich  Organ  den  übrigen  Gliedern  die 

Nahrung. 
Auch  bewegt  sich  jeglicher  Fuß,  der  lange,  der  kurze. 
Ganz  harmonisch  zum  Sinne  des  Tiers  und  seinem  Be- 

dürfiiis. 


i8o6/io  WEIMAR  537 

So  ist  jedem  der  Kinder  die  volle,  reine  Gesundheit 
Von  der  Mutter  bestimmt:  denn  alle  lebendigen  Glieder 
Widersprechen  sich  nie  und  wirken  aUe  zum  Leben. 
Also  bestimmt  die  Gestalt  die  Lebensweise  des  Tieres, 
Und  die  Weise,  zu  leben,  sie  wirkt  auf  alle  Gestalten 
Mächtig  zurück.  So  zeigt  sich  fest  die  geordnete  Bildimg, 
Welche  zum  Wechsel  sich  neigt  durch  äußerlich  wirkende 

Wesen. 
Doch  im  Innern  befindet  die  Kraft  der  edlern  Geschöpfe 
Sich  im  heiligen  Kreise  lebendiger  Bildung  beschlossen. 
Diese  Grenzen  erweitert  kein  Gott,  es  ehrt  die  Natur  sie: 
Denn  nvir  also  beschränkt  war  je  das  Vollkommene  möglich. 

Doch  im  Inneren  scheint  ein  Geist  gewaltig  zu  ringen, 
Wie  er  durchbräche  den  Kreis,  Willkür  zu  schaffen  den 

Formen 
Wie  dem  Wollen;  doch  was  er  beginnt,  beginnt  er  ver- 
gebens. 
Denn  zwar  drängt  er  sich  vor  zu  diesen  Gliedern,  zu  jenen. 
Stattet  mächtig  sie  aus,  jedoch  schon  darben  dagegen 
Andere  Glieder,  die  Last  des  Übergewichtes  vernichtet 
Alle  Schöne  der  Form  imd  alle  reine  Bewegung. 
Siehst  du  also  dem  einen  Geschöpf  besonderen  Vorzug 
Irgend  gegönnt,  so  frage  nur  gleich:  wo  leidet  es  etwa 
Mangel  anderswo?  tmd  suche  mit  forschendem  Geiste; 
Finden  wirst  du  sogleich  zu  aller  Bildung  den  Schlüssel. 
Denn  so  hat  kein  Tier,  dem  sämtliche  Zähne  den  obem 
Kiefer  umzäunen,  ein  Hörn  auf  seiner  Stime  getragen. 
Und  daher  ist  den  Löwen  gehörnt  der  ewigen  Mutter 
Ganz  unmöglich  zu  bilden,  und  böte  sie  alle  Gewalt  auf; 
Denn  sie  hat  nicht  Masse  genug,  die  Reihen  der  Zähne 
Völlig  zu  pflanzen  und  auch  Geweih  und  Hörner  zu  treiben. 

Dieser  schöne  Begriff"  von  Macht  imd  Schranken,  von 

Willkür 

Und  Gesetz,  von  Freiheit  und  Maß,  von  beweglicher  Ord- 
nung, 

Vorzug  und  Mangel  erfreue  dich  hoch;  die  heilige  Muse 

Bringt  harmonisch  ihn  dir,  mit  sanftem  Zwange  belehrend. 


538  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Keinen  hohem  Begriff  erringt  der  sittliche  Denker, 
Keinen  der  tätige  Mann,    der  dichtende  Künstler;    der 

Herrscher, 
Der  verdient,  es  zu  sein,  erfreut  nur  durch  ihn  sich  der 

Krone.  i 

Freue  dich,  höchstes  Geschöpf  der  Natur,  du  fühlest  dich 

fähig, 
Ihr  den  höchsten  Gedanken,  zu  dem  sie  schaffend  sich 

aufschwang, 
Nachzudenken.  Hier  stehe  nun  still  und  wende  die  Blicke 
Rückwärts,  prüfe,  vergleiche,  imd  nimm  vom  Munde  der 

Muse, 
Daß  du  schauest,  nicht  schwärmst,   die   liebliche,   volle 

Gewißheit. 

ZUEIGNUNG  AN  PRINZESS  KAROLINE  VON 
SACHSEN-WEIMAR 

DIESES  Stammbuch,  wie  mans  auch  nimmt, 
War  eigentlich  für  'nen  Studenten  bestimmt, 
Der  es  auf  akademischen  Pfaden 
Sich  wählen  sollt  aus  Hertels  Laden; 
Wie  ichs  denn  auch — nicht  guter  Ding' — 
Aus  der  hübschen  Frau  Hertel  Hand  empfing. 

Denn  guter  Dinge  könnt  ich  nicht  sein; 
Wir  waren  schon  in  den  Oktober  hinein. 
Und  preußische  Scharen  allzumal 
Zertrappelten  uns  Berg  vmd  Tal, 
Und  damals  war  noch  nichts  verloren. 

Ich  kraute  mir  aber  hinter  den  Ohren 
Und  setzte  mich,  wie  vor  alter  Zeit, 
Wieder  an  des  Tales  Wirklichkeit 
Und  wollte  kühnlich  mich  erdreisten, 
An  der  Saale  das  auch  zu  leisten. 
Was  an  der  Tepel  ich  trieb  im  Spiel; 
Das  war  nun  freilich  gar  nicht  viel. 

Kaum  hatt  ich  aber  ein  paar  Pappeln  zeichnet 
Und  ein  paar  Berge  mir  angeeignet, 


i8o6/io  WEIMAR  539 

Da  brach  die  Sündflut  auf  einmal  herein; 
Es  hätte  nicht  können  schlimmer  sein. 

Wie  aber  nach  dem  Jüngsten  Gericht, 

Was  vorgeschah,  auch  wieder  geschieht, 

Und  über  Wolken  und  unter  Flammen 

Freunde  und  Feinde  kommen  zusammen. 

Und  überall  im  höchsten  Chor 

Jeder  Heilige,  nach  wie  vor. 

Hebt  und  trägt  sein  Marterinstrument, 

Woran  man  ihn  allein  erkennt: 

So  werd  ich  auch  wohl  in  Abrahams  Schoß 

Bleistift  und  Pinsel  nicht  werden  los; 

Bei  vieler  Lust  und  wenig  Gaben 

Werd  ich  doch  nur  gekritzelt  haben. 

Doch  sei  dem  allen,  wie  es  sei: 
Kein  Blatt  im  Buch  ist  überlei, 
Auf  beiden  Seiten  manche  beschrieben 
Und  so  nichts  weiter  übrig  blieben, 
Als  daß  du  glaubst,  das  viele  Papier, 
Was  auch  drauf  stehe,  gehöre  dir. 
Und  dazu  hast  du  Fug  und  Macht, 
Immer  war  dein  dabei  gedacht. 
So  steht  dein  Bild  auch  klar  und  glatt 
In  unserm  Herzen  auf  jedem  Blatt. 
Und  Liebe  bleibt  in  unserm  Gewinn 
Ein  beßrer  Zeichner,  als  ich  bin. 

[In  das  Stammbucli  von  Karoline  Bardua] 

WIE  wir  dich  in  unsrer  Mitte 
Üben  dein  Talent  gesehn, 
Mögest  du  mit  gleichem  Schritte 
Immer,  immer  vorwärts  gehn. 

AN  URANIUS 

HIMMEL,  ach!  so  raft  man  aus, 
Wenns  uns  schlecht  geworden. 
Himmel  will  verdienen  sich 
Pfafif-  und  Ritterorden. 


540  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Ihren  Himmel  finden  viel' 
In  dem  Weltgetümmel; 
Jugend  unter  Tanz  und  Spiel 
Meint,  sie  sei  im  Himmel. 

Doch  von  dem  Klaviere  tönt 
Ganz  ein  andrer  Himmel; 
Alle  Morgen  grüß  ich  ihn, 
Nickt  er  mir  vom  Schimmel. 

MÄCHTIGES  ÜBERRASCHEN 

EIN  Strom  entrauscht  umwölktem  Felsensaale, 
Dem  Ozean  sich  eilig  zu  verbinden; 
Was  auch  sich  spiegeln  mag  von  Grimd  zu  Gründen, 
Er  wandelt  unaufhaltsam  fort  zu  Tale. 

Dämonisch  aber  stürzt  mit  einem  Male— 

Ihr  folgen  Berg  und  Wald  in  Wirbelwinden— 

Sich  Oreas,  Behagen  dort  zu  finden, 

Und  hemmt  den  Lauf,  begrenzt  die  weite  Schale. 

Die  Welle  sprüht,  und  staunt  zurück  und  weichet, 
Und  schwillt  bergan,  sich  immer  selbst  zu  trinken; 
Gehemmt  ist  nun  zum  Vater  hin  das  Streben. 

Sie  schwankt  und  ruht,  zum  See  zurückgedeichet; 
Gestirne,  spiegelnd  sich,  beschaun  das  Blinken 
Des  Wellenschlags  am  Fels,  ein  neues  Leben. 

FREUNDLICHES  BEGEGNEN 

IM  weiten  Mantel  bis  ans  Kinn  verhüllet, 
Ging  ich  den  Felsenweg,  den  schroffen,  grauen, 
Hernieder  dann  zu  winterhaften  Auen, 
Unruhgen  Sinns,  zur  nahen  Flucht  gewillet. 

Auf  einmal  schien  der  neue  Tag  enthüllet: 
Ein  Mädchen  kam,  ein  Himmel  anzuschauen. 
So  musterhaft  wie  jene  lieben  Frauen 
Der  Dichterwelt,  Mein  Sehnen  war  gestillet. 


i8o6/io  WEIMAR  541 

Doch  wandt  ich  mich  hinweg  und  ließ  sie  gehen 
Und  wickelte  mich  enger  in  die  Falten, 
Als  wollt  ich  trutzend  in  mir  selbst  erwarmen; 

Und  folgt  ihr  doch.  Sie  stand.  Da  wars  geschehen! 
In  meiner  Hülle  könnt  ich  mich  nicht  halten, 
Die  warf  ich  weg,  sie  lag  in  meinen  Armen. 

KURZ  UND  GUT 

SOLLT  ich  mich  denn  so  ganz  an  sie  gewöhnen? 
Das  wäre  mir  zuletzt  doch  reine  Plage. 
Darum  versuch  ichs  gleich  am  heutgen  Tage 
Und  nahe  nicht  dem  vielgewohnten  Schönen. 

Wie  aber  mag  ich  dich,  mein  Herz,  versöhnen, 
Daß  ich  im  wichtgen  Fall  dich  nicht  befrage? 
Wohlan!  Komm  her!  Wir  äußern  tmsre  Klage 
In  liebevollen,  traurig  heitern  Tönen. 

Siehst  du,  es  geht!  Des  Dichters  Wink  gewärtig, 
Melodisch  klingt  die  durchgespielte  Leier, 
Ein  Liebesopfer  traulich  darzubringen. 

Du  denkst  es  kaum,  und  sieh!  das  Lied  ist  fertig; 
Allein  was  mm: — Ich  dächt,  im  ersten  Feuer 
Wir  eilten  hin,  es  vor  ihr  selbst  zu  singen. 

REISEZEHRUNG 

ENTWÖHNEN  sollt  ich  mich  vom  Glanz  der  Blicke, 
Mein  Leben  sollten  sie  nicht  mehr  verschönen. 
Was  man  Geschick  nennt,  läßt  sich  nicht  versöhnen, 
Ich  weiß  wohl,  und  trat  bestürzt  zurücke. 

Nun  wüßt  ich  auch  von  keinem  weitem  Glücke; 
Gleich  fing  ich  an,  von  diesen  und  von  jenen 
Notwendgen  Dingen  sonst  mich  zu  entwöhnen: 
Notwendig  schien  mir  nichts  als  ihre  Blicke. 

Des  Weines  Glut,  den  Vielgenuß  der  Speisen, 
Bequemlichkeit  und  Schlaf  imd  sonstge  Gaben, 
Gesellschaft  wies  ich  wtg,  daß  wenig  bliebe. 


542  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

So  kann  ich  ruhig  durch  die  Welt  nun  reisen: 
Was  ich  bedarf,  ist  überall  zu  haben, 
Und  Unentbehrlichs  bring  ich  mit — die  Liebe. 

ABSCHIED 

WAR  unersättlich  nach  viel  tausend  Küssen, 
Und  mußt  mit  Einem  Kuß  am  Ende  scheiden. 
Nach  herber  Trenmmg  tiefempfundnem  Leiden 
War  mir  das  Ufer,  dem  ich  mich  entrissen, 

Mit  Wohnungen,  mit  Bergen,  Hügeln,  Flüssen, 
Solang  ichs  deutlich  sah,  ein  Schatz  der  Freuden; 
Zuletzt  im  Blauen  blieb  ein  Augenweiden 
An  fernentwichnen,  lichten  Finsternissen. 

Und  endlich,  als  das  Meer  den  Blick  umgrenzte, 
Fiel  mir  zurück  ins  Herz  mein  heiß  Verlangen; 
Ich  suchte  mein  Verlornes  gar  verdrossen. 

Da  war  es  gleich,  als  ob  der  Himmel  glänzte; 

Mir  schien,  als  wäre  nichts  mir,  nichts  entgangen. 
Als  hätt  ich  alles,  was  ich  je  genossen. 

DIE  LIEBENDE  SCHREIBT 

EIN  Blick  von  deinen  Augen  in  die  meinen, 
Ein  Kuß  von  deinem  Mund  auf  meinem  Munde, 
Wer  davon  hat,  wie  ich,  gewisse  Kunde, 
Mag  dem  was  anders  wohl  erfreulich  scheinen? 

Entfernt  von  dir,  entfremdet  von  den  Meinen, 
Führ  ich  stets  die  Gedanken  in  die  Runde, 
Und  immer  treflfen  sie  auf  jene  Sttmde, 
Die  einzige;  da  fang  ich  an,  zu  weinen. 

Die  Träne  trocknet  wieder  unversehens: 
Er  liebt  ja,  denk  ich,  her  in  diese  Stille, 
Und  solltest  du  nicht  in  die  Feme  reichen? 

Vernimm  das  Lispeln  dieses  Liebewehens; 
Mein  einzig  Glück  auf  Erden  ist  dein  Wille, 
Dein  freundlicher,  zu  mir;  gib  mir  ein  Zeichen! 


i8o6/io  WEIMAR  543 

DIE  LIEBENDE  ABERMALS 

WARUM  ich  wieder  zum  Papier  mich  wende? 
Das  mußt  du,  Liebster,  so  bestimmt  nicht  fragen: 
Denn  eigentlich  hab  ich  dir  nichts  zu  sagen; 
Doch  kommts  zuletzt  in  deine  lieben  Hände. 

Weil  ich  nicht  kommen  kann,  soll,  was  ich  sende, 
Mein  imgeteiltes  Herz  hinüber  tragen 
Mit  Wonnen,  Hoffnungen,  Entzücken,  Plagen: 
Das  alles  hat  nicht  Anfang,  hat  nicht  Ende. 

Ich  mag  vom  heutgen  Tag  dir  nichts  vertrauen. 
Wie  sich  im  Sinnen,  Wünschen,  Wähnen,  Wollen 
Mein  treues  Herz  zu  dir  hinüber  wendet: 

So  stand  ich  einst  vor  dir,  dich  anzuschauen, 
Und  sagte  nichts.  Was  hätt  ich  sagen  sollen? 
Mein  ganzes  Wesen  war  in  sich  vollendet. 

SIE  KANN  NICHT  ENDEN 

WENN  ich  nun  gleich  das  weiße  Blatt  dir  schickte. 
Anstatt  daß  ichs  mit  Lettern  erst  beschreibe, 
Ausfülltest  dus  vielleicht  zum  Zeitvertreibe 
Und  sendetests  an  mich,  die  Hochbeglückte. 

Wenn  ich  den  blauen  Umschlag  dann  erblickte. 
Neugierig  schnell,  wie  es  geziemt  dem  Weibe, 
Riss'  ich  ihn  auf,  daß  nichts  verborgen  bleibe; 
Da  las  ich,  was  mich  mündlich  sonst  entzückte: 

Lieb  Kindl  Mein  artig  Herzt  Mein  einzig  Wesen! 
Wie  du  so  freundlich  meine  Sehnsucht  stilltest 
Mit  süßem  Wort  und  mich  so  ganz  verwöhntest. 

Sogar  dein  Lispeln  glaubt  ich  auch  zu  lesen, 
Womit  du  liebend  meine  Seele  fülltest 
Und  mich  auf  ewig  vor  mir  selbst  verschöntest. 


544  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

WARNUNG 

AM  Jüngsten  Tag,  wenn  die  Posaunen  schallen 
Und  alles  aus  ist  mit  dem  Erdeleben, 
Sind  wir  verpflichtet,  Rechenschaft  zu  geben 
Von  jedem  Wort,  das  unnütz  uns  entfallen. 

Wie  wirds  nun  werden  mit  den  Worten  allen, 
In  welchen  ich  so  liebevoll  mein  Streben 
Um  deine  Gunst  dir  an  den  Tag  gegeben. 
Wenn  diese  bloß  an  deinem  Ohr  verhallen? 

Darum  bedenk,  o  Liebchen!  dein  Gewissen, 
Bedenk  im  Ernst,  wie  lange  du  gezaudert. 
Daß  nicht  der  Welt  solch  Leiden  widerfahre. 

Werd  ich  berechnen  imd  entschuldgen  müssen, 
Was  alles  imnütz  ich  vor  dir  geplaudert. 
So  wird  der  Jüngste  Tag  zum  vollen  Jahre. 


EPOCHE 

IT  Flammenschrift  war  innigst  eingeschrieben 
Petrarcas  Brust  vor  allen  andern  Tagen 
Karfreitag.    Ebenso,  ich  darfs  wohl  sagen, 
Ist  mir  Advent  von  Achtzehnhundertsieben. 


m: 


Ich  fing  nicht  an,  ich  fuhr  nur  fort,  zu  lieben 
Sie,  die  ich  früh  im  Herzen  schon  getragen, 
Dann  wieder  weislich  aus  dem  Sinn  geschlagen, 
Der  ich  nun  wieder  bin  ans  Herz  getrieben. 

Petrarcas  Liebe,  die  unendlich  hohe, 

War  leider  unbelohnt  und  gar  zu  traurig, 
Ein  Herzensweh,  ein  ewiger  Karfreitag; 

Doch  stets  erscheine,  fort  und  fort,  die  frohe, 
Süß,  tmter  Palmenjubel,  wonneschaurig. 
Der  Herrin  Ankunft  mir,  ein  ewger  Maitag. 


i8o6/io  WEIMAR  545 

DAS  MÄDCHEN  SPRICHT 

DU  siehst  so  ernst,  Geliebter!    Deinem  Bilde 
Von  Marmor  hier  möcht  ich  dich  wohl  vergleichen: 
Wie  dieses  gibst  du  mir  kein  Lebenszeichen; 
Mit  dir  verglichen  zeigt  der  Stein  sich  milde. 

Der  Feind  verbirgt  sich  hinter  seinem  Schilde, 
Der  Freund  soll  offen  seine  Stirn  uns  reichen. 
Ich  suche  dich,  du  suchst  mir  zu  entweichen; 
Doch  halte  stand,  wie  dieses  Kunstgebilde. 

An  wen  von  beiden  soll  ich  nun  mich  wenden? 
Sollt  ich  von  beiden  Kälte  leiden  müssen, 
Da  dieser  tot  und  du  lebendig  heißest? 

Kurz,  um  der  Worte  mehr  nicht  zu  verschwenden, 
So  will  ich  diesen  Stein  so  lange  küssen, 
Bis  eifersüchtig  du  mich  ihm  entreißest. 

NEMESIS 

WENN  dmrch   das  Volk  die  grimme  Seuche  wütet, 
Soll  man  vorsichtig  die  Geseilschaft  lassen. 
Auch  hab  ich  oft  mit  Zaudern  und  Verpassen 
Vor  manchen  Influenzen  mich  gehütet. 

Jnd  obgleich  Amor  öfters  mich  begütet, 
Mocht  ich  zuletzt  mich  nicht  mit  ihm  befassen. 
So  ging  mirs  auch  mit  jenen  Lacrimassen, 
Als  vier-  und  dreifach  reimend  sie  gebrütet. 

•^un  aber  folgt  die  Strafe  dem  Verächter, 
Als  wenn  die  Schlangenfackel  der  Erinnen 
Von  Berg  zu  Tal,  von  Land  zu  Meer  ihn  triebe. 

ch  höre  wohl  der  Genien  Gelächter; 
Doch  trennet  mich  von  jeglichem  Besinnen 
Sonetten wut  und  Raserei  der  Liebe. 

lOETHE  XIV  35. 


546  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Die  Zweifelnden 

IHR  liebt,  und  schreibt  Sonette!    Weh  der  Grille! 
Die  Kraft  des  Herzens,  sich  zu  offenbaren, 
Soll  Reime  suchen,  sie  zusammenpaaren; 
Ihr  Kinder,  glaubt,  ohnmächtig  bleibt  der  Wille. 

Ganz  ungebunden  spricht  des  Herzens  Fülle 

Sich  kaum  noch  aus:  sie  mag  sich  gern  bewahren. 
Dann  Stürmen  gleich  durch  alle  Saiten  fahren, 
Dann  wieder  senken  sich  zu  Nacht  imd  Stille. 

Was  quält  ihr  euch  und  uns,  auf  jähem  Stege 

Nur  Schritt  vor  Schritt  den  lästgen  Stein  zu  wälzen 
Der  rückwärts  lastet,  immer  neu  zu  mühen? 

Die  Liebenden 
Im  Gegenteil,  wir  sind  auf  rechtem  Wege! 
Das  AUerstarrste  freudig  aufzuschmelzen. 
Muß  Liebesfeuer  allgewaltig  glühen. 


Mädchen 

ICH  zweifle  doch  am  Ernst  verschränkter  Zeilen! 
Zwar  lausch  ich  gern  bei  deinen  Silbespielen; 
Allein  mir  scheint,  was  Herzen  redlich  fühlen. 
Mein  süßer  Freund,  das  soll  man  nicht  befeilen. 

Der  Dichter  pflegt,  um  nicht  zu  langeweilen. 
Sein  Innerstes  von  Grund  aus  umzuwühlen; 
Doch  seine  Wunden  weiß  er  auszukühlen. 
Mit  Zauberwort  die  tiefsten  auszuheilen. 

Dichter 
Schau,  Liebchen,  hin!    Wie  gehts  dem  Feuerwerker? 
Drauf  ausgelernt,  wie  man  nach  Maßen  wettert, 
Irrgänglich-klug  miniert  er  seine  Grüfte; 

Allein  die  Macht  des  Elements  ist  stärker. 

Und  eh  er  sichs  versieht,  geht  er  zerschmettert 
Mit  allen  seinen  Künsten  in  die  Lüfte. 


i8o6/io  WEIMAR  547 

WACHSTUM 

ALS  kleines  artges  Kind  nach  Feld  und  Auen 
Sprangst  du  mit  mir,  so  manchen  Frühlingsmorgen. 
"Für  solch  ein  Töchterchen,  mit  holden  Sorgen, 
Möcht  ich  als  Vater  segnend  Häuser  bauen!" 

Und  als  du  anfingst,  in  die  Welt  zu  schauen. 
War  deine  Freude  häusliches  Besorgen. 
"Solch  eine  Schwester!  und  ich  war  geborgen: 
Wie  könnt  ich  ihr,  ach!  wie  sie  mir  vertrauen!" 

Nun  kann  den  schönen  Wachstum  nichts  beschränken; 
Ich  fühl  im  Herzen  heißes  Liebetoben. 
Umfass  ich  sie,  die  Schmerzen  zu  beschwichtgen? 

Doch  ach!  nun  muß  ich  dich  als  Fürstin  denken: 
Du  stehst  so  schrofif  vor  mir  emporgehoben; 
Ich  beuge  mich  vor  deinem  Blick,  dem  flüchtgen. 


WIRKUNG  IN  DIE  FERNE 

DIE  Königin  steht  im  hohen  Saal, 
Da  brennen  der  Kerzen  so  viele; 
Sie  spricht  zum  Pagen:    "Du  läufst  einmal 
Und  holst  mir  den  Beutel  zum  Spiele. 
Er  liegt  zur  Hand 
Auf  meines  Tisches  Rand." 
Der  Knabe,  der  eilt  so  behende, 
War  bald  an  des  Schlosses  Ende. 

Und  neben  der  Königin  schlürft  zur  Stund 

Sorbett  die  schönste  der  Frauen. 

Da  brach  ihr  die  Tasse  so  hart  an  dem  Mund, 

Es  war  ein  Greuel  zu  schauen. 

Verlegenheit!    Scham! 

Ums  Prachtkleid  ists  getan! 

Sie  eilt  und  fliegt  so  behende 

Entgegen  des  Schlosses  Ende. 


548  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Der  Knabe  zurück  zu  laufen  kam 

Entgegen  der  Schönen  in  Schmerzen; 

Es  wüßt  es  niemand,  doch  beide  zusamm, 

Sie  hegten  einander  im  Herzen; 

Und  o  des  Glücks, 

Des  günstgen  Geschicks! 

Sie  warfen  mit  Brust  sich  zu  Brüsten 

Und  herzten  und  küßten  nach  Lüsten. 

Doch  endlich  beide  sich  reißen  los; 

Sie  eilt  in  ihre  Gemächer, 

Der  Page  drängt  sich  zur  Königin  groß 

Durch  alle  die  Degen  und  Fächer. 

Die  Fürstin  entdeckt 

Das  Westchen  befleckt: 

Für  sie  war  nichts  unerreichbar, 

Der  Köngin  von  Saba  vergleichbar. 

Und  sie  die  Hofmeisterin  rufen  läßt: 
"Wir  kamen  doch  neulich  zu  Streite, 
Und  Ihr  behauptetet  steif  und  fest. 
Nicht  reiche  der  Geist  in  die  Weite; 
Die  Gegenwart  nur, 
Die  lasse  wohl  Spur, 
Doch  niemand  wirk  in  die  Ferne, 
Sogar  nicht  die  himmlischen  Sterne. 

Nun  seht!    Soeben  ward  mir  zur  Seit 

Der  geistige  Süßtrank  verschüttet, 

Und  gleich  darauf  hat  er  dort  hinten  so  weit 

Dem  Knaben  die  Weste  zerrüttet.  — 

Besorg  dir  sie  neu! 

Und  weil  ich  mich  freu. 

Daß  sie  mir  zum  Beweise  gegolten. 

Ich  zahl  sie!  sonst  wirst  du  gescholten." 


z 


1806/10  WEIMAR  549 

CHARADE 

WEI  Worte  sind  es,  kurz,  bequem  zu  sagen. 
Die  wir  so  oft  mit  holder  Freude  nennen, 
Doch  keineswegs  die  Dinge  deutlich  kennen. 
Wovon  sie  eigentlich  den  Stempel  tragen. 


Es  tut  gar  wohl  in  jung-  und  alten  Tagen, 
Eins  an  dem  andern  kecklich  zu  verbrennen; 
Und  kann  man  sie  vereint  zusammen  nennen, 
So  drückt  man  aus  ein  seliges  Behagen. 

Nim  aber  such  ich  ihnen  zu  gefallen 

Und  bitte,  mit  sich  selbst  mich  zu  beglücken; 
Ich  hoffe  still,  doch  hoff  ichs  zu  erlangen: 

Als  Namen  der  Geliebten  sie  zu  lallen, 
In  Einem  Bild  sie  beide  zu  erblicken. 
In  Einem  Wesen  beide  zu  umfangen. 


M 


CHRISTGESCHENK 

EIN  süßes  Liebchen!    Hier  in  Schachtelwänden 
Gar  mannigfalt  geformte  Süßigkeiten. 
Die  Früchte  sind  es  heiiger  Weihnachtszeiten, 
Gebackne  nur,  den  Kindern  auszuspenden! 


Dir  möcht  ich  dann  mit  süßem  Redewenden 
Poetisch  Zuckerbrot  zum  Fest  bereiten; 
Allein  was  solls  mit  solchen  Eitelkeiten? 
Weg  den  Versuch,  mit  Schmeichelei  zu  blenden! 

Doch  gibt  es  noch  ein  Süßes,  das  vom  Innern 
Zum  Innern  spricht,  genießbar  in  der  Feme, 
Das  kann  nur  bis  zu  dir  hinüber  wehen. 

Und  fühlst  du  dann  ein  freundliches  Erinnern, 
Als  blinkten  froh  dir  wohlbekannte  Sterne, 
Wirst  du  die  kleinste  Gabe  nicht  verschmähen. 


5  5  o  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

ZUM  21.  JUNI,  KARLSBAD  i8o8 
[An  Silvie  v.  Ziegesar] 

NICHT  am  Susquehanna,  der  durch  Wüsten  fließt, 
Wo  zum  irdschen  Manna  geistges  man  genießt; 
Nicht  vom  Gnadentale,  nicht  nach  Herrenhut, 
Wo  beim  Liebesmahle  Tee  man  trinkt  für  Blut: 
Nein!  am  Tepelstrande,  von  der  großen  Brück, 
Wo  die  Mohrenbande  schaut  Sankt  Nepomuk, 
Zu  dem  Weißen  Hirschen,  der  beständig  rennt, 
Ohne  daß  ein  Pirschen  seine  Straße  hemmt, 
Eile  dieses  Blättchen  munter  und  geschwind. 
Wo  im  kurzen  Bettchen  ruht  das  liebe  Kind. 

Nennet  mir  beizeiten  gleich  den  schönsten  Tag, 
So  daß  niemand  streiten,  niemand  zweifeln  mag. 
"Meinst  du    den,    wos  Krippchen   frömmlich  bunt  ge- 
schmückt? 
Den,  wo  sich  am  Püppchen  Püppchen  hoch  entzückt? 
Den  vielleicht  vor  Fasten,  wos  am  tollsten  geht, 
Wo  man  ohne  Rasten  sich  mit  Liebchen  dreht? 
Ist  es  Ostern?  Pfingsten?  Corpus  Domini? 
Freundchen!  du  besingst'n,  frisch  zur  Melodie!" 

Keiner  ist  der  meine,  der  sich  rücken  läßt; 
Einer  ists,  der  Eine,  dieser  steht  so  fest. 
Läßt  er  nah  sich  blicken,  wünscht  man  ihn  heran; 
Hat  man  ihn  im  Rücken,  gleich  fängts  Trauren  an. 
Bruder  nicht,  noch  Schwester  hat  er  für  und  für, 
Und  man  glaubt,  Silvester  steh  schon  vor  der  Tür. 
Drum  mit  Wohlbedachte  grüßt  ihn  ehrenvoll, 
Weil  er,  was  er  brachte,  wohl  \ms  lassen  soll. 
Wird  er  gleich  entweichen,  wie  nun  Tage  sind, 
Läßt  er  seinesgleichen  uns:  das  längste  Kind. 

Froh  am  schönen  Feste  solls  in  Karlsbad  sein! 
Ein  paar  hundert  Gäste  stellten  schon  sich  ein. 
Gleich  soll  jeder  haben,  was  ihm  konveniert; 
Früh  mit  Wassergaben  jeder  wird  traktiert, 
Freuet  sich  nicht  minder  als  beim  größten  Schmaus, 
Denn  er  geht  gesünder,  als  er  kam,  nach  Haus. 


i8o6/io  WEIMAR  55 » 

Liebliches  Gedudel  tönte  gestern  nacht; 
Lustger  ist  der  Sprudel  heut  schon  aufgewacht. 
Frischlich  angefeuchtet  steht  der  Fels  umlaubt, 
Kreuzes  Panner  leuchtet  um  das  kahle  Haupt. 
HerzHch  grüßt  der  Biedre  dieses  Tages  Stern, 
Hoch  wird  alles  Niedre,  Hohes  neigt  sich  gern. 
Der  verschloßne  Stolze  grüßet  heiter,  mild; 
Tätger  wird  Graf  Bolze,  Herr  vom  Goldnen  Schild. 

Doch  sie  kömmt  geschritten!    Schaut  nur,  wie  sie  steigt, 

Wo  sich  auf  Graniten  manche  Blume  zeigt. 

In  den  bunten  Höhen  eil  ihr  nachzugehn, 

Wo  die  Orchideen  und  Dianthen  stehn 

Und  Omithogalen,  weiß  und  schlank  wie  sie. 

Ihr  zuliebe  strahlen  Lenz  und  Sommer  hie. 

Doch  die  Wetterkenner,  zweifelnd  stehn  sie  dort, 

Wohlbedächtge  Männer!  Und  du  schreitest  fort, 

Pflückest  junge  Rosen,  lächelst  leichtem  Stich; 

Wie  im  Lande  Gosen  sonnt  es  rings  um  dich. 

Reich  an  Strauß-  und  Kränzen,  trotz  dem  Wolkengraus, 

Bringst  du  die  Exzellenzen  ungenetzt  nach  Haus. 

Folge  so  dir  immer,  wie  sichs  wölken  mag, 

Heitrer  Sonnenschimmer,  dir  zum  eignen  Tag! 

Trotz  dem  Wetterbübchen  gehs  dir  jimgem  Blut, 

Tochter,  Freundin,  Liebchen,  wie  dus  wert  bist,  gut! 

EINER  HOHEN  REISENDEN 

WOHIN  du  trittst,  wird  \ms  verklärte  Stunde, 
Dir  leuchtet  Klarheit  frisch  vom  Angesicht, 
Vom  Auge  Gutheit,  Lieblichkeit  vom  Munde, 
Aus  Wolken  dringt  ein  reines  Himmelslicht. 
Der  Ungeheuer  Schwärm  im  Hintergrunde, 
Er  drängt,  er  droht,  jedoch  er  schreckt  dich  nicht, 
Wie  du  mit  Freiheit  imbefangen  schreitest. 
Das  Herz  erhebst  und  jeden  Geist  erweitest. 

So  wandelst  du,  dein  Ebenbild  zu  schauen, 
Das  majestätisch  uns  von  oben  blickt, 
Der  Mütter  Urbild,  Königin  der  Frauen, 
Ein  Wimderpinsel  hat  sie  ausgedrückt. 


552  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Ihr  beugt  ein  Mann,  mit  liebevollem  Granen, 
Ein  Weib  die  Knie,  in  Demut  still  entzückt; 
Du  aber  kommst,  ihr  deine  Hand  zu  reichen, 
Als  wärest  du  zu  Haus  bei  deinesgleichen. 

Doch  schreite  weiter,  was  auch  hier  sich  finde, 
Zum  Lande  hin,  dem  doch  kein  andres  gleicht. 
Wo  uns  Natur  befreit,  wie  Kunst  auch  binde, 
Der  Geist  sich  stählt,  wenn  sich  das  Herz  erweicht, 
Vor  stillem  Schaun  so  Zeit-  als  Volksgewinde 
Zum  Abgrund  wallt,  zur  Himmelshöhe  steigt: 
Dorthin  gehörst  du,  die  du  schaffend  strebest, 
Die  Trümmer  herstellst,  Totes  neu  belebest. 

Führ  uns  indes  durch  blumenreiche  Matten, 
Am  breiten  Fluß  durchs  wohlbekannte  Tal, 
Wo  Reben  sich  um  Sonnenhügel  gatten. 
Der  Fels  dich  schützt  vor  mächtgem  Sonnenstrahl; 
Genieße  froh  der  engen  Laube  Schatten, 
Der  reinen  Milch  unschuldig  würdges  Mahl. 
Und  hier  und  dort  vergönn,  an  deinen  Blicken, 
An  deinem  Wort  uns  ewig  zu  entzücken! 


DER  GOLDSCHMIEDSGESELL 

ES  ist  doch  meine  Nachbarin 
Ein  allerliebstes  Mädchen! 
Wie  früh  ich  in  der  Werkstatt  bin, 
Blick  ich  nach  ihrem  Lädchen. 

Zu  Ring  und  Kette  poch  ich  dann 
Die  feinen  goldnen  Drähtchen. 
Ach,  denk  ich,  wann,  und  wieder,  wann 
Ist  solch  ein  Ring  für  Käthchen? 

Und  tut  sie  erst  die  Schaltern  auf. 
Da  kommt  das  ganze  Städtchen 
Und  feilscht  und  wirbt  mit  hellem  Häuf 
Ums  Allerlei  im  Lädchen. 


i8o6/io  WEIIVIAR  553 

Ich  feile;  wohl  zerfeil  ich  dann 
Auch  manches  goldne  Drähtchen. 
Der  Meister  brummt,  der  harte  Mann! 
Er  merkt,  es  war  das  Lädchen. 

Und  flugs,  wie  nur  der  Handel  still, 
Gleich  greift  sie  nach  dem  Rädchen. 
Ich  weiß  wohl,  was  sie  spinnen  will: 
Es  hofft  das  liebe  Mädchen. 

Das  kleine  Füßchen  tritt  und  tritt; 

Da  denk  ich  mir  das  Wädchen, 

Das  Strumpfband  denk  ich  auch  wohl  mit, 

Ich  schenkts  dem  lieben  Mädchen. 

Und  nach  den  Lippen  führt  der  Schatz 
Das  allerfein  ste  Fädchen. 
O  war  ich  doch  an  seinem  Platz, 
Wie  küßt  ich  mir  das  Mädchen! 

WALLSTEIN  TRAGÖDIE  EN  CINQ  ACTES 

DER  du  des  Lobs  dich  billig  freuen  solltest, 
O!  guter  Constant,  bleibe  still! 
Der  Deutsche  dankt  dir  nicht,  er  weiß  wohl,  was  er  will; 
Der  Franke  weiß  nicht,  was  du  wolltest. 

JOHANNA  SEBUS 

Zum  Andenken  der  siebzehnjährigen  Schönen  Guten  aus  dem  Dorfe 

Brienen,  die  am  13.  Januar  1809,  bei  dem  Eisgange  des  Rheins  und 

dem  großen  Bruche  des  Dammes  von  Cleverham,  Hilfe  reichend 

unterging 


D 


ER  Damm  zerreißt,  das  Feld  erbraust, 
Die  Fluten  spülen,  die  Fläche  saust. 
"Ich  trage  dich,  Mutter,  durch  die  Flut, 
Noch  reicht  sie  nicht  hoch,  ich  wate  gut." — 
"Auch  uns  bedenke,  bedrängt  wie  wir  sind, 
Die  Hausgenossin,  drei  arme  Kind! 
Die  schwache  Frau!  ...  Du  gehst  davon!" — 
Sie  trägt  die  Mutter  durchs  Wasser  schon. 


554  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

"Zum  Buhle  da  rettet  euch!  harret  derweil; 
Gleich  kehr  ich  zurück,  uns  allen  ist  Heil. 
Zum  Bühl  ists  noch  trocken  und  wenige  Schritt; 
Doch  nehmt  auch  mir  meine  Ziege  mit!" 

Der  Damm  zerschmilzt^  das  Feld  erbraust^ 

Die  Fluten  wühlen^  die  Fläche  saust. 
Sie  setzt  die  Mutter  auf  sichres  Land, 
Schön  Suschen,  gleich  wieder  zur  Flut  gewandt. 
"Wohin:  Wohin?  Die  Breite  schwoll. 
Des  Wassers  ist  hüben  und  drüben  voll. 
Verwegen  ins  Tiefe  willst  du  hinein!" — 
"Äi?  sollen  und  müssen  gerettet  sein!^^ 

Der  Damm  verschwindet,  die  Welle  braust, 
Eine  Meereswoge,  sie  schwankt  und  saust. 
Schön  Suschen  schreitet  gewohnten  Steg, 
Umströmt  auch  gleitet  sie  nicht  vom  Weg, 
Erreicht  den  Bühl  und  die  Nachbarin; 
Doch  der  und  den  Kindern  kein  Gewinn! 

Der  Damm  verschwand,  ein  Meer  erbrausts, 

Den  kleinen  Hügel  im  Kreis  ums  aus  ts. 

Da  gähnet  und  wirbelt  der  schäumende  Schlund 

Und  ziehet  die  Frau  mit  den  Kindern  zu  Grund; 

Das  Hörn  der  Ziege  faßt  das  ein', 

So  sollten  sie  alle  verloren  sein! 

Schön  Suschen  steht  noch  strack  und  gut: 

Wer  rettet  das  junge,  das  edelste  Blut! 

Schön  Suschen  steht  noch  wie  ein  Stern; 

Doch  alle  Werber  sind  alle  fern. 

Rings  um  sie  her  ist  Wasserbahn, 

Kein  Schifflein  schwimmet  zu  ihr  heran. 

Noch  einmal  blickt  sie  zum  Himmel  hinauf, 

Da  nehmen  die  schmeichelnden  Fluten  sie  auf. 

Keiti  Damm,  kein  Feld!  Nur  hier  und  dort 
Bezeichnet  ein  Baum,  ein  Turn  den  Ort. 

Bedeckt  ist  alles  mit  Wasserschwall; 

Doch  Suschens  Bild  schwebt  überall. — 


i8o6/io  WEIMAR  555 

Das  Wasser  sinkt,  das  Land  erscheint, 
Und  überall  wird  schön  Suschen  beweint. — 
Und  dem  sei,  wers  nicht  singt  und  sagt, 
Im  Leben  und  Tod  nicht  nachgefragt! 

[In  das  Stammbuch  von  Bertha  v.  Loder] 

WIE  die  Blüten  heute  dringen 
Aus  den  aufgeschloßnen  Zweigen, 
Wie  die  Vögel  heute  singen 
Aus  diurchsichtigen  Gesträuchen, 
So  begleitet  reis'  und  lebe 
Und  so  freundlich  nimm  und  gebe. 

VERSUS  MEMORIALES 

zu  Verbreitimg  imd  Festhaltimg  der  zwei  wichtigsten 

natürlichen  Systeme 

Natürliches  System  der  Erze  nach  Oleen 

"^LINZE^  wenig  Erz  enthalten  s', 
Halde,  nu!  die  sind  Gesalzens; 

Malme  sind  gut  durchgesotten, 

Gelfe  hättens  bald  getroffen. 

So,  mit  mancherlei  Gescherze, 

Hätten  wir  die  alten  Erze. 

Natürliches  System  des  Organisch-Gebacknen  nach  Knebel 
Leber  ist  nicht  wert  des  Schmalzes, 
Hering  hat  zu  viel  des  Salzes, 
Frösche  sind  zum  Frühlingsfeste, 
Fische  dennoch  sind  die  beste. 
Und  mit  diesen  laß  im  Stiche 
Niemals  uns  des  Freimdes  Küche! 

[In  das  Stammbuch  der  Frau  v.  Berg,  geb.  v.  Sievers] 

WIE  es  dampft  und  braust  und  sprühet 
Aus  der  imbekannten  Gruft! 
Von  geheimem  Feuer  glühet 
Heilsam  Wasser,  Erd  und  Luft. 


F'. 


556  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Hilfsbedürftge  Schar  vermehrt  sich 
Täglich  um  den  Wunderort, 
Und  im  stillen  heilt  und  nährt  sich 
Unser  Herz  an  Freundes  Wort. 

PROBLEM 

WARUM  ist  alles  so  rätselhaft? 
Hier  ist  das  Wollen,  hier  ist  die  Kraft; 
Das  Wollen  will,  die  Kraft  ist  bereit, 
Und  daneben  die  schöne,  lange  Zeit." 
So  seht  doch  hin,  wo  die  gute  Welt 
Zusammenhält! 
Seht  hin,  wo  sie  auseinanderfällt! 

RECHENSCHAFT 

Der  Meister 

FRISCH!  der  Wein  soll  reichlich  fließen! 
Nichts  Verdrießlichs  weh  uns  an! 
Sage,  willst  du  mitgenießen, 
Hast  du  deine  Pflicht  getan? 

Einer 
Zwei  recht  gute  junge  Leute 
Liebten  sich  nur  gar  zu  sehr, 
Gestern  zärtlich,  wütend  heute. 
Morgen  war  es  noch  viel  mehr; 
Senkte  sie  hier  das  Genicke, 
Dort  zerrauft'  er  sich  das  Haar; 
Alles  bracht  ich  ins  Geschicke, 
Und  sie  sind  ein  glücklich  Paar. 

Chor 
Sollst  uns  nicht  nach  Weine  lechzen! 
Gleich  das  volle  Glas  heran! 
Denn  das  Ächzen  tmd  das  Krächzen 
Hast  du  heut  schon  abgetan. 

Einer 
Warum  weinst  du,  junge  Waise? 
"Gott!  ich  wünschte  mir  das  Grab; 


i8o6/io  WEIMAR  55? 

Denn  mein  Vormund,  leise,  leise, 
Bringt  mich  an  den  Bettelstab." 
Und  ich  kannte  das  Gelichter, 
Zog  den  Schacher  vor  Gericht, 
Streng  und  brav  sind  unsre  Richter, 
Und  das  Mädchen  bettelt  nicht. 

Chor 
Sollst  uns  nicht  nach  Weine  lechzen! 
Gleich  das  volle  Glas  heran! 
Denn  das  Ächzen  und  das  Krächzen 
Hast  du  heut  schon  abgetan. 

Einer 
Einem  armen,  kleinen  Kegel, 
Der  sich  nicht  besonders  regt,  . 
Hat  ein  ungeheurer  Flegel 
Heute  grob  sich  aufgelegt. 
Und  ich  fühlte  mich  ein  Mannsen, 
Ich  gedachte  meiner  Pflicht, 
Und  ich  hieb  dem  langen  Hansen 
Gleich  die  Schmarre  durchs  Gesicht. 

Chor 
Sollst  uns  nicht  nach  Weine  lechzen! 
Gleich  das  volle  Glas  heran! 
Denn  das  Ächzen  und  das  Krächzen 
Hast  du  heut  schon  abgetan. 

Einer 
Wenig  hab  ich  nur  zu  sagen: 
Denn  ich  habe  nichts  getan. 
Ohne  Sorgen,  ohne  Plagen 
Nahm  ich  mich  der  Wirtschaft  an; 
Doch  ich  habe  nichts  vergessen. 
Ich  gedachte  meiner  Pflicht: 
Alle  wollten  sie  zu  essen, 
Und  an  Essen  fehlt'  es  nicht. 

Chor 
Sollst  uns  nicht  nach  Weine  lechzen! 
Gleich  das  volle  Glas  heran! 


558  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Denn  das  Ächzen  und  das  Krächzen 
Hast  du  heut  schon  abgetan. 

Einer 
Einer  wollte  mich  erneuen, 
Macht'  es  schlecht:  verzeih  mir  Gott! 
Achselzucken,  Kümmereien! 
Und  er  hieß  ein  Patriot. 
Ich  verfluchte  das  Gewäsche, 
Rannte  meinen  alten  Lauf. 
Narre!  wenn  es  brennt,  so  lösche, 
Hats  gebrannt,  bau  wieder  auf! 

Chor 
Sollst  uns  nicht  nach  Weine  lechzen! 
Gleich  das  volle  Glas  heran! 
Denn  das  Ächzen  tmd  das  Krächzen 
Hast  du  heut  schon  abgetan. 

Meister 
Jeder  möge  so  verkünden. 
Was  ihm  heute  wohlgelang! 
Das  ist  erst  das  rechte  Zünden, 
Daß  entbrenne  der  Gesang. 
Keinen  Druckser  hier  zu  leiden. 
Sei  ein  ewiges  Mandat! 
Nur  die  Lumpe  sind  bescheiden. 
Brave  freuen  sich  der  Tat. 

Chor 
Keiner  soll  nach  Weine  lechzen! 
Gleich  das  volle  Glas  heran! 
Denn  das  Ächzen  und  das  Krächzen 
Haben  wir  nun  abgetan. 

Drei  Stimmen 
Heiter  trete  jeder  Sänger, 
Hochwillkommen,  in  den  Saal: 
Denn  nur  mit  dem  Grillenfänger 
Halten  wirs  nicht  liberal; 
Fürcliten  hinter  diesen  Launen, 
Diesem  ausstaffierten  Schmerz, 


i8o6/io  WEIMAR  559 

Diesen  trüben  Augenbraunen 
Leerheit  oder  schlechtes  Herz. 

Chor 
Niemand  soll  nach  Weine  lechzen! 
Doch  kein  Dichter  soll  heran, 
Der  das  Ächzen  und  das  Krächzen 
Nicht  zuvor  hat  abgetan! 

ERGO  BIBAMUS! 

HIER  sind  wir  versammelt  zu  löblichem  Tun, 
Drum,  Brüderchen!  Ergo  bibamus. 
Die  Gläser  sie  klingen,  Gespräche  sie  ruhn, 

Beherziget  Ergo  bibamus. 
Das  heißt  noch  ein  altes,  ein  tüchtiges  Wort, 
Es  passet  zum  ersten  und  passet  so  fort, 
Und  schallet  ein  Echo  vom  festlichen  Ort, 
Ein  herrliches  Ergo  bibamus! 

Ich  hatte  mein  freundliches  Liebchen  gesehn, 

Da  dacht  ich  mir:  Ergo  bibamus. 
Und  nahte  mich  traulich,  da  ließ  sie  mich  stehn; 

Ich  half  mir  und  dachte:  Bibamus. 
Und  wenn  sie  versöhnet  euch  herzet  und  küßt, 
Und  wenn  ihr  das  Herzen  und  Küssen  vermißt, 
So  bleibet  nur,  bis  ihr  was  Besseres  wißt, 

Beim  tröstlichen  Ergo  bibamus. 

Mich  ruft  das  Geschick  von  den  Freunden  hinweg; 

Ihr  Redlichen!    Ergo  bibamus. 
Ich  scheide  von  hinnen  mit  leichtem  Gepäck, 

Drum  doppeltes  Ergo  bibamus. 
Und  was  auch  der  Filz  von  dem  Leibe  sich  schmorgt, 
So  bleibt  für  den  Heitern  doch  immer  gesorgt. 
Weil  immer  dem  Frohen  der  Fröhliche  borgt; 

Drum,  Brüderchen!  Ergo  bibamus. 

Was  sollen  wir  sagen  zum  heutigen  Tag? 

Ich  dächte  nur:  Ergo  bibamus. 
Er  ist  nun  einmal  von  besonderem  Schlag, 

Drum  immer  aufs  neue:  Bibamus. 


56o  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Er  führet  die  Freude  durchs  offene  Tor, 
Es  glänzen  die  Wolken,  es  teilt  sich  der  Flor, 
Da  leuchtet  ein  Bildchen,  ein  göttliches,  vor; 
Wir  klingen  und  singen:  Bibamus. 

KATZENPASTETE 

BEWÄHRT  den  Forscher  der  Natur 
Ein  frei  und  ruhig  Schauen, 
So  folge  Meßkunst  seiner  Spur 
Mit  Vorsicht  und  Vertrauen. 

Zwar  mag  in  Einem  Menschenkind 
Sich  beides  auch  vereinen; 
Doch,  daß  es  zwei  Gewerbe  sind, 
Das  läßt  sich  nicht  verneinen. 


Es  war  einmal  ein  braver  Koch, 
Geschickt  im  Appretieren; 
Dem  fiel  es  ein,  er  wollte  doch 
Als  Jäger  sich  gerieren. 

Er  zog  bewehrt  zu  grünem  Wald, 
Wo  manches  Wildbret  hauste, 
Und  einen  Kater  schoß  er  bald, 
Der  junge  Vögel  schmauste. 

Sah  ihn  für  einen  Hasen  an 
Und  ließ  sich  nicht  bedeuten, 
Pastetete  viel  Würze  dran 
Und  setzt'  ihn  vor  den  Leuten. 

Doch  manche  Gäste  das  verdroß, 
Gewisse  feine  Nasen: 
Die  Katze,  die  der  Jäger  schoß, 
Macht  nie  der  Koch  zum  Hasen. 


i8o6/io   WEIMAR  561 

DAS  TAGEBUCH 

—  aliam  tenui,    sed  iam  quum  gaudia  adirem, 
Admonuit  dominae  deseruitque  Venus. 

[Tibull  1,5.  V.  39.  40, 

WIR  hörens  oft  und  glaubens  wohl  am  Ende; 
Das  Menschenherz  sei  ewig  unergründlich, 
Und  wie  man  auch  sich  hin  und  wider  wende, 
So  sei  der  Christe  wie  der  Heide  sündlich. 
Das  Beste  bleibt,  wir  geben  uns  die  Hände 
Und  nehmens  mit  der  Lehre  nicht  empfindlich; 
Denn  zeigt  sich  auch  ein  Dämon,  uns  versuchend, 
So  waltet  was,  gerettet  ist  die  Tugend. 

Von  meiner  Trauten  lange  Zeit  entfernet, 
Wie's  öfters  geht,  nach  irdischem  Gewinne, 
Und  was  ich  auch  gewonnen  und  gelernet. 
So  hatt  ich  doch  nur  immer  Sie  im  Sinne; 
Und  wie  zu  Nacht  der  Himmel  erst  sich  stemet, 
Erinnrung  uns  umleuchtet  ferner  Minne: 
So  ward  im  Federzug  des  Tags  Ereignis 
Mit  süßen  Worten  ihr  ein  freundlich  Gleichnis. 

Ich  eilte  nun  zurück.    Zerbrochen  sollte 
Mein  Wagen  mich  noch  eine  Nacht  verspäten; 
Schon  dacht  ich  mich,  wie  ich  zu  Hause  rollte, 
Allein  da  war  Geduld  und  Werk  vonnöten. 
Und  wie  ich  auch  mit  Schmied  und  Wagner  tollte, 
Sie  hämmerten,  verschmähten,  viel  zu  reden. 
Ein  jedes  Handwerk  hat  nun  seine  Schnurren. 
Was  blieb  mir  nun?    Zu  weilen  und  zu  mturen. 

So  stand  ich  nun.    Der  Stern  des  nächsten  Schildes 

Berief  mich  hin,  die  Wohnung  schien  erträglich. 

Ein  Mädchen  kam,  des  seltensten  Gebildes, 

Das  Licht  erleuchtend.    Mir  ward  gleich  behaglich. 

Hausflur  und  Treppe  sah  ich  als  ein  Mildes, 

Die  Zimmerchen  erfreuten  mich  unsäglich. 

Den  sündigen  Menschen,  der  im  Freien  schwebet— 

Die  Schönheit  spinnt,  sie  ists,  die  ihn  umwebet. 

GOETHE  XIV  36. 


562  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Nun  setzt  ich  mich  zu  meiner  Tasch  und  Briefen 
Und  meines  Tagebuchs  Genauigkeiten, 
Um  so  wie  sonst,  wenn  alle  Menschen  schliefen, 
Mir  und  der  Trauten  Freude  zu  bereiten; 
Doch  weiß  ich  nicht,  die  Tintenworte  liefen 
Nicht  so  wie  sonst  in  alle  Kleinigkeiten: 
Das  Mädchen  kam,  des  Abendessens  Bürde 
Verteilte  sie  gewandt  mit  Gruß  und  Würde. 

Sie  geht  und  kommt;  ich  spreche,  sie  erwidert; 
Mit  jedem  Wort  erscheint  sie  mir  geschmückter. 
Und  wie  sie  leicht  mir  nun  das  Huhn  zergliedert, 
Bewegend  Hand  und  Arm,  geschickt,  geschickter- 
Was  auch  das  tolle  Zeug  in  uns  befiedert — 
Genug,  ich  bin  verworrner,  bin  verrückter. 
Den  Stuhl  umwerfend,  spring  ich  auf  und  fasse 
Das  schöne  Kind;  sie  lispelt:  "Lasse,  lasse! 

Die  Muhme  drunten  lauscht,  ein  alter  Drache, 
Sie  zählt  bedächtig  des  Geschäfts  Minute; 
Sie  denkt  sich  unten,  was  ich  oben  mache. 
Bei  jedem  Zögern  schwenkt  sie  frisch  die  Rute. 
Doch  schließe  deine  Türe  nicht  und  wache. 
So  kommt  die  Mitternacht  uns  wohl  zugute." 
Rasch  meinem  Arm  entwindet  sie  die  Glieder, 
Und  eilet  fort  und  kommt  nur  dienend  wieder; 

Doch  blickend  auch!    So  daß  aus  jedem  Blicke 

Sich  himmlisches  Versprechen  mir  entfaltet. 

Den  stillen  Seufzer  drängt  sie  nicht  zurücke, 

Der  ihren  Busen  herrlicher  gestaltet. 

Ich  sehe,  daß  am  Ohr,  um  Hals  und  Gnicke 

Der  flüchtigen  Röte  Liebesblüte  waltet. 

Und  da  sie  nichts  zu  leisten  weiter  findet, 

Geht  sie  und  zögert,  sieht  sich  um,  verschwindet. 

Der  Mitternacht  gehören  Haus  und  Straßen, 
Mir  ist  ein  weites  Lager  aufgebreitet, 
Wovon  den  kleinsten  Teil  mir  anzumaßen 
Die  Liebe  rät,  die  alles  wohl  bereitet; 


i8o6/io  WEIMAR  563 

Ich  zaudre  noch,  die  Kerzen  auszublasen, 

Nun  hör  ich  sie,  wie  leise  sie  auch  gleitet, 

Mit  gierigem  Blick  die  Hochgestalt  umschweif  ich, 

Sie  senkt  sich  her,  die  Wohlgestalt  ergreif  ich. 

Sie  macht  sich  los:  "'Vergönne,  daß  ich  rede, 

Damit  ich  dir  nicht  völlig  fremd  gehöre. 

Der  Schein  ist  wider  mich;  sonst  war  ich  blöde. 

Stets  gegen  Männer  setzt  ich  mich  zur  Wehre. 

Mich  nennt  die  Stadt,  mich  nennt  die  Gegend  spröde; 

Nim  aber  weiß  ich,  wie  das  Herz  sich  kehre: 

Du  bist  mein  Sieger,  laß  dichs  nicht  verdrießen. 

Ich  sah,  ich  liebte,  schwur  dich  zu  genießen. 

Du  hast  mich  rein,  und  wenn  ichs  besser  wüßte, 
So  gab  ichs  dir;  ich  tue,  was  ich  sage." 
So  schließt  sie  mich  an  ihre  süßen  Brüste, 
Als  ob  ihr  niu:  an  meiner  Brust  behage. 
Und  wie  ich  Mund  und  Aug  und  Stime  küßte, 
So  war  ich  doch  in  wunderbarer  Lage: 
Denn  der  so  hitzig  sonst  den  Meister  spielet. 
Weicht  schülerhaft  zurück  und  abgekühlet. 

Ihr  scheint  ein  süßes  Wort,  ein  Kuß  zu  gnügen, 
Als  war  es  alles,  was  ihr  Herz  begehrte. 
Wie  keusch  sie  mir,  mit  liebevollem  Fügen, 
Des  süßen  Körpers  Fülleform  gewährte! 
Entzückt  und  froh  in  allen  ihren  Zügen 
Und  ruhig  dann,  als  wenn  sie  nichts  entbehrte. 
So  ruht  ich  auch,  gefällig  sie  beschauend. 
Noch  auf  den  Meister  hoffend  und  vertrauend. 

Doch  als  ich  länger  mein  Geschick  bedachte. 
Von  tausend  Flüchen  mir  die  Seele  kochte, 
Mich  selbst  verwünschend,  grinsend  mich  belachte. 
Nichts  besser  ward,  wie  ich  auch  zaudern  mochte, 
Da  lag  sie  schlafend,  schöner  als  sie  wachte; 
Die  Lichter  dämmerten  mit  langem  Dochte. 
Der  Tages-Arbeit,  jugendlicher  Mühe 
Gesellt  sich  gern  der  Schlaf  und  nie  zu  frühe. 


564  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

So  lag  sie  himmlisch  an  bequemer  Stelle, 
Als  wenn  das  Lager  ihr  allein  gehörte, 
Und  an  die  Wand  gedrückt,  gequetscht  zur  Hölle, 
Ohnmächtig  jener,  dem  sie  nichts  verwehrte. 
Vom  Schlangenbisse  fällt  zunächst  der  Quelle 
Ein  Wandrer  so,  den  schon  der  Durst  verzehrte. 
Sie  atmet  lieblich  holdem  Traum  entgegen; 
Er  hält  den  Atem,  sie  nicht  aufzuregen. 

Gefaßt  bei  dem,  was  ihm  noch  nie  begegnet, 
Spricht  er  zu  sich:  So  mußt  du  doch  erfahren, 
Warum  der  Bräutigam  sich  kreuzt  und  segnet, 
Vor  Nestelknüpfen  scheu  sich  zu  bewahren. 
Weit  lieber  da,  wos  Hellebarden  regnet, 
Als  hier  im  Schimpfl    So  war  es  nicht  vor  Jahren, 
Als  deine  Herrin  dir  zum  ersten  Male 
Vors  Auge  trat  im  prachterhellten  Saale. 

Da  quoll  dein  Herz,  da  quollen  deine  Sinnen, 
So  daß  der  ganze  Mensch  entzückt  sich  regte. 
Zum  raschen  Tanze  trugst  du  sie  von  hinnen, 
Die  kaum  der  Arm  und  schon  der  Busen  hegte, 
Als  wolltest  du  dir  selbst  sie  abgewinnen; 
Vervielfacht  war,  was  sich  für  sie  bewegte: 
Verstand  imd  Witz  und  alle  Lebensgeister 
Und  rascher  als  die  andern  jener  Meister. 

So  immerfort  wuchs  Neigimg  imd  Begierde, 
Brautleute  wurden  wir  im  frühen  Jahre, 
Sie  selbst  des  Maien  schönste  Blum  und  Zierde; 
Wie  wuchs  die  Kraft  zur  Lust  im  jungen  Paare! 
Und  als  ich  endlich  sie  zur  Kirche  führte, 
Gesteh  ichs  nur,  vor  Priester  und  Altare, 
Vor  deinem  Jammerkreuz,  blutrünstiger  Christe, 
Verzeih  mirs  Gott,  es  regte  sich  der  Iste. 

Und  ihr,  der  Brautnacht  reiche  Bettgehänge, 
Ihr  Pfühle,  die  ihr  euch  so  breit  erstrecktet, 
Ihr  Teppiche,  die  Lieb  und  Lustgedränge 
Mit  euren  seidnen  Fittichen  bedecktet! 


i8o6/io  WEIMAR  565 

Ihr  Käfigvögel,  deren  Zwitscher- Sänge 
Zu  neuer  Lust  und  nie  zu  früh  uns  wecktet! 
Ihr  kanntet  uns,  von  euerm  Schutz  umfriedet, 
Teilnehmend  sie,  mich  immer  unermüdet. 

Und  wie  wir  oft  sodann  im  Raub  genossen 
Nach  Buhlenart  des  Ehstands  heiige  Rechte, 
Von  reifer  Saat  umwogt,  vom  Rohr  umschlossen, 
An  manchem  Unort,  wo  ichs  mich  erfrechte, 
Wir  waren  augenblicklich,  unverdrossen 
Und  wiederholt  bedient  vom  braven  Knechte! 
Verfluchter  Knecht,  wie  unerwecklich  liegst  du! 
Und  deinen  Herrn  ums  schönste  Glück  betriegst  du. 

Doch  Meister  Iste  hat  nun  seine  Grillen 
Und  läßt  sich  nicht  befehlen,  noch  verachten, 
Auf  einmal  ist  er  da,  und  ganz  im  stillen 
Erhebt  er  sich  zu  allen  seinen  Frachten; 
So  steht  es  nun  dem  Wandrer  ganz  zu  Willen, 
Nicht  lechzend  mehr  am  Quell  zu  übernachten. 
Er  neigt  sich  hin,  er  will  die  Schläferin  küssen, 
Allein  er  stockt,  er  fühlt  sich  weggerissen. 

Wer  hat  zur  Kraft  ihn  wieder  aufgestählet, 
Als  jenes  Bild,  das  ihm  auf  ewig  teuer. 
Mit  dem  er  sich  in  Jugendlust  vermählet? 
Dort  leuchtet  her  ein  frisch  erquicklich  Feuer, 
Und  wie  er  erst  in  Ohnmacht  sich  gequälet. 
So  wird  nun  hier  dem  Starken  nicht  geheuer; 
Er  schaudert  weg,  vorsichtig,  leise,  leise 
Entzieht  er  sich  dem  holden  Zauberkreise, 

Sitzt,  schreibt:  "Ich  nahte  mich  der  heimischen  Pforte, 

Entfernen  wollten  mich  die  letzten  Stunden, 

Da  hab  ich  nun,  am  sonderbarsten  Orte, 

Mein  treues  Herz  aufs  neue  dir  verbunden. 

Zum  Schlüsse  findest  du  geheime  Worte: 

Die  Krankheit  erst  bewähret  den  Gesunden. 

Dies  Büchlein  soll  dir  manches  Gute  zeigen, 

Das  Beste  nur  muß  ich  zuletzt  verschweigen," 


566  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Da  kräht  der  Hahn.    Das  Mädchen  schnell  entwinde! 
Der  Decke  sich  und  wirft  sich  rasch  ins  Mieder. 
Und  da  sie  sich  so  seltsam  wiederfindet, 
So  stutzt  sie,  blickt  und  schlägt  die  Augen  nieder: 
Und  da  sie  ihm  zum  letztenmal  verschwindet, 
Im  Auge  bleiben  ihm  die  schönen  Glieder. 
Das  Posthorn  tönt,  er  wirft  sich  in  den  Wagen 
Und  läßt  getrost  sich  zu  der  Liebsten  tragen. 

Und  weil  zuletzt  bei  jeder  Di chtungs weise 
Moralien  uns  ernstlich  fördern  sollen, 
So  will  auch  ich  in  so  beliebtem  Gleise 
Euch  gern  bekennen,  was  die  Verse  wollen: 
Wir  stolpern  wohl  auf  unsrer  Lebensreise, 
Und  doch  vermögen  in  der  Welt,  der  tollen. 
Zwei  Hebel  viel  aufs  irdische  Getriebe: 
Sehr  viel  die  Pflicht,  unendlich  mehr  die  Liebe! 


i8io 
REISE  NACH  BÖHMEN 


DER  KAISERIN  ANKUNFF 
Den  6.  Juni  1810 

ZU  des  einzigen  Tages  Feste 
Schmückt  euch  alle,  windet  Kränze! 
Daß  für  Heimische,  für  Gäste 
Herrlicher  das  Tal  erglänze, 
Dem  ein  neuer  Frühling  weht. 
Väter,  Mütter,  Töchter,  Söhne, 
Aufl    Ein  frohes  Lied  ertöne. 
Alles  um  euch  her  verschöne 
Den  Empfang  der  Majestät! 

Hier  im  waldbewachsnen  Tale, 
Das  so  mancher  Fremde  segnet. 
Weil  mit  heilsam  heißer  Schale 
Die  Genesimg  ihm  begegnet 
Und  ihm  frisches  Leben  schafft, 
Muß  in  tiefen  Felsenschlünden 
Feuer  sich  mit  Wasser  binden, 
Klüften  siedend  sich  entwinden; 
Neue  Kräfte  wirkt  die  Kraft. 

Dem  Genesnen,  dem  Gesunden 

Bieten  sich  so  manche  Schätze. 

Daß  der  Freund  den  Freund  gefunden, 

Zeugen  die  erwählten  Plätze, 

Wie  Erinnrung  köstlich  sei. 

Und  so  wurden  Wald  und  Wiese 

Zum  bewohnten  Paradiese, 

Daß  ein  jeglicher  genieße. 

Sich  empfinde  froh  und  frei. 

Aber  heute  neu  mit  Machten 
Sprudle,  Quell,  aus  deinen  Höhlen! 
Faltet  aus  die  frischen  Prachten, 
Ihr,  des  grünen  Tals  Juwelen, 
Holde  Blumen,  euren  Flor! 
Und  ihr  Sprossen  dieser  Gauen, 
Kinder,  eilt,  sie  anzuschauen, 
Blickt  mit  Wonne,  mit  Vertrauen 
Zu  der  Herrlichen  empor! 


57°  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Sie,  die  Tausenden  gehöret, 
Sie  erwählt  euch,  sie  ist  euer! 
Ihr  umgebt  sie  unverwehret; 
Gnädig  gönnt  sie  dieser  Feier 
Mutterblicke  hoch  und  mild. 
Dränget  euch,  ihr  jungen  Scharen! 
Dem,  der  früh  solch  Glück  erfahren. 
Wächst  an  Glanz,  von  Jahr  zu  Jahren, 
Der  Erinnrung  Himmelsbild. 

Was  in  segensreicher  Enge 
Diese  Kaiserstadt  umwallet. 
Was  in  fröhlichem  Gedränge 
Seit  Jahrhunderten  erschallet. 
Werde  diesem  Tag  zuteil! 
Alles  Wohl,  das  hier  gequollen, 
Alle  Lust,  die  hier  erschollen. 
Ruft  herab  mit  feuervollen 
Segenswünschen,  ihr  zum  Heil! 

DER  KAISERIN  BECHER 
Den  lo.  Juni  1810 

DICH,  klein  geblümt  Gefäß,  mit  Schmuck  und  Leben 
Des  Blumenflores  malerisch  zu  umwinden, 
Ist  zwar  zu  spät;  doch  unser  Glück  zu  künden, 
Soll  nun  von  Worten  dich  ein  Kranz  umgeben. 

Und  möcht  er  auch  so  zierlich  dich  umschweben, 
Wie  ihn  die  Grazien,  die  Musen  binden; 
Rein  auszusprechen,  was  wir  rein  empfinden, 
Ist  für  den  Dichter  selbst  vergebhch  Streben. 

Den  Lippen,  denen  Huld  und  Gunst  entquellen. 
Von  denen  Freundlichkeit  und  Frohsinn  wirken. 
Hast  du,  beglückt  Gefäß!  dich  nähern  dürfen; 

Gekostet  haben  sie  die  heißen  Wellen.  — 
O  möchten  sie  aus  imsem  Lustbezirken 
Des  Lebens  Balsam  frisch  erquicklich  schlürfen! 


i8io  REISE  NACH  BÖHMEN  571 

DER  KAISERIN  PLATZ 
Den   19.  Juni  1810 

WENN  vor  dem  Glanz,  der  um  die  Herrin  schwebet, 
Das  Volk  sich  teilt  in  drängendem  Gewühle, 
Dann  gleich  um  sie  sich  neu  zu  sammeln  strebet, 
Stumm  erst  und  staunend,  dann  im  Hochgefühle 
Mit  Leberuf  den  Widerhall  belebet: 
So  spreche  nun  die  Nymphe  dieser  Kühle 
Zu  jedem  still  empfindenden  Gemüte 
Von  ihrer  Anmut,  Heiterkeit  und  Güte. 

Ehrwürdger  Fels!  der  sich  vom  Himmelsblauen 
Herab  dem  Tale  reich  bemoost  vermählte, 
Am  schattengrünen  Berg,  ihr  bunten  Auen! 
Die  längst  zum  Bilde  sich  der  Künstler  wählte, 
Ihr  ließt  euch  stets  geschmückt  und  fröhlich  schauen; 
Doch  immer  wars,  als  ob  euch  Eines  fehlte: 
Ntm  sie  auf  euch  mit  Huld  und  Neigung  blicket, 
Nun  wißt  ihr  erst,  warum  ihr  euch  geschmücket. 

Die  Sonne  wird,  o  Nymphe!  bald  sich  senken, 
An  die  du  mit  uns  allen  dich  verwöhnet; 
Nicht  ohne  Schmerz  läßt  sie  entfernt  sich  denken. 
O  möchte  sie,  nach  der  sich  alles  sehnet, 
Hieher  den  Weg,  froh  wiederkehrend,  lenken! 
O  möchtest  du,  wenn  du  dich  neu  verschönet. 
In  deinem  zweigum wölbten,  luftgen  Saale 
Sie  wiedersehn,  sie  sehn  mit  dem  Gemahle! 


DER  KAISERIN  ABSCHIED 
Den  22.  Juni  18 10 

LASSET  uns  die  Nacht  erhellen 
Abermals  mit  bunten  Feuern! 
Die  von  Felsen,  die  von  Wellen 
Widerglänzend  ihr  beteuern 
Unsrer  treuen  Wünsche  Glut. 
Abermals  zur  Morgenstunde 


572  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Sammle  sich  die  bunte  Menge! 
Stimme  fröhliche  Gesänge; 
Von  dem  Herzen  zu  dem  Munde 
Ströme  neuer  Lebensmut! 

Hörner  schallen,  Fahnen  fliegen, 
Trommeln  künden  frohe  Feier; 
Aber  ach!  auf  allen  Zügen 
Liegt  es  wie  der  Wolkenschleier, 
Der  um  Gipfel  sich  getan. 
Und  so  sprichts  aus  trüben  Blicken: 
Sie,  die  unser  sich  bemeistert. 
Uns  erhoben,  uns  begeistert, 
Ach!  sie  zieht  in  Augenblicken 
Langsam  scheidend  berghinan. 

Die,  zu  uns  hemiedersteigend. 
Mit  uns  wandelt  unsre  Pfade, 
Unsrem  Gruße  freundlich  neigend, 
Die  allseitig  heitre  Gnade, 
Sie  zu  missen,  welch  ein  Schmerz! — 
Tröstet  euch!  auch  sie  empfindet, 
Und  die  Muse  solls  euch  sagen: 
Denn  die  Muse  darf  es  wagen. 
Die  das  Innre  wohl  ergründet. 
Auch  zu  blicken  ihr  ins  Herz. 

"An  der  Kluft,  vom  Fels  umschlossen, 
Dem  der  größte  Schatz  entquillet; 
Bei  dem  Volk,  das  unverdrossen 
Junggewohnte  Pflicht  erfüllet. 
Allen  dient  um  kleinen  Lolm; 
In  dem  menschenreichen  Tale, 
Dem  von  allen  Ort-  und  Enden 
Hilfsbedürftge  zu  sich  wenden, 
Herrsch  ich  nun  im  grünen  Saale, 
Herrsche  von  dem  Blumenthron. 

Und  so  seh  ich  Abgesandte 
Vieler  Völker,  die  mich  ehren; 
Freunde  find  ich,  Nahverwandte, 


iSio  REISE  NACH  BÖHMEN  573 

Die  ganz  eigens  mir  gehören, 
Und  so  nenn  ich  alles  mein. 
Ja,  durch  Neigung  mir  verbunden. 
Fühlt  sich  jeder  aufgeheitert; 
Auch  mir  ist  das  Herz  erweitert, 
Und  die  Freiheit  dieser  Stunden 
Wird  mir  unvergeßlich  sein. 

Keine  Blumen  soll  man  streuen, 
Da  ich  mit  Bedauern  scheide. 
Geh,  o  Muse!  sag  den  Treuen, 
Daß  ich  selbst  mit  ihnen  leide: 
Schnell  war  mir  die  Stimde  da. 
Laßt  verstummen  alle  Lieder; 
Doch  auf  euren  Lippen  schwebet 
Jener  Wunsch,  der  mich  belebet. 
Wenn  ihr  lispelt:  Kehre  wieder! 
Habt  ihr  gleich  mein  oflfnes  Ja." 

Auf  denn,  Muse!  zu  verkünden. 
Was  die  Frau  dir  aufgetragen. — 
Lasset  alle  Nebel  schwinden! 
Laßt  die  schönste  Sonne  tagen! 
Weil  ein  jeder  hoffen  mag. 
Die  ihr  traurig  sie  begleitet, 
Eilt  entzückt  ihr  dann  entgegen; 
Und  ihr  bringt  auf  neuen  Wegen, 
Kaiserlich  umhergeleitet, 
Sie  herab  am  schönsten  Tag. 


[Von  Goethe?] 

SIEH,  wir  segnen  dich,  wir  bringen 
Dir  ein  bleibendes  Geschick, 
Und  auf  himmlisch  reinen  Schwingen 
Rxihet  über  dir  das  Glück. 


574  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

BLUMENGRUSS 

DER  Strauß,  den  ich  gepflücket, 
Grüße  dich  vieltausendmal! 
Ich  habe  mich  oft  gebücket, 
Ach,  wohl  eintausendmal, 
Und  ihn  ans  Herz  gedrücket 
Wie  hunderttausendmal! 

MAILIED 

ZWISCHEN  Weizen  und  Korn, 
Zwischen  Hecken  und  Dorn, 
Zwischen  Bäumen  und  Gras, 
Wo  gehts  Liebchen? 
Sag  mir  das! 

Fand  mein  Holdchen 
Nicht  daheim; 
Muß  das  Goldchen 
Draußen  sein. 
Grünt  imd  blühet 
Schön  der  Mai, 
Liebchen  ziehet 
Froh  und  frei. 

An  dem  Felsen  beim  Fluß, 
Wo  sie  reichte  den  Kuß, 
Jenen  ersten  im  Gras, 
Seh  ich  etwas! 
Ist  sie  das? 

Owie  lallt  das  Kind  so  faul! 
Hat  den  Brei  noch  nicht  verschluckt, 
Den  ihm  die  Mutter  strich  ins  Maul 

[An  die  Prinzessin  Christine  v.  Ligne] 

EIN  klein  Papier  hast  du  mir  abgewonnen, 
Ich  war  auf  größeres  gefaßt; 
Denn  viel  gewinnst  du  wohl,  worauf  du  nicht  gesonnen. 
Worum  du  nicht  gewettet  hast. 


i8io  REISE  NACH  BÖHMEN  575 

SIE  saugt  mit  Gier  verrätrisches  Getränke 
Unabgesetzt,  vom  ersten  Zug  verführt; 
Sie  fühlt  sich  wohl,  und  längst  sind  die  Gelenke 
Der  zarten  Beinchen  schon  paralysiert, 
Nicht  mehr  gewandt,  die  Flügelchen  zu  putzen, 
Nicht  mehr  geschickt,  das  Köpfchen  aufzustutzen — 
Das  Leben  so  sich  im  Genuß  verliert. 
Zum  Stehen  kaum  wird  noch  das  Füßchen  taugen; 
So  schlürft  sie  fort,  imd  mitten  unterm  Saugen 
Umnebelt  ihr  der  Tod  die  tausend  Augen. 


i8io-i8i2  WEIMAR 


GOETHE  XIV  37. 


ANTIKRITIK 

ARMER  Tobis,  tappst  am  Stabe 
Siebenfarbiger  Trödeleien, 
Kannst  dich  jener  Himmelsgabe 
Reinen  Lichtes  nicht  erfreuen; 

Nicht  erlustigen  dich  im  Schatten, 
Wo  mit  urgebotner  Liebe 
Licht  und  Finsternis  sich  gatten, 
Zu  verherrlichen  die  Trübe. 

VVerd  ihm  doch  die  kräftge  Salbe, 
Diesem  Armen,  bald  gesendet, 
Dem  die  theoretische  Schwalbe 
Augenkraft  und  -Lust  geblendet. 


NEVVTONISCH  Weiß  den  Kindern  vorzuzeigen, 
Die  pädagogischem  Ernst  so  gern  sich  neigen. 
Trat  einst  ein  Lehrer  auf,  mit  Schwungrads  Possen; 
Auf  selbem  war  ein  Farbenkreis  geschlossen. 
Das  dorlte  nun.    "Betracht  es  mir  genau! 
Was  siehst  du,  Knaber"  Nun,  was  seh  ich?   Grau! 
"Du  siehst  nicht  recht!  Glaubst  du,  daß  ich  das  leide? 
Weiß,  dummer  Junge,  Weiß!  so  sagts  MoUweide.'" 

GOTT,  GEMÜT  UND  WELT 

IN  wenig  Sttmden 
Hat  Gott  das  Rechte  gefunden. 


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ER  Gott  vertraut, 
Ist  schon  auferbaut. 


SOGAR  dies  Wort  hat  nicht  gelogen: 
Wen  Gott  betriegt,  der  ist  wohl  betrogen. 

DAS  Unser  Vater,  ein  schön  Gebet, 
Es  dient  und  hilft  in  allen  Nöten; 
Wenn  einer  auch  Vater  Unser  fleht. 
In  Gottes  Namen,  laß  ihn  beten. 


5  8 o  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

ICH  wandle  auf  weiter,  bunter  Flur 
Ursprünglicher  Natur; 
Ein  holder  Born,  in  welchem  ich  bade, 
Ist  Überlieferung,  ist  Gnade. 

WAS  war  ein  Gott,  der  nur  von  außen  stieße, 
Im  Kreis  das  All  am  Finger  laufen  ließe! 
Ihm  ziemts,  die  Welt  im  Innern  zu  bewegen, 
Natur  in  Sich,  Sich  in  Natur  zu  hegen, 
So  daß,  was  in  Ihm  lebt  und  webt  und  ist. 
Nie  Seine  Kraft,  nie  Seinen  Geist  vermißt. 

IM  Innern  ist  ein  Universum  auch; 
Daher  der  Völker  löblicher  Gebrauch, 
Daß  jeglicher  das  Beste,  was  er  kennt. 
Er  Gott,  ja  seinen  Gott  benennt. 
Ihm  Himmel  und  Erden  übergibt, 
Ihn  fürchtet,  und  womöglich  liebt. 


w 


IE?  Wann?  und  Wo? — Die  Götter  bleiben  stumm! 
Du  halte  dich  ans  Weil,  und  frage  nicht  Warum? 


WILLST  du  ins  Unendliche  schreiten,  4 

Geh  nur  im  Endlichen  nach  allen  Seiten.  | 

WILLST  du  dich  am  Ganzen  erquicken, 
So  mußt  du  das  Ganze  im  Kleinsten  erblicken. 

AUS  tiefem  Gemüt,  aus  der  Mutter  Schoß 
Will  manches  dem  Tage  entgegen; 
Doch  soll  das  Kleine  je  werden  groß. 
So  muß  es  sich  rühren  und  regen. 

DA,  wo  das  Wasser  sich  entzweit, 
Wird  zuerst  Lebendigs  befreit. 

UND  wird  das  Wasser  sich  entfalten, 
Sogleich  wird  sichs  lebendig  gestalten; 
Da  wälzen  sich  Tiere,  sie  trocknen  zum  Flor, 
Und  Pflanzen- Gezweige,  sie  dringen  hervor. 


i8io/2   WEIMAR  581 

DURCHSICHTIG  erscheint  die  Luft  so  rein, 
Und  trägt  im  Busen  Stahl  und  Stein. 
Entzündet  werden  sie  sich  begegnen; 
Da  wirds  Metall  und  Steine  regnen. 

DENN  was  das  Feuer  lebendig  erfaßt, 
Bleibt  nicht  mehr  Unform  und  Erdenlast. 
Verflüchtigt  wird  es  xmd  unsichtbar, 
Eilt  hinauf,  wo  erst  sein  Anfang  war. 

UND  so  kommt  wieder  zur  Erde  herab, 
Dem  die  Erde  den  Ursprung  gab. 
Gleicherweise  sind  wir  auch  gezüchtigt: 
Einmal  gefestet,  einmal  verflüchtigt. 

UND  wer  durch  alle  die  Elemente, 
Feuer,  Luft,  Wasser  und  Erde,  rennte, 
Der  wird  zuletzt  sich  überzeugen. 
Er  sei  kein  Wesen  ihresgleichen. 


Wt; 


AS  will  die  Nadel  nach  Norden  gekehrt?" 
ch  selbst  zu  finden,  es  ist  ihr  verwehrt. 


DIE  endliche  Ruhe  wird  nur  verspürt, 
Sobald  der  Pol  den  Pol  berührt. 

DRUM  danket  Gott,  ihr  Söhne  der  Zeit, 
Daß  er  die  Pole  für  ewig  entzweit. 

MAGNETES  Geheimnis,  erkläre  mir  das! 
Kein  größer  Geheimnis  als  Lieb  und  Haß. 

WIRST  du  deinesgleichen  kennen  lernen, 
So  wirst  du  dich  gleich  wieder  entfernen. 

WARUM  tanzen  Bübchen  mit  Mädchen  so  gern? 
Ungleich  dem  Gleichen  bleibet  nicht  fern. 

SIND  Könige  je  zusammengekommen, 
So  hat  man  immer  nur  Unheil  vernommen. 


582  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

DAGEGEN  die  Bauern  in  der  Schenke 
Prügeln  sich  gleich  mit  den  Beinen  der  Bänke. 

DER  Amtmann  schnell  das  Übel  stillt, 
Weil  er  nicht  für  ihresgleichen  gilt. 

SOLL  dein  Kompaß  dich  richtig  leiten 
Hüte  dich  vor  Magnetstein',  die  dich  begleiten. 

VERDOPPELTE  sich  der  Sterne  Schein, 
Das  All  wird  ewig  finster  sein. 

UND  was  sich  zwischen  beide  stellt?" 
Dein  Auge,  so  wie  die  Körperwelt. 

AN  der  Finsternis  zusammengeschrunden, 
Wird  dein  Auge  vom  Licht  entbunden. 

SCHWARZ  und  Weiß,  eine  Totenschau, 
Vermischt  ein  niederträchtig  Grau. 


w 


ILL  Licht  einem  Körper  sich  vermählen, 
Es  wird  den  ganz  durchsichtgen  wählen. 


D 


U  aber  halte  dich  mit  Liebe 

An  das  Durchscheinende,  das  Trübe. 


DENN  steht  das  Trübste  vor  der  Sonne, 
Da  siehst  die  herrlichste  Purpur- Wonne. 

UND  will  das  Licht  sich  dem  Trübsten  entwinden, 
So  wird  es  glühend  Rot  entzünden. 

UND  wie  das  Trübe  verdunstet  und  weicht, 
Das  Rote  zum  hellsten  Gelb  erbleicht. 

IST  endlich  der  Äther  rein  und  klar, 
Ist  das  Licht  weiß,  wie  es  anfangs  war. 


i8io/2   WEIMAR  583 

STEHT  vor  dem  Finstem  milchig  Grau, 
Die  Sonne  bescheints,  da  wird  es  Blau. 

AUF  Bergen,  in  der  reinsten  Höhe, 
Tief  Rötlichblau  ist  Himmelsnähe. 

DU  staunest  über  die  Königspracht, 
Und  gleich  ist  sammetschwarz  die  Nacht. 

UND  so  bleibt  auch,  in  ewigem  Frieden, 
Die  Finsternis  vom  Licht  geschieden. 

DASS  sie  miteinander  streiten  können, 
Das  ist  eine  bare  Torheit  zu  nennen. 

SIE  streiten  mit  der  Körperwelt, 
Die  sie  ewig  auseinander  hält. 


SPRICHWÖRTLICH 

WENN  ich  den  Scherz  will  ernsthaft  nehmen, 
So  soll  mich  niemand  drum  beschämen; 
Und  wenn  ich  den  Ernst  will  scherzhaft  treiben, 
So  werd  ich  immer  derselbe  bleiben. 

DIE  Lust,  zu  reden,  kommt  zu  rechter  Stunde, 
Und  wahrhaft  fließt  das  Wort  aus  Herz  imd  Munde. 

ICH  sah  mich  um,  an  vielen  Orten, 
Nach  lustigen  gescheiten  Worten; 
An  bösen  Tagen  mußt  ich  mich  freuen, 
Daß  diese  die  besten  Worte  verleihen. 

WILLST  lustig  leben, 
Geh  mit  zwei  Säcken, 
Einen  zum  Geben, 
Einen  um  einzustecken. 
Da  gleichst  du  Prinzen, 
Plünderst  imd  beglückst  Provinzen. 


584  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

AS  in  der  Zeiten  Bildersaal 
Jemals  ist  trefiflich  gewesen, 
Das  wird  immer  einer  einmal 
Wieder  auffrischen  und  lesen. 


Wi 


NICHT  jeder  wandelt  nur  gemeine  Stege: 
Du  siehst,  die  Spinnen  bauen  luftge  Wege. 

EIN  Kranz  ist  gar  viel  leichter  binden, 
Als  ihm  ein  würdig  Haupt  zu  finden. 

WIE  die  Pflanzen  zu  wachsen  belieben, 
Darin  wird  jeder  Gärtner  sich  üben; 
Wo  aber  des  Menschen  Wachstum  ruht, 
Dazu  jeder  selbst  das  Beste  tut. 

WILLST  du  dir  aber  das  Beste  tun. 
So  bleib  nicht  auf  dir  selber  ruhn, 
Sondern  folg  eines  Meisters  Sinn; 
Mit  ihm  zu  irren  ist  dir  Gewinn. 

BENUTZE  redlich  deine  Zeit! 
Willst  was  begreifen,  suchs  nicht  weit. 

ZWISCHEN  heut  und  morgen 
Liegt  eine  lange  Frist; 
Lerne  schnell  besorgen, 
Da  du  noch  munter  bist. 

DIE  Tinte  macht  uns  wohl  gelehrt, 
Doch  ärgert  sie,  wo  sie  nicht  hingehört. 
Geschrieben  Wort  ist  Perlen  gleich; 
Ein  Tintenklecks  ein  böser  Streich. 

WENN  man  fürs  Künftige  was  erbaut, 
Schief  wirds  von  vielen  angeschaut. 
Tust  du  was  für  den  Augenblick, 
Vor  allem  opfre  du  dem  Glück. 


i8io/2  WEIMAR  585 

TU  nur  das  Rechte  in  deinen  Sachen; 
Das  andre  wird  sich  von  selber  machen. 

WENN  jemand  sich  wohl  im  Kleinen  deucht, 
So  denke:  der  hat  ein  Großes  erreicht. 

GLAUBE  nur,  du  hast  viel  getan, 
Wenn  dir  Geduld  gewöhnest  an. 

WER  sich  nicht  nach  der  Decke  streckt, 
Dem  bleiben  die  Füße  unbedeckt. 

DER  Vogel  ist  froh  in  der  Luft  gemutet. 
Wenn  es  da  unten  im  Neste  brütet. 

WENN  ein  kluger  Mann  der  Frau  befiehlt, 
Dann  sei  es  um  ein  Großes  gespielt; 
Will  die  Frau  dem  Mann  befehlen, 
So  muß  sie  das  Große  im  Kleinen  wählen. 

WELCHE  Frau  hat  einen  guten  Mann, 
Der  sieht  maus  am  Gesicht  wohl  an. 

EINE  Frau  macht  oft  ein  bös  Gesicht, 
Der  gute  Mann  verdients  wohl  nicht. 

EIN  braver  Mann!  ich  kenn  ihn  ganz  genau: 
Erst  prügelt  er,  dann  kämmt  er  seine  Frau. 

EIN  schönes  Ja,  ein  schönes  Nein, 
Nur  geschwind!  soll  mir  willkommen  sein. 

TANUAR,  Februar,  März, 
J  Du  bist  mein  liebes  Herz. 
Mai,  Juni,  Juli,  August, 

Mir  ist  nichts  mehr  bewußt. 


N 


EU -MOND  und  geküßter  Mund 

Sind  gleich  wieder  hell,  und  frisch  und  gesund. 


M 


IR  gab  es  keine  größre  Pein, 
War  ich  im  Paradies  allein. 


586  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

ES  ließe  sich  alles  trefflich  schlichten, 
Könnte  man  die  Sachen  zweimal  verrichten. 

NUR  heute,  heute  nur  laß  dich  nicht  fangen, 


z 


T 


\  So  bist  du  hundertmal  entgangen. 

GEHTS  in  der  Welt  dir  endlich  schlecht, 
Tu,  was  du  willst,  nur  habe  nicht  recht. 

ÜCHTGE  den  Hund,  den  Wolf  magst  du  peitschen; 
Graue  Haare  sollst  du  nicht  reizen. 

AM  Flusse  kannst  du  stemmen  und  häkeln; 
Überschwemmung  läßt  sich  nicht  mäkeln. 

AUSEND  Fliegen  hatt  ich  am  Abend  erschlagen; 
Doch  weckte  mich  Eine  beim  frühsten  Tagen. 


WÜSSTE  nicht,  was  sie  Bessers  erfinden  könnten, 
Als  wenn  die  Lichter  ohne  Putzen  brennten. 

LIEF'  das  Brot,  wie  die  Hasen  laufen. 
Es  kostete  viel  Schweiß,  es  zu  kaufen. 

WILL  Vogelfang  dir  nicht  geraten, 
So  magst  du  deinen  Schuhu  braten. 

DU  mußt  dich  niemals  mit  Schwur  vermessen: 
Von  dieser  Speise  will  ich  nicht  essen. 

WER  aber  recht  bequem  ist  und  faul, 
Flog  dem  eine  gebratne  Taube  ins  Maul, 
Er  würde  höchlich  sichs  verbitten. 
War  sie  nicht  auch  geschickt  zerschnitten. 

FREIGEBIG  ist  der  mit  seinen  Schritten, 
Der  kommt,  von  der  Katze  Speck  zu  erbitten. 

HAST  deine  Kastanien  zu  lange  gebraten; 
Sie  sind  dir  alle  zu  Kohlen  geraten. 


D 
D 


1 8 10/2  WEIMAR  587 

AS  sind  mir  allzu  böse  Bissen, 

An  denen  die  Gäste  erwürgen  müssen. 

AS  ist  eine  von  den  großen  Taten, 
Sich  in  seinem  eignen  Fett  zu  braten. 


GESOTTEN  oder  gebraten! 
Er  ist  ans  Feuer  geraten. 

GEBRATEN  oder  gesotten! 
Ihr  sollt  nicht  meiner  spotten. 
Was  ihr  euch  heute  getröstet, 
Ihr  seid  doch  morgen  geröstet. 

WER  Ohren  hat,  soll  hören; 
Wer  Geld  hat,  solls  verzehren. 


D 


ER  Mutter  schenk  ich, 
Die  Tochter  denk  ich. 


KLEID'  eine  Säule, 
Sie  sieht  wie  ein  Fräule. 

SCHLAF  ich,  so  schlaf  ich  mir  bequem; 
Arbeit  ich,  ja,  ich  weiß  nicht  wem. 

GANZ  und  gar 
Bin  ich  ein  armer  Wicht. 
Meine  Träume  sind  nicht  wahr, 
Und  meine  Gedanken  geraten  nicht. 


m: 


IT  meinem  Willen  mags  geschehn! — 
Die  Träne  wird  mir  in  dem  Auge  stehn. 


WOHL  unglückselig  ist  der  Mann, 
Der  unterläßt  das,  was  er  kann. 
Und  unterfängt  sich,  was  er  nicht  versteht; 
Kein  Wunder,  daß  er  zugnmde  geht. 

DU  trägst  sehr  leicht,  wenn  du  nichts  hast; 
Aber  Reichtum  ist  eine  leichtere  Last. 


588  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

ALLES  in  der  Welt  läßt  sich  ertragen, 
Nur  nicht  eine  Reihe  von  schönen  Tagen. 


w 


AS  räucherst  du  nun  deinem  Toten? 
Hättst  dus  ihm  so  im  Leben  geboten! 


JA!  Wer  eure  Verehrung  nicht  kennte: 
Euch,  nicht  ihm,  baut  ihr  Monumente. 

WILL  einer  in  die  Wüste  predgen. 
Der  mag  sich  von  sich  selbst  erledgen; 
Spricht  aber  einer  zu  seinen  Brüdern, 
Dem  werden  sies  oft  schlecht  erwidern. 

LASS  Neid  und  Mißgunst  sich  verzehren. 
Das  Gute  werden  sie  nicht  wehren. 
Denn,  Gott  sei  Dank!  es  ist  ein  alter  Brauch: 
Soweit  die  Sonne  scheint,  so  weit  erwärmt  sie  auch. 

DAS  Interim 
Hat  den  Schalk  hinter  ihm. 
Wie  viel  Schälke  muß  es  geben, 
Da  wir  alle  ad  Interim  leben. 

WAS  fragst  du  viel:  Wo  wills  hinaus? 
Wo  oder  wie  kanns  enden? 
Ich  dächte,  Freund,  du  bliebst  zu  Haus 
Und  sprächst  mit  deinen  Wänden. 

VIELE  Köche  versalzen  den  Brei; 
Bewahr  uns  Gott  vor  vielen  Dienern! 
Wir  aber  sind,  gesteht  es  frei, 
Ein  Lazarett  von  Medizinern. 

IHR  meint,  ich  hätt  mich  gewaltig  betrogen; 
Habs  aber  nicht  aus  den  Fingern  gesogen. 

NOCH  spukt  der  babylonsche  Turm, 
Sie  sind  nicht  zu  vereinen! 
Ein  jeder  Mann  hat  seinen  Wurm, 
Kopernikus  den  seinen. 


V 


i8io/2  WEIMAR  589 

DENN  bei  den  alten,  lieben  Toten 
Braucht  man  Erklärung,  will  man  Noten; 
Die  Neuen  glaubt  man  blank  zu  verstehn, 
Doch  ohne  Dolmetsch  wirds  auch  nicht  gehn. 

SIE  sagen:  Das  mutet  mich  nicht  an! 
Und  meinen,  sie  hättens  abgetan. 

IN  meinem  Revier 
Sind  Gelehrte  gewesen; 
Außer  ihrem  eignen  Brevier 
Konnten  sie  keines  lesen. 

lEL  Rettungsmittel  bietest  du!  was  heißts? 
Die  beste  Rettung:  Gegenwart  des  Geists! 

LASS  nur  die  Sorge  sein, 
Das  gibt  sich  alles  schon; 
Und  fällt  der  Himmel  ein. 
Kommt  doch  eine  Lerche  davon. 

DANN  ist  einer  durchaus  verarmt, 
Wenn  die  Scham  den  Schaden  umarmt. 

DU  treibst  mirs  gar  zu  toll, 
Ich  furcht,  es  breche! 
Nicht  jeden  Wochenschluß 
Macht  Gott  die  Zeche. 

DU  bist  sehr  eilig,  meiner  Treu! 
Du  suchst  die  Tür,  und  läufst  vorbei. 

SIE  glauben,  miteinander  zu  streiten. 
Und  fühlen  das  Unrecht  von  beiden  Seiten. 

HABENS  gekauft,  es  freut  sie  baß; 
Eh  mans  denkt,  so  betrübt  sie  das. 

WILLST  du  nichts  Unnützes  kaufen, 
Mußt  du  nicht  auf  den  Jahrmarkt  laufen. 


590  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

ANGEWEILE  ist  ein  böses  Kraut, 
^Aber  auch  eine  Würze,  die  viel  verdaut. 


W 


IRD  uns  eine  rechte  Qual  zuteil, 
Dann  wünschen  wir  uns  Langeweil. 

DASS  sie  die  Kinder  erziehen  könnten, 
Müßten  die  Mütter  sein  wie  Enten: 
Sie  schwämmen  mit  ihrer  Brut  in  Ruh; 
Da  gehört  aber  freilich  Wasser  dazu. 

DAS  junge  Volk,  es  bildet  sich  ein, 
Sein  Tauftag  sollte  der  Schöpfungstag  sein. 
Möchten  sie  doch  zugleich  bedenken. 
Was  wir  ihnen  als  Eingebinde  schenken. 

NEIN!  heut  ist  mir  das  Glück  erbost!"— 
Du,  sattle  gut  und  reite  getrost! 

ÜBER  ein  Ding  wird  viel  geplaudert, 
Viel  beraten  und  lange  gezaudert, 
Und  endlich  gibt  ein  böses  Muß 
Der  Sache  widrig  den  Beschluß. 

EINE  Bresche  ist  jeder  Tag, 
Die  viele  Menschen  erstürmen. 
Wer  auch  in  die  Lücke  fallen  mag, 
Die  Toten  sich  niemals  türmen. 

WENN  einer  schiffet  und  reiset, 
Sammelt  er  nach  imd  nach  immer  ein, 
Was  sich  am  Leben,  mit  mancher  Pein, 
Wieder  ausschälet  imd  weiset. 

DER  Mensch  erfährt,  er  sei  auch,  wer  er  mag, 
Ein  letztes  Glück  und  einen  letzten  Tag. 

DAS  Glück  deiner  Tage 
Wäge  nicht  mit  der  Goldwage. 
Wirst  du  die  Krämer-Wage  nehmen. 
So  wirst  du  dich  schämen  und  dich  bequemen. 


i8io/2  WEIMAR  591 

HAST  du  einmal  das  Rechte  getan 
Und  sieht  ein  Feind  nur  Scheeles  daran, 
So  wird  er  gelegentlich,  spät  oder  früh. 
Dasselbe  tun,  er  weiß  nicht  wie. 

WILLST  du  das  Gute  tun,  mein  Sohn, 
So  lebe  nur  lange,  da  gibt  sichs  schon; 
Solltest  du  aber  zu  früh  ersterben, 
Wirst  du  von  Künftigen  Dank  erwerben. 


w 


AS  gibt  uns  wohl  den  schönsten  Frieden, 
Als  frei  am  eignen  Glück  zu  schmieden? 


LASST  mir  die  jungen  Leute  nur 
Und  ergetzt  euch  an  ihren  Gaben! 
Es  will  doch  Großmama  Natur 
Manchmal  einen  närrischen  Einfall  haben. 

UNGEBILDET  waren  wir  unangenehm; 
Jetzt  sind  uns  die  Neuen  sehr  unbequem. 


w 


O  Anmaßung  mir  wohlgefällt? 

An  Kindern:  denen  gehört  die  Welt. 


IHR  zählt  mich  immer  unter  die  Frohen; 
Erst  lebt  ich  roh,  jetzt  unter  den  Rohen. 
Den  Fehler,  den  man  selbst  geübt, 
Man  auch  wohl  an  dem  andern  liebt. 

WILLST  du  mit  mir  hausen. 
So  laß  die  Bestie  draußen. 

WOLLEN  die  Menschen  Bestien  sein, 
So  bringt  nur  Tiere  zur  Stube  herein; 
Das  Widerwärtige  wird  sich  mindern, 
Wir  sind  eben  alle  von  Adams  Kindern. 


M 


IT  Narren  leben  wird  dir  gar  nicht  schwer, 
Erhalte  nur  ein  Tollhaus  um  dich  her. 


592  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

'AG  mir,  was  ein  Hypochondrist 
>Für  ein  wunderlicher  Kunstfreund  ist. 
In  Bildergalerien  geht  er  spazieren 
Vor  lauter  Gemälden,  die  ihn  vexieren. 


DER  Hypochonder  ist  bald  kuriert, 
Wenn  euch  das  Leben  recht  kujoniert. 

DU  sollst  mit  dem  Tode  zufrieden  sein, 
Warum  machst  du  dir  das  Leben  zur  Pein? 

KEIN  tolleres  Versehn  kann  sein. 
Gibst  einem  ein  Fest  und  lädst  ihn  nicht  ein. 


D 


A  siehst  du  nun,  wie's  einem  geht, 
Weil  sich  der  Beste  von  selbst  versteht. 


WENN  ein  Edler  gegen  dich  fehlt. 
So  tu,  als  hättest  dus  nicht  gezählt; 
Er  wird  es  in  sein  Schuldbuch  schreiben 
Und  dir  nicht  lange  im  Debet  bleiben. 

SUCHE  nicht  vergebne  Heilung! 
Unsrer  Krankheit  schwer  Geheimnis 
Schwankt  zwischen  Übereilung 
Und  zwischen  Versäumnis. 

JA,  schelte  nur  und  fluche  fort, 
Es  wird  sich  Beßres  nie  ergeben; 
Denn  Trost  ist  ein  absurdes  Wort: 
Wer  nicht  verzweiflen  kann,  der  muß  nicht  leben. 

ICH  soll  nicht  auf  den  Meister  schwören. 
Und  immerfort  den  Meister  hören! 
Nein,  ich  weiß,  er  kann  nicht  lügen, 
Will  mich  gern  mit  ihm  betrügen. 

MICH  freuen  die  vielen  Guten  und  Tüchtgen, 
Obgleich  so  viele  dazwischen  helfen. 
Die  Deutschen  wissen  zu  berichtgen, 
Aber  sie  verstehen  nicht  nachzuhelfen. 


i8io/2  WEIMAR  593 

DU  kommst  nicht  ins  Ideen-Land!" 
So  bin  ich  doch  am  Ufer  bekannt. 
Wer  die  Inseln  nicht  zu  erobern  glaubt, 
Dem  ist  Ankerwerfen  doch  wohl  erlaubt. 

MEINE  Dichterglut  war  sehr  gering, 
Solang  ich  dem  Guten  entgegen  ging; 
Dagegen  brannte  sie  lichterloh. 
Wenn  ich  vor  drohendem  Übel  floh. 

ZART  Gedicht,  wie  Regenbogen, 
Wird  nur  auf  dunklen  Grund  gezogen; 
Darum  behagt  dem  Dichtergenie 
Das  Element  der  Melancholie. 

KAUM  hatt  ich  mich  in  die  Welt  gespielt 
Und  fing  an  aufzutauchen. 
Als  man  mich  schon  so  vornehm  hielt, 
Mich  zu  mißbrauchen. 


WER  dem  Publikum  dient,  ist  ein  armes  Tier; 
Er  quält  sich  ab,  niemand  bedankt  sich  dafür. 


GLEICH  zu  sein  unter  Gleichen, 
Das  läßt  sich  schwer  erreichen: 
Du  müßtest,  ohne  Verdrießen, 
Wie  der  Schlechteste  zu  sein  dich  entschließen. 

MAN  kann  nicht  immer  zusammenstehn. 
Am  wenigsten  mit  großen  Haufen. 
Seine  Freunde,  die  läßt  man  gehn. 
Die  Menge  läßt  man  laufen. 

DU  magst  an  dir  das  Falsche  nähren. 
Allein  wir  lassen  vms  nicht  stören; 
Du  kannst  uns  loben,  kannst  ims  schelten, 
Wir  lassen  es  nicht  für  das  Rechte  gelten. 

GOETHE  XIV  38. 


594  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

MAN  soll  sich  nicht  mit  Spöttern  befassen; 
Wer  will  sich  für  'nen  Narren  halten  lassen! 
Darüber  muß  man  sich  aber  zerreißen, 
Daß  man  Narren  nicht  darf  Narren  heißen. 

/^HRISTKINDLEIN  trägt  die  Sünden  der  Welt, 
V^Sankt  Christoph  das  Kind  über  Wasser  hält; 
Sie  haben  es  beid  uns  angetan, 
Es  geht  mit  uns  von  vornen  an. 

EFEU  und  ein  zärtlich  Gemüt 
Heftet  sich  an  imd  grünt  und  blüht. 
Kann  es  weder  Stamm  noch  Mauer  finden, 
Es  muß  verdorren,  es  muß  verschwinden. 


z 


lERLICH  Denken  tmd  süß  Erinnern 
Ist  das  Leben  im  tiefsten  Innern. 


ICH  träumt  und  liebte  sonnenklar; 
Daß  ich  lebte,  ward  ich  gewahr. 

WER  recht  will  ttm,  immer  und  mit  Lust, 
Der  hege  wahre  Lieb  in  Sinn  und  Brust. 

WANN  magst  du  dich  am  liebsten  bücken?-' 
Dem  Liebchen  Frühlingsblume  zu  pflücken. 

DOCH  das  ist  gar  kein  groß  Verdienst, 
Denn  Liebe  bleibt  der  höchste  Gewinst. 

DIE  Zeit,  sie  mäht  so  Rosen  als  Domen, 
Aber  das  treibt  immer  wieder  von  vornen. 

GENIESSE,  was  der  Schmerz  dir  hinterließ! 
Ist  Not  vorüber,  sind  die  Nöte  süß. 

VIELE  Lieb  hab  ich  erlebet, 
Wenn  ich  liebelos  gestrebet; 
Und  Verdrießliches  erworben. 
Wenn  ich  fast  für  Lieb  gestorben. 
So  du  es  zusammengezogen, 
Bleibet  Saldo  dir  gewogen. 


i8io/2  WEIMAR  595 

TUT  dir  jemand  was  zulieb, 
Nur  geschwinde,  gib  nur,  gib. 
Wenige  getrost  erwarten 
Dankesblume  aus  stillem  Garten. 

DOPPELT  gibt,  wer  gleich  gibt, 
Hundertfach,  der  gleich  gibt. 
Was  man  wünscht  und  liebt. 

WARUM  zauderst  du  so  mit  deinen  Schritten?" 
Nur  ungern  mag  ich  ruhn; 
Will  ich  aber  was  Gutes  tun, 
Muß  ich  erst  tun  Erlaubnis  bitten. 

WAS  willst  du  lange  vigilieren. 
Dich  mit  der  Welt  herumvexieren? 
Nur  Heiterkeit  und  grader  Sinn 
Verschafft  dir  endlichen  Gewinn. 


w 


EM  wohl  das  Glück  die  schönste  Palme  beut? 
Wer  freudig  tut,  sich  des  Getanen  freut. 


GLEICH  ist  alles  versöhnt; 
Wer  redlich  ficht,  wird  gekrönt. 

DU  wirkest  nicht,  alles  bleibt  so  stiunpf. 
Sei  guter  Dinge! 
Der  Stein  im  Sumpf 
Macht  keine  Ringe. 

IN  des  Weinstocks  herrliche  Gaben 
Gießt  ihr  mir  schlechtes  Gewässer! 
Ich  soll  immer  unrecht  haben, 
Und  weiß  es  besser. 

WAS  ich  mir  gefallen  lasse? 
Zuschlagen  muß  die  Masse, 
Dann  ist  sie  respektabel; 
Urteilen  gelingt  ihr  miserabel. 


596  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

'S  ist  sehr  schwer  oft,  zu  ergründen, 
/Warum  wir  das  angefangen; 
Wir  müssen  oft  Belohnung  finden, 
Daß  es  uns  schlecht  ergangen. 


SEH  ich  an  andern  große  Eigenschaften, 
Und  wollen  die  an  mir  auch  haften. 
So  werd  ich  sie  in  Liebe  pflegen; 
Gehts  nicht,  so  tu  ich  was  anders  dagegen. 

ICH,  Egoist! — Wenn  ichs  nicht  besser  wüßte! 
Der  Neid,  das  ist  der  Egoiste; 
Und  was  ich  auch  für  Wege  gelofFen, 
Aufm  Neidpfad  habt  ihr  mich  nie  betroffen. 

NICHT  über  Zeit-  noch  Landgenossen 
Mußt  du  dich  beklagen; 
Nachbarn  werden  ganz  andere  Possen, 
Und  auch  Künftige,  über  dich  sagen. 

IM  Vaterlande 
Schreibe,  was  dir  gefällt: 
Da  sind  Liebesbande, 
Da  ist  deine  Welt. 


DRAUSSEN  zu  wenig  oder  zu  viel. 
Zu  Hause  nur  ist  Maß  und  Ziel. 


WARUM  werden  die  Dichter  beneidet: 
Weil  Unart  sie  zuweilen  kleidet, 
Und  in  der  Welt  ists  große  Pein, 
Daß  wir  nicht  dürfen  unartig  sein. 

SO  kommt  denn  auch  das  Dichtergenie 
Durch  die  Welt,  und  weiß  nicht  wie. 
Guten  Vorteil  bringt  ein  heitrer  Sinn; 
Andern  zerstört  Verlust  den  Gewinn. 


i8io/2  WEIMAR  597 

IMMER  denk  ich:  mein  Wunsch  ist  erreicht, 
Und  gleich  gehts  wieder  anders  her!" 
Zerstückle  das  Leben,  du  machst  dirs  leicht; 
Vereinige  es,  und  du  machst  dirs  schwer. 

BIST  du  denn  nicht  auch  zugrunde  gerichtet? 
Von  deinen  Hoffnungen  trifft  nichts  ein!" 
Die  Hoffnung  ists,  die  sinnet  und  dichtet, 
Und  da  kann  ich  noch  immer  lustig  sein. 

NICHT  alles  ist  an  Eins  gebunden; 
Seid  niu:  nicht  mit  euch  selbst  im  Streit! 
Mit  Liebe  endigt  man,  was  man  erfunden; 
Was  man  gelernt,  mit  Sicherheit. 

WER  ims  am  strengsten  kritisiert? 
Ein  Dilettant,  der  sich  resigniert. 

DURCH  Vernünfteln  wird  Poesie  vertrieben, 
Aber  sie  mag  das  Vernünftige  lieben. 


W 


O  ist  der  Lehrer,  dem  man  glaubt?" 
Tu,  was  dir  dein  kleines  Gemüt  erlaubt. 


GLAUBST  dich  zu  kennen,  wirst  Gott  nicht  erkennen, 
Auch  wohl  das  Schlechte  göttlich  nennen. 

WER  Gott  ahnet,  ist  hoch  zu  halten, 
Denn  er  wird  nie  im  Schlechten  walten. 


M 


ACHTS  einander  nur  nicht  sauer; 
Hier  sind  wir  gleich,  Baron  und  Bauer. 


WARUM  uns  Gott  so  wohlgefällt: 
Weil  er  sich  uns  nie  in  den  Weg  stellt. 


W 


IE  wollten  die  Fischer  sich  nähren  und  retten, 
Wenn  die  Frösche  sämtlich  Zähne  hätten? 


598  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

WIE  Kirschen  und  Beeren  behagen, 
Mußt  du  Kinder  und  Sperlinge  fragen. 

WARUM  hat  dich  das  schöne  Kind  verlassen? ' ' 
Ich  kann  sie  darum  doch  nicht  hassen: 
Sie  schien  zu  fürchten  und  zu  fühlen, 
Ich  werde  das  Prävenire  spielen. 

GLAUBE  mir  gar  imd  ganz, 
Mädchen,  laß  deine  Bein'  in  Ruh; 
Es  gehört  mehr  zum  Tanz 
Als  rote  Schuh. 


WAS  ich  nicht  weiß, 
Macht  mich  nicht  heiß. 
Und  was  ich  weiß. 
Machte  mich  heiß, 
Wenn  ich  nicht  wüßte, 
Wie's  werden  müßte. 

OFT,  wenn  dir  jeder  Trost  entflieht, 
Mußt  du  im  stillen  dich  bequemen. 
Nur  dann,  wenn  dir  Gewalt  geschieht. 
Wird  die  Menge  an  dir  Anteil  nehmen; 
Ums  Unrecht,  das  dir  widerfährt. 
Kein  Mensch  den  Blick  zur  Seite  kehrt. 


w 


AS  ärgerst  du  dich  über  fälschlich  Erhobne! 
Wo  gab  es  denn  nicht  Eingeschobne? 


WORAUF  alles  ankommt?  Das  ist  sehr  simpel! 
Vater,  verfüge,  ehs  dein  Gesind  spürt! 
Dahin  oder  dorthin  flattert  ein  Wimpel, 
Steuermann  weiß,  wohin  euch  der  Wind  führt. 

EIGENHEITEN,  die  werden  schon  haften; 
Kultiviere  deine  Eigenschaften. 


i8io/2   WEIMAR  599 

VIEL  Gewohnheiten  darfst  du  haben, 
Aber  keine  Gewohnheit! 
Dies  Wort,  unter  des  Dichters  Gaben, 
Halte  nicht  für  Torheit. 

DAS  Rechte,  das  ich  viel  getan, 
Das  ficht  mich  nun  nicht  weiter  an; 
Aber  das  Falsche,  das  mir  entschlüpft, 
Wie  ein  Gespenst  mir  vor  Augen  hüpft. 

GEBT  mir  zu  tun, 
Das  sind  reiche  Gabenl 
Das  Herz  kann  nicht  mhn, 
Will  zu  schaffen  haben. 

IHRER  viele  wissen  viel. 
Von  der  Weisheit  sind  sie  weit  entfernt. 
Andre  Leute  sind  euch  ein  Spiel; 
Sich  selbst  hat  niemand  ausgelernt. 

MAN  hat  ein  Schimpf- Lied  auf  dich  gemacht; 
Es  hats  ein  böser  Feind  erdacht." 

LASS  sies  nur  immer  singen. 
Denn  es  wird  bald  verklingen. 

DAUERT  nicht  so  lang  in  den  Landen 
Als  das:  Christ  ist  erstanden. 

DAS  dauert  schon  1800  Jahr 
Und  ein  paar  drüber,  das  ist  wohl  wahri 

WER  ist  denn  der  souveräne  Mann? 
Das  ist  bald  gesagt: 
Der,  den  man  nicht  hindern  kann, 
Ob  er  nach  Gutem  oder  Bösem  jagt. 

ENTZWEI'  imd  gebiete!  Tüchtig  Wort; 
Verein'  und  leite!  Beßrer  Hort. 


6oo  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

TAGST  du  einmal  mich  hintergehen, 
LMerk  ichs,  so  lass  ichs  wohl  geschehen; 
Gestehst  du  mirs  aber  ins  Gesicht, 
In  meinem  Leben  verzeih  ichs  nicht. 


M; 


NICHT  größern  Vorteil  wüßt  ich  zu  nennen, 
Als  des  Feindes  Verdienst  erkennen. 

HAT  man  das  Gute  dir  erwidert.-" 
Mein  Pfeil  flog  ab,  sehr  schön  befiedert; 
Der  ganze  Himmel  stand  ihm  offen. 
Er  hat  wohl  irgendwo  getroffen. 

WAS  schnitt  dein  Freund  für  ein  Gesicht?" 
Guter  Geselle,  das  versteh  ich  nicht. 
Ihm  ist  wohl  sein  süß  Gesicht  verleidet, 
Daß  er  heut  saure  Gesichter  schneidet. 

IHR  sucht  die  Menschen  zu  benennen 
Und  glaubt,  am  Namen  sie  zu  kennen. 
Wer  tiefer  sieht,  gesteht  sich  frei. 
Es  ist  was  Anonymes  dabei. 

MANCHERLEI  hast  du  versäumet: 
Statt  zu  handeln,  hast  geträumet, 
Statt  zu  danken,  hast  geschwiegen, 
Solltest  wandern,  bliebest  liegen." 

NEIN,  ich  habe  nichts  versäumet! 
Wißt  ihr  denn,  was  ich  geträumet.- 
Nun  will  ich  zum  Danke  fliegen. 
Nur  mein  Bündel  bleibe  liegen. 

HEUTE  geh  ich.  Komm  ich  wieder, 
Singen  wir  ganz  andre  Lieder. 
Wo  so  viel  sich  hoffen  läßt, 
Ist  der  Abschied  ja  ein  Fest. 


w 


AS  soll  ich  viel  lieben,   was  soll  ich  viel  hassen? 
Man  lebt  nur  vom  leben  lassen. 


i8io/2  WEIMAR  60 1 

NICHTS  leichter,  als  dem  Dürftigen  schmeicheln; 
Wer  mag  aber  ohne  Vorteil  heucheln? 


w 


IE  konnte  der  denn  das  erlangen?" 
Er  ist  auf  Fingerchen  gegangen. 


SPRICHWORT  bezeichnet  Nationen; 
Mußt  aber  erst  unter  ihnen  wohnen. 

ERKENNE  dich!— Was  soll  das  heißen? 
Es  heißt:  Sei  nur!  und  sei  auch  nicht! 
Es  ist  eben  ein  Spruch  der  lieben  Weisen, 
Der  sich  in  der  Kürze  widerspricht. 

ERKENNE  dich!— Was  hab  ich  da  für  Lohn? 
Erkenn  ich  mich,  so  muß  ich  gleich  davon. 


A 


LS  wenn  ich  auf  den  Maskenball  käme 
Und  gleich  die  Larve  vom  Angesicht  nähme. 


ANDRE  zu  kennen,  das  mußt  du  probieren, 
Ihnen  zu  schmeicheln  oder  sie  zu  vexieren. 

WARUM  magst  du  gewisse  Schriften  nicht  lesen?" 
Das  ist  auch  sonst  meine  Speise  gewesen; 
Eilt  aber  die  Raupe  sich  einzuspinnen, 
Nicht  kann  sie  mehr  Blättern  Geschmack  abgewinnen. 

WAS  dem  Enkel  so  wie  dem  Ahn  frommt, 
Darüber  hat  man  viel  geträumet; 
Aber  worauf  eben  alles  ankommt, 
Das  wird  vom  Lehrer  gewöhnlich  versäumet. 

VERWEILE  nicht,  und  sei  dir  selbst  ein  Traum, 
Und  wie  du  reisest,  danke  jedem  Raum, 
Bequeme  dich  dem  Heißen  wie  dem  Kalten; 
Dir  wird  die  Welt,  du  wirst  ihr  nie  veralten. 

OHNE  Umschweife 
Begreife, 
Was  dich  mit  der  Welt  entzweit; 
Nicht  will  sie  Gemüt,  will  Höflichkeit. 


6o2  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

GEMÜT  muß  verschleifen, 
Höflichkeit  läßt  sich  mit  Händen  greifen. 


W 


AS  eben  wahr  ist  allerorten, 

Das  sag  ich  mit  ungescheuten  Worten. 


NICHTS  taugt  Ungeduld, 
Noch  weniger  Reue; 
Jene  vermehrt  die  Schuld, 
Diese  schafft  neue. 

DASS  von  diesem  wilden  Sehnen, 
Dieser  reichen  Saat  von  Tränen 
Götterlust  zu  hoffen  sei, 
Mache  deine  Seele  frei! 

DER  entschließt  sich  doch  gleich, 
Den  heiß'  ich  brav  imd  kühn! 
Er  springt  in  den  Teich, 
Dem  Regen  zu  entfliehn. 

DASS  Glück  ihm  günstig  sei, 
Was  hilfts  dem  Stöfifel? 
Denn  regnets  Brei, 
Fehlt  ihm  der  Löffel. 

DICHTER  gleichen  Bären, 
Die  immer  an  eignen  Pfoten  zehren. 

DIE  Welt  ist  nicht  aus  Brei  und  Mus  geschaflfenj 
Deswegen  haltet  euch  nicht  wie  Schlarafifen; 
Harte  Bissen  gibt  es  zu  kauen: 
Wir  müssen  erwürgen  oder  sie  verdauen. 

EIN  kluges  Volk  wohnt  nah  dabei. 
Das  immerfort  sein  Bestes  wollte; 
Es  gab  dem  niedrigen  Kirchturm  Brei, 
Damit  er  größer  werden  sollte. 


i8io/2  WEIMAR  603 

SECHSUNDZWANZIG  Groschen  gilt  mein  Taler! 
Was  heißt  ihr  mich  denn  einen  Prahler? 
Habt  ihr  doch  andre  nicht  gescholten, 
Deren  Groschen  einen  Taler  gegolten. 

NIEDERTRÄCHTIGERS  wird  nichts  gereicht, 
Als  wenn  der  Tag  den  Tag  erzeugt. 


w 


AS  hat  dir  das  arme  Glas  getan? 

Sieh  deinen  Spiegel  nicht  so  häßlich  an. 


LIEBESBÜCHER  und  Jahrgedichte 
Machen  bleich  und  hager; 
Frösche  plagten,  sagt  die  Geschichte, 
Pharaonem  auf  seinem  JL,ager. 

SO  schließen  wir,  daß  in  die  Läng 
Euch  nicht  die  Ohren  gellen; 
Vemimft  ist  hoch.  Verstand  ist  streng, 
Wir  rasseln  drein  mit  Schellen. 

DIESE  Worte  sind  nicht  alle  in  Sachsen, 
Noch  auf  meinem  eignen  Mist  gewachsen; 
Doch,  was  für  Samen  die  Fremde  bringt, 
Erzog  ich  im  Lande  gut  gedüngt. 

UND  selbst  den  Leuten  du  bon  ton 
Ist  dieses  Büchlein  lustig  erschienen: 
Es  ist  kein  Globe  de  Compression^ 
Sind  lauter  Flatterminen. 

ANNONCE 

EIN  Hündchen  wird  gesucht. 
Das  weder  murrt,  noch  beißt, 
Zerbrochene  Gläser  frißt 
Und  Diamanten " 

GLÜCKSELIG  ist,  wer  Liebe  rein  genießt, 
Weil  doch  zuletzt  das  Grab  so  Lieb  als  Haß  verschließt. 


6o4  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

ES  ist  ein  schlechter  Zeitvertreib, 
Ramdohr-  und  Speth-  und  Schreibergeschreib; 
Was  sie  alles  gegen  mich  sagen. 
Wird  wohl  am  Abend  vorgetragen. 
Wie  nickt  das  Haupt,  wie  schmeckt  die  Ruh, 
Kommt  nun  noch  Atterbom  dazu. 
* 

Derselbe  setzt  sich  zu  Gericht, 
Hat  gar  eine  eigne  Kunstgeschicht. 
* 

Das  hören  wii  alles  ohne  Scherz 

In  jener  Gesellschaft  für  Geist  und  Herz. 

SO  soll  die  orthographische  Nacht 
Doch  endlich  auch  ihren  Tag  erfahren; 
Der  Freund,  der  so  viel  Worte  macht. 
Er  will  es  an  den  Buchstaben  sparen. 

DAS  BLUMENCHOR 

Zum  30.  Januar   181 2 

WIR  begegnen  dem  Entzücken, 
Wie  es  jeder  fühlen  mag. 
Und  mit  kindlich  heitern  Blicken 
Grüßen  wir  den  schönsten  Tag. 

DIE  Blumen,  in  den  Wintertagen, 
Versammeln  froh  sich  hier  zuhauf, 
Mit  heitern  Blicken  uns  zu  sagen: 
An  ihrem  Fest  blüht  alles  auf. 

ZUM  16.  FEBRUAR  18 12 

WER  Marmor  hier  und  Erz  und  Elfenbein  erblickt. 
Und  was  noch  sonst  von  Stoff  die  edle  Kunst  be- 
schickt, 
Der  denkt:  Wie  möchten  wir  mit  emsigem  Fleiß 
Und  treuem  Sinn  das  alles  umgestalten. 
In  tausend  Bildern  ihren  hohen  Preis 
Und  unsre  Liebe  zu  entfalten! 


i8io/2  WEIMAR  605 

GROSS  IST  DIE  DIANA  DER  EPHESER 
Apostelgeschichte  19,  39 

ZU  Ephesus  ein  Goldschmied  saß 
In  seiner  Werkstatt,  pochte, 
So  gut  er  könnt,  ohn  Unterlaß, 
So  zierlich  ers  vermochte. 
Als  Knab  und  Jüngling  kniet'  er  schon 
Im  Tempel  vor  der  Göttin  Thron 
Und  hatte  den  Gürtel  unter  den  Brüsten, 
Worin  so  manche  Tiere  nisten, 
Zu  Hause  treulich  nachgefeilt, 
Wie's  ihm  der  Vater  zugeteilt; 
Und  leitete  sein  kimstreich  Streben 
In  frommer  Wirkung  durch  das  Leben. 

Da  hört  er  denn  auf  einmal  laut 

Eines  Gassenvolkes  Windesbraut, 

Als  gäbs  einen  Gott  so  im  Gehirn, 

Da!  hinter  des  Menschen  alberner  Stirn, 

Der  sei  viel  herrlicher  als  das  Wesen, 

An  dem  wir  die  Breite  der  Gottheit  lesen. 

Der  alte  Künstler  horcht  nur  auf. 
Läßt  seinen  Knaben  auf  den  Markt  den  Lauf, 
Feilt  immer  fort  an  Hirschen  und  Tieren, 
Die  seiner  Gottheit  Kniee  zieren. 
Und  hofft,  es  könnte  das  Glück  ihm  walten, 
Ihr  Angesicht  würdig  zu  gestalten. 
* 

Wills  aber  einer  anders  halten, 

So  mag  er  nach  Belieben  schalten; 

Nur  soll  er  nicht  das  Handwerk  schänden, 

Sonst  wird  er  schlecht  und  schmählich  enden. 


l8l2 

REISE  NACH  BÖHMEN 


IHRO  DES  KAISERS  VON  ÖSTERREICH  MAJESTÄT 

ER  kommt!  Er  naht!  —  Wie  fühlt  bei  diesem  Schalle 
Die  Seele  gleich  sich  ahnungsvoll  bedingt! 
Doch  schon  befreien  sich  die  Herzen  alle 
Durch  Leberuf,  davon  der  Fels  erklingt. 
Nun,  Muse!  streue  gleich  auf  die  im  Schwalle 
Bewegte  Volksflut,  die  den  Herrn  umringt, 
Den  Samen  aus  zu  würdiger  Beachtung 
Des  Augenblicks  und  ewiger  Betrachtung. 

Denn  wendet  er  in  seinen  weiten  Reichen 
Den  Blick  umher  nach  mannigfaltgem  Gut, 
So  übersieht  er  Fülle  sondergleichen, 
Die  über  allem  ausgebreitet  ruht; 
Wo  Ebne  sich  verflächet.  Berge  steigen, 
Der  Ähre  Gold,  der  edlen  Rebe  Blut, 
Und  scharenweis  zum  Nutzen  eingehändigt 
Der  Tiere  Herden,  die  der  Mensch  gebändigt. 

Und  wo  die  großen  Flüsse  sich  ergießen 
Durch  überbreites,  reichbebautes  Land, 
Mit  schnellen  Fluten  manche  Städte  grüßen, 
Dort  hält  er  gern  das  Auge  hingewandt. 
Nun  lass  er  auch  des  Vaterblicks  genießen 
Die  tiefe  Stadt,  die  kühn  sich  unterwand, 
In  enge  Schlucht  sich  notgednmgen  setzte, 
Vielleicht  die  kleinste,  keineswegs  die  letzte. 

Weil  dieses  Tal,  von  Bergen  rings  umfriedet, 
Ein  ungeheures  Wunder  sich  erzeugt. 
Wo  heimlich,  seit  Urjahren  unermüdet, 
Heilsam  Gewässer  durch  die  Klüfte  schleicht, 
In  tiefen  Höhlen  ohne  Feuer  siedet 
Und  ohne  Fall  hoch  in  die  Lüfte  steigt 
Und,  wenn  des  Wirkens  Leidenschaft  gestillet, 
Die  Felsen  bildet,  denen  es  entquillet. 

In  tiefer  Wildnis  dieser  Täler  schreckte 
Des  Jägers  Hom  die  scheuen  Wilde  kaum. 
Er  war  es,  der  den  Wunderquell  entdeckte. 
Und  Böhmens  Karl  belebt  den  stummen  Raum. 

OOETHE  XIV  39. 


6io  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Ein  jeder»  der  zu  bauen  sich  erkeckte 

Auf  heißem  Boden,  an  der  Schlünde  Saum, 

Und  ferneher  nun  die  Erkrankten  ladet, 

Sieht  sich  mit  Wald  und  Feld  und  Trift  begnadet. 

So  hat  fortan,  mit  immer  regem  Streben, 
Natur  und  Kunst  viel  Tausenden  genützt. 
Was  Gott  dem  Bürger  in  die  Hand  gegeben, 
Wenn  es  der  Fürst  begünstigt  und  beschützt, 
Dann  bleibt  fürwahr  ein  unverwüstlich  Leben, 
Indem  der  Sohn  dem  Vater  nachbesitzt. 
Geschlechter  widerstehn  der  größten  Plage 
Und  blühn  und  wachsen  bis  zum  spätsten  Tage. 

Vollständig  ist  jedoch  kein  Glück  zu  nennen, 
Wenn  bei  so  manchem  Gut  das  höchste  fehlt; 
Wir  durften  das  nur  in  der  Feme  kennen, 
Und  Jahre  haben  wir  umsonst  gezählt. 
Erst  heute  mögen  wir  getrost  bekennen, 
Wie  solch  ein  Mangel  uns  bisher  gequält; 
Heut  fühlen  wir  entbehrter  Regvmg  Wonne: 
Der  Blick  des  Herrn,  er  ist  die  zweite  Sonne. 

Erhabne  Gegenwart!  die  heute  gründet, 

Was  lange  schon  der  Wunsch  im  stillen  war. 

Beamte,  Bürger,  wechselseits  entzündet, 

Beeifem  sich  im  neuen  Jubeljahr, 

Und  jeder  macht  die  Kraft,  die  er  sich  findet. 

Nach  allen  Seiten  tätig  offenbar. 

Und  nun  erscheint,  damit  der  Herr  sich  freue, 

Das  Alte  fest  und  lebenvoll  das  Neue. 

Selbst  jener  wilde  Quell,  den  tief  im  Grunde 
Kein  Menschenwitz  und  keine  Kraft  beschwor, 
Ergrimmt  nicht  mehr  am  eingezwängten  Schlünde, 
Ihm  läßt  die  Weisheit  nun  ein  offnes  Tor; 
Damit  der  fernste  Pilger  hier  gesunde, 
Wirft  sprudelnd  frei  er  volle  Kraft  hervor. 
Zerreißt  nicht  mehr  die  selbstgewölbten  Decken; 
Nur  heilen  will  er  künftig,  nicht  erschrecken. 


1 8 1 2  REISE  NACH  BÖHMEN  6 1 1 

Und  wo  die  Brunnen  lau  und  milder  wallen, 
Befiehlt  der  Herr,  soll  es  auch  heiter  sein. 
Schon  richten  sich  empor  geraume  Hallen, 
Behauner  Stamm  fiigt  sich  geviertem  Stein. 
Des  Herren  Preis  wird  stets  daselbst  erschallen: 
Er  gab  uns  diesen  Raum,  er  lud  uns  ein! 
Uns  wird  die  Not  nicht  mehr  zusammendrängen, 
Behaglich  soll  das  Wandeln  sich  verlangen. 

Von  seines  Auges  mildem  Blick  entbrennet 
Ein  heilig  Feuer,  das  tms  nie  entweicht; 
Und  wie  man  erst  des  Sommers  Kräfte  kennet. 
Wenn  sich  im  Herbst  der  Trauben  Fülle  zeigt, 
So  zeige  sich,  wenn  er  von  uns  getrennet, 
Der  Segen  wirksam,  den  er  uns  gereicht, 
Und  werde  so,  beim  glücklichsten  Ereignis, 
Die  kleine  Stadt  des  großen  Reiches  Gleichnis. 


IHRO  DER  KAISERIN  VON  ÖSTERREICH 
MAJESTÄT 

WIE  lange  harren  wir  gewisser  Kunde! 
Wie  ist  das  Zweifeln  bang,  die  Hoffnung  süß! 
Noch  schwebt  sie  vor,  die  unwillkommne  Stunde, 
Da  uns  die  Frau,  die  herrliche,  verließ 
Und  ims  das  letzte  Wort  vom  Gnadenmunde 
Die  Wiederkehr,  die  baldige,  verhieß; 
Wir  sollten  ja  in  diesem  stillen  Tale 
Sie  wiedersehn,  sie  sehn  mit  dem  Gemahle. 

Doch  solch  ein  Wort  läßt  immer  noch  in  Sorgen, 

Und  leider  waren  wir  zu  sehr  verwöhnt; 

Erinnerten  an  jedem  heitren  Morgen, 

Wie  sie  ims  einst  den  schönsten  Tag  verschönt 

Und  unser  Leben,  häuslich  sonst  verborgen. 

Mit  Herrlichkeit  der  Majestät  gekrönt. 

Es  war  geschehn!  Sie  war  tms  nun  entrissen. 

Und  wo  sie  ging,  wird  man  sie  stets  vermissen. 


6 1 2  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Der  starre  Fels,  er  scheint  sich  noch  zu  neigen 
Vor  ihrer  Hoheit,  ihrer  Majestät; 
Die  Stämme  wiegen  sich,  in  allen  Zweigen 
Von  ihrer  Anmut  lind  imd  leis  umweht; 
Die  Blumen,  die  ihr  Haupt  im  Grünen  beugen, 
Erhebens  forschend,  wo  vielleicht  sie  geht? 
Und  mit  den  Büschen,  die  ihr  Blüten  streuen, 
Wetteifern  all  die  Herzen  ihrer  Treuen. 

Und  wenn  sie  sich  im  weiten  Reich  beweget. 

Nach  jeder  Richtung  wird  sogleich  gefragt; 

Wenn  dann  der  Weg  sie  in  die  Ferne  traget, 

Vereitelt  Hoffen  bitterlich  beklagt. 

Und  immer  neu  die  Hoffnung  aufgereget: 

Sie  wird  erfüllen,  was  sie  zugesagt; 

Erst  soll  es  ihr  und  dem  Gemahle  glücken, 

Die  Tochter  und  den  Eidam  zu  erblicken. 

Es  ist  geschehn!  Im  seligsten  Momente 
Begegnet  sich  der  liebevolle  Blick, 
Und  was  die  Donau  ernst  und  schmerzlich  trennte, 
Gibt  wonnevoll  die  Elbe  nun  zurück. 
Wer  ist  es,  ders  in  Worte  fassen  könnte? 
Begünstigt  ist  der  Höchsten  größtes  Glück, 
Im  Drang  der  ahnungsvollsten  Weltgewühle 
Die  elterHchen,  kindlichen  Gefühle. 

Auf  hoher  Burg  sodann  ein  festlich  Prangen 
Erhebt  den  Geist  und  überrascht  den  Sinn: 
Denn  Böhmens  Hauptstadt  soll  das  Glück  erlangen, 
Des  höchsten  Anblicks  einzigen  Gewinn; 
Der  Vater  will  die  Tochter  dort  empfangen, 
Der  Kaiser  Ostreichs  Frankreichs  Kaiserin. 
So  wird  er  sie  am  Tag  der  Freude  führen. 
Die  herrhch  Fremdgewordne,  zu  den  Ihren. 

So  nah  gerückt  sollt  es  vorüberrollen, 
Ein  Glück,  das  dann  wohl  immer  sich  verliert? 
Nein!  Ihr  versagt  es  nicht  den  Hoffnungsvollen, 
Sie  rufen  aus,  was  sie  im  Tiefsten  rührt: 


1 8 1 2  REISE  NACH  BÖHMEN  6 1 3 

Wie  unsre  Brunnen  immer  treu  gequollen, 
So  unser  Herz  dem,  der  das  Szepter  führt, 
Und  unser  Tun,  wie  wir  die  Gäste  pflegen, 
Verdienet  seinen  Blick  und  seinen  Segen. 

Nun  endlich  meldet  würdevoll  Geläute 
Der  Majestäten  feierliches  Nahn, 
Und  an  des  Berges  ausgeglichner  Seite 
Rückt  schon  der  Zug  den  Kaiserweg  heran; 
Die  Menge  schwillt  in  wogenhafter  Breite, 
Zu  seiner  Herrscher  Blick  drängt  sie  hinan. 
Verstumme,  Lied!  und  laßt  in  vollen  Chören 
Den  Freuderuf  entzückten  Busens  hören! 


IHRO  DER  KAISERIN  VON  FRANKREICH 
MAJESTÄT 

SIEHT  man  den  schönsten  Stern  die  Nacht  erhellen, 
So  wird  das  Auge  wie  das  Herz  erquickt; 
Doch  wenn,  in  seltnen,  langersehnten  Fällen, 
Ein  herrliches  Gestirn  zum  andern  rückt. 
Die  nahverwandten  Strahlen  sich  gesellen, 
Dann  weilt  ein  jeder  schauend,  hochentzückt; 
So  unser  Blick,  wie  er  hinauf  sich  wendet, 
Wird  vom  Verein  der  Majestät  geblendet. 

Wir  denken  noch,  wie  sie  hin  weggezogen, 

Der  Eltern  Lust,  die  holde  Friedensbraut; 

Schon  beugten  sich  des  Rheines  edle  Wogen, 

Die  beiden  Ufer  lächelten  vertraut; 

So  freut  die  Erde  sich  am  Himmelsbogen 

Von  farbigen  Juwelen  aufgebaut. 

Der,  wenn  er  schon  vor  tmsern  Augen  schwindet. 

Den  Frieden  sichert,  den  er  angekündet. 

Im  neuen  Reich  empfängt  sie  das  Behagen 
Von  Millionen,  die  aus  düstrer  Nacht 
Aufschauen  wieder  zu  gesunden  Tagen, 
Zum  festen  Leben  abermals  erwacht. 


6 1 4  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Ein  jeder  fühlt  sein  Herz  gesichert  schlagen 
Und  staunet  nun,  denn  alles  ist  vollbracht: 
Die  holde  Braut  in  lebensreichem  Scheine — 
Was  Tausende  verwirrten,  löst  der  Eine. 

Worüber  trüb  Jahrhunderte  gesonnen, 

Er  übersiehts  in  hellstem  Geisteslicht, 

Das  Kleinliche  ist  alles  weggeronnen, 

Nur  Meer  und  Erde  haben  hier  Gewicht; 

Ist  jenem  erst  das  Ufer  abgewonnen. 

Daß  sich  daran  die  stolze  Woge  bricht. 

So  tritt  durch  weisen  Schluß,  durch  Machtgefechte 

Das  feste  Land  in  alle  seine  Rechte. 

Und  wenn  dem  Helden  alles  zwar  gelungen. 
Den  das  Geschick  zum  Günstling  auserwählt, 
Und  ihm  vor  allen  alles  aufgedrungen, 
Was  die  Geschichte  jemals  aufgezählt, 
Ja  reichlicher,  als  Dichter  je  gesungen! — 
Ihm  hat  bis  jetzt  das  Höchste  noch  gefehlt; 
Nun  steht  das  Reich  gesichert  wie  gerundet, 
Nun  fühlt  er  froh  im  Sohne  sich  gegründet. 

Und  daß  auch  diesem  eigne  Hoheit  gnüge, 
Ist  Roma  selbst  zur  Wächterin  bestellt. 
Die  Göttin,  hehr,  an  ihres  Königs  Wiege, 
Denkt  abermal  das  Schicksal  einer  Welt. 
Was  sind  hier  die  Trophäen  aller  Siege, 
Wo  sich  der  Vater  in  dem  Sohn  gefällt? 
Zusammen  werden  sie  des  Glücks  genießen. 
Mit  milder  Hand  den  Janustempel  schließen. 

Sie,  die  zum  Vorzug  einst  als  Braut  gelanget, 

Vermittlerin  nach  Götterart  zu  sein, 

Als  Mutter,  die,  den  Sohn  im  Arme,  pranget, 

Befördre  neuen,  dauernden  Verein; 

Sie  kläre,  wenn  die  Welt  im  Düstem  banget. 

Den  Himmel  auf  zu  ewgem  Sonnenschein! 

Uns  sei  durch  sie  dies  letzte  Glück  beschieden— 

Der  alles  wollen  kann,  will  auch  den  Frieden. 


i8i 2  REISE  NACH  BÖHMEN  615 

ELEONORE 

WENNS  jemand  ziemt,  zu  sprechen  mit  Vertrauen, 
So  ziemt  es  mir:  ich  stelle  heut  den  Chor 
Gebildeter  und  liebevoller  Frauen, 
Der  sich  so  gern  um  sie  versammelt,  vor. 
Mir  ist  vergönnt,  an  ihr  hinaufzuschauen, 
Mich  zu  erquicken  an  dem  frischen  Flor, 
Der  jede  Stunde  neuen  Wert  betätigt 
Und  Frauenwürde  ewiglich  bestätigt. 

UND  wärst  du  auch  zum  fernsten  Ort, 
Zur  kleinsten  Hütte  durchgedrungen, 
Was  hilft  es  dir?  du  findest  dort 
Tabak  und  böse  Zungen. 

AN  HERRN  ABBATE  BONDI 

AUS  jenen  Ländern  echten  Sonnenscheines 
Beglückten  oft  mich  Gaben  der  Gefilde: 
Agrumen  reizend,  Feigen  süß  rmd  milde. 
Der  Mandeln  Milch,  die  Feuerkraft  des  Weines. 

So  manches  Musenwerk  erregte  meines 
Nordländschen  Geistes  innigste  Gebilde, 
Wie  an  Achilleus'  lebensreichem  Schilde 
Erfreut  ich  mich  des  günstigsten  Vereines. 

Und  daß  ich  mich  daran  begnügen  könnte, 
War  mir  sogar  ein  Kunstbesitz  bereitet, 
Erquickend  mich  durch  Anmut  wie  durch  Stärke. 

Doch  nichts  erschien  im  größeren  Momente, 
Voll  innem  Werts,  von  so  viel  Glück  begleitet. 
Als  durch  Luisen,  Bondi,  deine  Werke. 

DEN  ZUDRINGLICHEN 

WAS  nicht  zusammengeht,  das  soll  sich  meiden! 
Ich  hindr  euch  nicht,  wos  euch  beliebt,  zu  weiden: 
Denn  ihr  seid  neu  imd  ich  bin  alt  geboren. 
Macht,  v/as  ihr  wollt;  nur  laßt  mich  ungeschoren! 


i8i2-i8i3  WEIMAR 


DER  LIEBENDEN,  VERGESSLICHEN 

zum  Geburtstage 

DEM  schönen  Tag  sei  es  geschrieben! 
Oft  glänze  dir  sein  heitres  Licht. 
Uns  hörest  du  nicht  auf  zu  lieben, 
Doch  bitten  wir:  Vergiß  uns  nicht! 

DEN  ORIGINALEN 

EIN  Quidam  sagt:  "Ich  bin  von  keiner  Schule; 
Kein  Meister  lebt,  mit  dem  ich  buhle; 
Auch  bin  ich  weit  davon  entfernt, 
Daß  ich  von  Toten  was  gelernt." 
Das  heißt,  wenn  ich  ihn  recht  verstand: 
"Ich  bin  ein  Narr  auf  eigne  Hand." 

GEGENWART 

ALLES  kündet  dich  an! 
Erscheinet  die  herrliche  Sonne, 
Folgst  du,  so  hoff  ich  es,  bald. 

Trittst  du  im  Garten  hervor, 
So  bist  du  die  Rose  der  Rosen, 
Lilie  der  Lilien  zugleich. 

Wenn  du  im  Tanze  dich  regst, 
So  regen  sich  alle  Gestirne 
Mit  dir  und  um  dich  umher. 

Nacht!  und  so  war  es  denn  Nacht! 
Nun  überscheinst  du  des  Mondes 
Lieblichen,  ladenden  Glanz. 

Ladend  und  lieblich  bist  du, 
Und  Blumen,  Mond  xmd  Gestirne 
Huldigen,  Sonne,  nur  dir. 

Sonne!  so  sei  du  auch  mir 
Die  Schöpferin  herrlicher  Tage; 
Leben  und  Ewigkeit  ists. 


620  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

[An  Amalie  Wolff,  geb.  Malcolmi] 

ERLAUBT  sei  dir,  in  mancherlei  Gestalten 
Das  junge  Volk  und  die  ehrwürdgen  Alten 
Zum  besten,  wie  es  dir  beliebt,  zu  halten: 
Und  Phädra,  wütend,  leidenschaftlich  groß; 
Elisabeth,  so  lieb-,  als  schonungslos; 
Messinas  Fürstin,  fest,  wenn  das  Geschick  bricht; 
Jungfrau,  gestählt,  nur  gegen  Liebesblick  nicht; 
Klärchen  zuletzt,  die  jeden  so  verführt, 
Daß  er  den  Kopf  wie  Belgiens  Held  verliert. 
Der  Wechsel  bilde  dein  beglücktes  Reich, 
Bleibst  du  nur  uns,  den  Freimden,  immer  gleich.  . 

LASST  geschafifne  Ritter  kämpfen, 
Reiche  retten.  Feinde  dämpfen, 
Wie  so  manche  Lanze  brach. 
Tilget,  edle  Legionen, 
Tief  bedrängter  Nationen 
Langertragne,  dumpfe  Schmach! 

Listges  Weichen,  falsche  Flucht, 
Waffen  gegen  Eifersucht, 
Mächtiger  als  Lanz  und  Stahl. 
Mußt  dich  ja  des  Trugs  nicht  schämen: 
Leisetreten,  klug  Benehmen, 
Sie  betören  den  Rival. 

DIE  Wolle,  sie  ist  gut  und  fein. 
Jedoch  die  Arbeit  nicht  zu  loben, 
Mag  leidlich  gekrempelt,  gesponnen  sein. 
Aber  abscheulich  schlecht  gewoben. 

Was  man  von  Reinhard  sagen  kann, 
Das  sagt  man  nicht  von  Böttigers  Witze: 
War  jener  ein  gevierter  Mann, 
Der  ist  ein  Drehdorl  auf  der  Spitze. 

Zwar  Böttiger  macht  gar  manchen  Knicks, 
Doch  oft  passiert  ihm  auch  ein  Knacks: 
Mit  griechschen  Namen  ist  er  fix, 
Doch  schlecht  verdankt  es  ihm  Demonax. 


1 


i8i2/3  WEIMAR  621 

DIE  LUSTIGEN  VON  WEIMAR 

DONNERSTAG  nach  Belvedere, 
Freitag  gehts  nach  Jena  fort: 
Denn  das  ist,  bei  meiner  Ehre, 
Doch  ein  allerliebster  Ort! 
Samstag  ists,  worauf  wir  zielen, 
Sonntag  rutscht  man  auf  das  Land; 
Zwätzen,  Burgau,  Schneidemühlen 
Sind  ims  alle  wohlbekannt, 

Montag  reizet  uns  die  Bühne; 
Dienstag  schleicht  dann  auch  herbei, 
Doch  er  bringt  zu  stiller  Sühne 
Ein  Rapuschchen  frank  rmd  frei. 
Mittwoch  fehlt  es  nicht  an  Rührung, 
Denn  es  gibt  ein  gutes  Stück; 
Donnerstag  lenkt  die  Verfühnmg 
Uns  nach  Belveder' zurück. 

Und  es  schlingt  unvmterbrochen 
Immer  sich  der  Freudenkreis 
Durch  die  zweiundfunfzig  Wochen, 
Wenn  mans  recht  zu  führen  weiß. 
Spiel  und  Tanz,  Gespräch,  Theater, 
Sie  erfrischen  unser  Blut; 
Laßt  den  Wienern  ihren  Prater; 
Weimar,  Jena,  da  ists  gut! 

PARABEL 

IN  einer  Stadt,  wo  Parität 
Noch  in  der  alten  Ordnung  steht. 
Da,  wo  sich  nämlich  Katholiken 
Und  Protestanten  ineinander  schicken, 
Und,  wie's  von  Vätern  war  erprobt. 
Jeder  Gott  auf  seine  Weise  lobt, 
Da  lebten  wir  Kinder  Lutheraner 
Von  etwas  Predigt  und  Gesang, 
Waren  aber  dem  Kling  und  Klang 
Der  Kathohken  nur  zugetaner: 


62  2  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Denn  alles  war  doch  gar  zu  schön, 
Bunter  und  lustiger  anzusehn. 

Dieweil  nun  Aflfe,  Mensch  und  Kind 

Zur  Nachahmung  geboren  sind, 

Erfanden  wir,  die  Zeit  zu  kürzen, 

Ein  auserlesnes  Pfaffenspiel: 

Zum  Chorrock,  der  uns  wohlgefiel, 

Gaben  die  Schwestern  ihre  Schürzen; 

Handtücher,  mit  Wirkwerk  schön  verziert, 

Wurden  zur  Stola  travestiert; 

Die  Mütze  mußte  den  Bischof  zieren, 

Von  Goldpapier  mit  vielen  Tieren. 

So  zogen  wir  nun  im  Ornat 
Durch  Haus  und  Garten,  früh  und  spat, 
Und  wiederholten  ohne  Schonen 
Die  sämtlichen  heiligen  Funktionen; 
Doch  fehlte  noch  das  beste  Stück. 
Wir  wußten  wohl,  ein  prächtig  Läuten 
Habe  hier  am  meisten  zu  bedeuten; 
Und  nun  begünstigt  uns  das  Glück: 
Denn  auf  dem  Boden  hing  ein  Strick. 
Wir  sind  entzückt,  und  wie  wir  diesen 
Zum  Glockenstrang  sogleich  erkiesen. 
Ruht  er  nicht  einen  Augenblick: 
Denn  wechsehid  eilten  wir  Gesqhwister, 
Einer  ward  um  den  andern  Küster, 
Ein  jedes  drängte  sich  hinzu. 
Das  ging  nun  allerliebst  vonstatten, 
Und  weil  wir  keine  Glocken  hatten. 
So  sangen  wir  Bum  Baum  dazu. 

* 
Vergessen,  wie  die  ältste  Sage, 
War  der  unschuldge  Kinderscherz; 
Doch  grade  diese  letzten  Tage 
Fiel  er  mit  einmal  mir  aufs  Herz: 
Da  sind  sie  ja,  nach  allen  Stücken, 
Die    neupoetischen  Katholiken! 


i5i2/3   WEIMAR  623 

IHRO  KAISERLICHEN  HOHEIT  DER  FRAU 

ERBGROSSHERZOGIN  VON  SACHSEN-WEIMAR 

UND  -EISENACH 


Z 


U  würdiger  Umgebung  deines  Bildes, 
Wie  es  mir  immerfort  im  Geiste  waltet, 
Wählt  ich  in  Tagen,  wo  der  Frühling  schaltet. 
Des  Gartens  Blumen,  Blumen  des  Gefildes. 


Dann  schien  der  Rand  des  Achilleischen  Schildes, 
So  reich  er  war,  nicht  reich  genug  gestaltet; 
Ja,  würd  ein  Purpurteppich  umgefaltet. 
Darauf  gesät  der  Sterne  blendend  Mildes. 

Nun  aber  wird  ein  zierlich  Heft  geschmücket. 
Ein  treuer  Diener  widmets  deiner  Hoheit, 
Und  du  vergönnest  mir  die  erste  Weihe. 

Wie  Sprech  ich  aus,  wie  sehr  mich  das  beglücket? 
Jetzt  fühl  ich  erst  in  neubelebter  Froheit: 
Die  schönsten  Kränze  winden  Lieb  und  Treue. 

STAMMBUCHS- WEIHE 

MUNTRE  Gärten  lieb  ich  mir, 
Viele  Blumen  drinne. 
Und  du  hast  so  einen  hier, 
Merk  ich  wohl,  im  Sinne. 

Mögen  Wünsche  für  dein  Glück 
Tausendfach  erscheinen; 
Grüße  sie  mit  heitrem  Blick, 
Und  voran  die  meinen. 

TRAUERREGLEMENT 

DIESES  Heft  Persönlichkeiten 
Spar  ich  euch  auf  späte  Zeiten: 
Scheidend  will  ich  nicht  betrüben, 
Ihr  sollt  lachen,  meine  Lieben. 


i8i3 
REISE  NACH  BÖHMEN 


GOETHE  XIV  40. 


DER  GETREUE  ECKART 

O  wären  wir  weiter,  o  war  ich  zu  Haus! 
Sie  kommen.  Da  kommt  schon  der  nächthche  Graus; 
Sie  sinds,  die  unholdigen  Schwestern. 
Sie  streifen  heran  und  sie  finden  uns  hier, 
Sie  trinken  das  mühsam  geholte,  das  Bier, 
Und  lassen  nur  leer  uns  die  Krüge. 

So  sprechen  die  Kinder  und  drücken  sich  schnell; 

Da  zeigt  sich  vor  ihnen  ein  alter  Gesell: 

Nur  stille,  Kind!    Kinderlein,  stille! 

Die  Hulden,  sie  kommen  von  durstiger  Jagd, 

Und  laßt  ihr  sie  trinken,  wie's  jeder  behagt. 

Dann  sind  sie  euch  hold,  die  Unholden. 

Gesagt  so  geschehn!  und  da  naht  sich  der  Graus 
Und  siehet  so  grau  und  so  schattenhaft  aus. 
Doch  schlürft  es  und  schlampft  es  aufs  beste. 
Das  Bier  ist  verschwunden,  die  Krüge  sind  leer; 
Nun  saust  es  und  braust  es,  das  wütige  Heer, 
Ins  weite  Getal  und  Gebirge. 

Die  Kinderlein  ängstlich  gen  Hause  so  schnell. 

Gesellt  sich  zu  ihnen  der  fromme  Gesell: 

Ihr  Püppchen,  nur  seid  mir  nicht  traurig. — 

Wir  kriegen  nun  Schelten  und  Streich'  bis  aufs  Blut.— 

Nein  keineswegs,  alles  geht  herrlich  und  gut. 

Nur  schweiget  imd  horchet  wie  Mäuslein. 

Und  der  es  euch  anrät  und  der  es  befiehlt, 

Er  ist  es,  der  gern  mit  den  Kindelein  spielt. 

Der  alte  Getreue,  der  Eckart. 

Vom  Wundermann  hat  man  euch  immer  erzählt, 

Nur  hat  die  Bestätigung  jedem  gefehlt, 

Die  habt  ihr  nun  köstlich  in  Händen. 

Sie  kommen  nach  Hause,  sie  setzen  den  Krug 
Ein  jedes  den  Eltern  bescheiden  genug 
Und  harren  der  Schlag  und  der  Schelten, 
Doch  siehe,  man  kostet:  Ein  herrliches  Bier! 
Man  trinkt  in  die  Runde  schon  dreimal  und  vier. 
Und  noch  nimmt  der  Krug  nicht  ein  Ende. 


628  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Das  Wunder,  es  dauert  zum  morgenden  Tag. 
Doch  fraget,  wer  immer  zu  fragen  vermag: 
Wie  ists  mit  den  Krügen  ergangen? 
Die  Mäuslein,  sie  lächeln,  im  stillen  ergetzt; 
Sie  stammeln  und  stottern  und  schwatzen  zuletzt. 
Und  gleich  sind  vertrocknet  die  Krüge. 

Und  wenn  euch,  ihr  Kinder,  mit  treuem  Gesicht 
Ein  Vater,  ein  Lehrer,  ein  Aldermann  spricht, 
So  horchet  und  folget  ihm  pünktlich! 
Und  liegt  auch  das  Zünglein  in  peinlicher  Hut, 
Verplaudern  ist  schädlich,  verschweigen  ist  gut; 
Dann  füllt  sich  das  Bier  in  den  Krügen. 

DER  TOTENTANZ 

DER  Türmer,  der  schaut  zumitten  der  Nacht 
Hinab  auf  die  Gräber  in  Lage; 
Der  Mond,  der  hat  alles  ins  Helle  gebracht. 
Der  Kirchhof,  er  liegt  wie  am  Tage. 
Da  regt  sich  ein  Grab  und  ein  anderes  dann: 
Sie  kommen  hervor,  ein  Weib  da,  ein  Mann, 
In  weißen  und  schleppenden  Hemden. 

Das  reckt  nun,  es  will  sich  ergetzen  sogleich. 

Die  Knöchel  zur  Runde,  zum  Kranze, 

So  arm  imd  so  jung,  und  so  alt  und  so  reich; 

Doch  hindern  die  Schleppen  am  Tanze. 

Und  weil  hier  die  Scham  nun  nicht  weiter  gebeut, 

Sie  schütteln  sich  alle,  da  liegen  zerstreut 

Die  Hemdelein  über  den  Hügeln. 

Nim  hebt  sich  der  Schenkel,  nun  wackelt  das  Bein, 

Gebärden  da  gibt  es  vertrackte; 

Dann  klipperts  und  klapperts  mitunter  hinein, 

Als  schlug  man  die  Hölzlein  zum  Takte. 

Das  kommt  nun  dem  Türmer  so  lächerhch  vor; 

Da  raunt  ihm  der  Schalk,  der  Versucher,  ins  Ohr: 

Geh!  hole  dir  einen  der  Laken. 


i8i 3  REISENACH  BÖHMEN  629 

Getan  wie  gedacht!  und  er  flüchtet  sich  schnell 

Nun  hinter  geheiligte  Türen. 

Der  Mond,  und  noch  immer  er  scheinet  so  hell 

Zum  Tanz,  den  sie  schauderlich  führen. 

Doch  endlich  verlieret  sich  dieser  und  der, 

Schleicht  eins  nach  dem  andern  gekleidet  einher, 

Und  husch  ist  es  unter  dem  Rasen. 

Nur  einer,  der  trippelt  und  stolpert  zuletzt 
Und  tappet  und  grapst  an  den  Grüften; 
Doch  hat  kein  Geselle  so  schwer  ihn  verletzt, 
Er  wittert  das  Tuch  in  den  Lüften. 
Er  rüttelt  die  Turratür,  sie  schlägt  ihn  zurück. 
Geziert  und  gesegnet,  dem  Türmer  zum  Glück, 
Sie  blinkt  von  metallenen  Kreuzen. 

Das  Hemd  muß  er  haben,  da  rastet  er  nicht, 

Da  gilt  auch  kein  langes  Besinnen; 

Den  gotischen  Zierat  ergreift  nun  der  Wicht 

Und  klettert  von  Zinne  zu  Zinnen. 

Nun  ists  um  den  armen,  den  Türmer  getan! 

Es  ruckt  sich  von  Schnörkel  zu  Schnörkel  hinan. 

Langbeinigen  Spinnen  vergleichbar. 

Der  Türmer  erbleichet,  der  Türmer  erbebt, 

Gern  gab  er  ihn  wieder,  den  Laken. 

Da  häkelt—jetzt  hat  er  am  längsten  gelebt— 

Den  Zipfel  ein  eiserner  Zacken, 

Schon  trübet  der  Mond  sich,  verschwindenden  Scheins, 

Die  Glocke,  sie  donnert  ein  mächtiges  Eins, 

Und  unten  zerschellt  das  Gerippe. 

GEWOHNT,  GETAN 

ICH  habe  geliebet,  nun  lieb  ich  erst  recht! 
Erst  war  ich  der  Diener,  nun  bin  ich  der  Knecht. 
Erst  war  ich  der  Diener  von  allen; 
Nun  fesselt  mich  diese  scharmante  Person, 
Sie  tut  mir  auch  alles  zur  Liebe,  zum  Lohn, 
Sie  kann  nur  allein  mir  gefallen. 


630  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Ich  habe  geglaubet,  nun  glaub  ich  erst  recht!  1 

Und  geht  es  auch  wunderlich,  geht  es  auch  schlecht,    ^ 
Ich  bleibe  beim  gläubigen  Orden: 
So  düster  es  oft  und  so  dunkel  es  war 
In  drängenden  Nöten,  in  naher  Gefahr, 
Auf  einmal  ists  lichter  geworden. 

Ich  habe  gespeiset,  nun  speis  ich  erst  gut! 

Bei  heiterem  Sinne,  mit  fröhlichem  Blut 

Ist  alles  an  Tafel  vergessen. 

Die  Jugend  verschlingt  nur,  dann  sauset  sie  fort; 

Ich  liebe,  zu  tafeln  am  lustigen  Ort, 

Ich  kost  und  ich  schmecke  beim  Essen. 

Ich  habe  getrunken,  nun  trink  ich  erst  gern! 

Der  Wein,  er  erhöht  uns,  er  macht  uns  zum  Herrn 

Und  löset  die  sklavischen  Zungen. 

Ja,  schonet  niu:  nicht  das  erquickende  Naß: 

Denn  schwindet  der  älteste  Wein  aus  dem  Faß, 

So  altem  dagegen  die  jungen. 

Ich  habe  getanzt  und  dem  Tanze  gelobt. 

Und  wird  auch  kein  Schleifer,  kein  Walzer  getobt, 

So  drehn  wir  ein  sittiges  Tänzchen. 

Und  wer  sich  der  Blumen  recht  viele  verflicht, 

Und  hält  auch  die  ein  und  die  andere  nicht, 

Ihm  bleibet  ein  munteres  Kjänzchen. 

Drum  frisch  nur  aufs  neue!    Bedenke  dich  nicht: 
Denn  wer  sich  die  Rosen,  die  blühenden,  bricht. 
Den  kitzeln  fürwahr  nur  die  Dornen. 
So  heute  wie  gestern,  es  flimmert  der  Stern; 
Nur  halte  von  hängenden  Köpfen  dich  fern 
Und  lebe  dir  immer  von  vornen. 

DIE  WANDELNDE  GLOCKE 

ES  war  ein  Kind,  das  wollte  nie 
Zur  Kirche  sich  bequemen, 
Und  Sonntags  fand  es  stets  ein  Wie, 
Den  Weg  ins  Feld  zu  nehmen. 


1 8 1 3  REISE  NACH  BÖHMEN  631 

Die  Mutter  sprach:  Die  Glocke  tönt, 
Und  so  ist  dirs  befohlen, 
Und  hast  du  dich  nicht  hingewöhnt, 
Sie  kommt  vmd  wird  dich  holen. 

Das  Kind,  es  denkt:  Die  Glocke  hängt 
Da  droben  auf  dem  Stuhle. 
Schon  hats  den  Weg  ins  Feld  gelenkt, 
Als  lief  es  aus  der  Schule. 

Die  Glocke  Glocke  tönt  nicht  mehr. 
Die  Mutter  hat  gefackelt. 
Doch  welch  ein  Schrecken  hinterher! 
Die  Glocke  kommt  gewackelt. 

Sie  wackelt  schnell,  man  glaubt  es  kaum; 
Das  arme  Kind  im  Schrecken, 
Es  lauft,  es  kommt  als  wie  im  Traum; 
Die  Glocke  wird  es  decken. 

Doch  nimmt  es  richtig  seinen  Husch, 
Und  mit  gewandter  Schnelle 
Eilt  es  durch  Anger,  Feld  und  Busch 
Zur  Kirche,  ztu:  Kapelle. 

Und  jeden  Sonn-  und  Feiertag 
Gedenkt  es  an  den  Schaden, 
Läßt  durch  den  ersten  Glockenschlag, 
Nicht  in  Person  sich  laden. 

MEMENTO 

KANNST  dem  Schicksal  widerstehen, 
Aber  manchmal  gibt  es  Schläge; 
Wills  nicht  aus  dem  Wege  gehen, 
Ei!  so  geh  du  aus  dem  Wege! 

EIN  ANDRES 

MUSST  nicht  widerstehn  dem  Schicksal, 
Aber  mußt  es  auch  nicht  fliehen! 
Wirst  du  ihm  entgegengehen, 
Wirds  dich  freundlich  nach  sich  ziehen. 


i8i3  WEIMAR 

UND  REISE  NACH  ILMENAU 


DIE  ZWEI  MARIEN 

T\ER  hats  den  Engeln,  der  den  Teufeln  abgelauscht; 
•^-^Franzos  und  Deutscher  haben  die  Rollen  getauscht. 

IM  VORÜBERGEHN 

ICH  ging  im  Felde 
JLSo  für  mich  hin, 
Und  nichts  zu  suchen, 
Das  war  mein  Sinn. 

Da  stand  ein  Blümchen 
Sogleich  so  nah, 
Daß  ich  im  Leben 
Nichts  lieber  sah. 

Ich  wollt  es  brechen, 
Da  sagt  es  schleunig: 
Ich  habe  Wurzeln, 
Die  sind  gar  heimlich. 

Im  tiefen  Boden 
Bin  ich  gegründet; 
Drum  sind  die  Blüten 
So  schön  gerundet. 

Ich  kann  nicht  liebeln, 
Ich  kann  nicht  schranzen; 
Mußt  mich  nicht  brechen, 
Mußt  mich  verpflanzen. 

* 

Ich  ging  im  Walde 
So  vor  mich  hin; 
Ich  war  so  heiter, 
Wollt  immer  weiter — 
Das  war  mein  Sinn. 

GEFUNDEN 

ICH  ging  im  Walde 
So  für  mich  hin. 
Und  nichts  zu  suchen, 
Das  war  mein  Sinn. 


6s6  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Im  Schatten  sah  ich 
Ein  Blümchen  stehn, 
Wie  Sterne  leuchtend, 
Wie  Äuglein  schön. 

Ich  wollt  es  brechen, 
Da  sagt'  es  fein: 
Soll  ich  zum  Welken 
Gebrochen  sein? 

Ich  grubs  mit  allen 
Den  Würzlein  aus, 
Zum  Garten  trug  ichs 
Am  hübschen  Haus. 

Und  pflanzt  es  wieder 
Am  stillen  Ort; 
Nun  zweigt  es  immer 
Und  blüht  so  fort. 


DA  sind  sie  wieder, 
Die  losen  Dinger! 
An  hübschen  Händchen 
Gar  sechs  der  Finger! 

Es  rühmt  das  Volk  sich 
Als  Zeitgefährte 
Und  ziert  gar  lieblich 
Geschorne  Barte. 

Kein  Schneider  kleidet 
So  viele  Nackte, 
Wenn  er  auch  Höllen 
Aus  Höllen  packte. 

Sie  wären  H  .  .  .  ., 
Wenn  man  sie  würbe; 
Doch  ist  ihr  Leibchen 
Nur  2:ar  zu  mürbe. 


i8i3  WEIMAR  637 

Man  ignorieret, 
Woher  sie  kamen. 
Ich  nannte  zweimal 
Schon  ihren  Namen. 

OFFNE  TAFEL 

VIELE  Gäste  wünsch  ich  heut 
Mir  zu  meinem  Tische! 
Speisen  sind  genug  bereit, 
Vögel,  Wild  und  Fische. 
Eingeladen  sind  sie  ja, 
Habens  angenommen. 

Hänschen,  geh  und  sieh  dich  um! 
Sieh  mir,  ob  sie  kommen! 

Schöne  Kinder  hoff  ich  nun, 
Die  von  gar  nichts  wissen, 
Nicht,  daß  es  was  Hübsches  sei, 
Einen  Freund  zu  küssen. 
Eingeladen  sind  sie  all, 
Habens  angenommen. 

Hänschen,  geh  und  sieh  dich  um! 

Sieh  mir,  ob  sie  kommen! 

Frauen  denk  ich  auch  zu  sehn, 
Die  den  Ehegatten, 
Ward  er  immer  brummiger, 
Immer  lieber  hatten. 
Eingeladen  wurden  sie, 
Habens  angenommen. 

Hänschen,  geh  imd  sieh  dich  uml 

Sieh  mir,  ob  sie  kommen! 

Junge  Herrn  berief  ich  auch, 
Nicht  im  mindsten  eitel, 
Die  sogar  bescheiden  sind 
Mit  gefülltem  Beutel; 
Diese  bat  ich  sonderlich, 
Habens  angenommen. 

Hänschen,  geh  und  sieh  dich  um! 

Sieh  mir,  ob  sie  kommen! 


638  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Männer  lud  ich  mit  Respekt, 
Die  auf  ihre  Frauen 
Ganz  allein,  nicht  neben  aus 
Auf  die  Schönste  schauen. 
Sie  erwiderten  den  Gruß, 
Habens  angenommen. 

Hänschen,  geh  und  sieh  dich  um! 

Sieh  mir,  ob  sie  kommen! 

Dichter  lud  ich  auch  herbei, 

Unsre  Lust  zu  mehren, 

Die  weit  lieber  ein  fremdes  Lied 

Als  ihr  eignes  hören. 

Alle  diese  stimmten  ein, 

Habens  angenommen. 

Hänschen,  geh  und  sieh  dich  um! 

Sieh  mir,  ob  sie  kommen! 

Doch  ich  sehe  niemand  gehn, 
Sehe  niemand  rennen! 
Suppe  kocht  und  siedet  ein, 
Braten  will  verbrennen. 
Ach,  wir  habens,  furcht  ich  nun, 
Zu  genau  genommen! 

Hänschen, sag,  was  meinst  du  wohl? 

Es  wird  niemand  kommen. 

Hänschen,  lauf  und  säume  nicht, 

Ruf  mir  neue  Gäste! 

Jeder  komme,  wie  er  ist. 

Das  ist  wohl  das  beste! 

Schon  ists  in  der  Stadt  bekannt, 

Wohl  ists  aufgenommen. 

Hänschen,  mach  die  Türen  auf: 
Sieh  nur,  wie  sie  kommen! 


i8i3  WEIMAR  639 

BALLADE 

HEREIN,  o  du  Guter!  du  Alter,  herein! 
Hier  unten  im  Saale,  da  sind  wir  allein, 
Wir  wollen  die  Pforte  verschließen. 
Die  Mutter,  sie  betet;  der  Vater  im  Hain 
Ist  gangen,  die  Wölfe  zu  schießen. 
O  sing  uns  ein  Märchen,  o  sing  es  uns  oft, 
Daß  ich  und  der  Bruder  es  lerne; 
Wir  haben  schon  längst  einen  Sänger  gehofft — 
Die  Kinder,  sie  hören  es  gerne. 

Im  nächtlichen  Schrecken,  im  feindlichen  Graus 

Verläßt  er  das  hohe,  das  herrliche  Haus, 

Die  Schätze,  die  hat  er  vergraben. 

Der  Graf  nun  so  eilig  zum  Pförtchen  hinaus. 

Was  mag  er  im  Arme  denn  haben: 

Was  birget  er  unter  dem  Mantel  geschwind,^ 

Was  trägt  er  so  rasch  in  die  Ferne. ^ 

Ein  Töchterlein  ist  es,  da  schläft  nun  das  Kind — 

Die  Kinder,  sie  hören  es  gerne. 

Nun  hellt  sich  der  Morgen,  die  Welt  ist  so  weit. 

In  Tälern  und  Wäldern  die  Wohnung  bereit, 

In  Dörfern  erquickt  man  den  Sänger. 

So  schreitet  und  heischt  er  undenkliche  Zeit, 

Der  Bart  wächst  ihm  länger  und  länger; 

Doch  wächst  in  dem  Arme  das  liebliche  Kind, 

Wie  unter  dem  glücklichsten  Sterne, 

Geschützt  in  dem  Mantel  vor  Regen  und  Wind — 

Die  Kinder,  sie  hören  es  gerne. 

Und  immer  sind  weiter  die  Jahre  gerückt, 

Der  Mantel  entfärbt  sich,  der  Mantel  zerstückt, 

Er  könnte  sie  länger  nicht  fassen. 

Der  Vater,  er  schaut  sie,  wie  ist  er  beglückt! 

Er  kann  sich  für  Freude  nicht  lassen; 

So  schön  und  so  edel  erscheint  sie  zugleich. 

Entsprossen  aus  tüchtigem  Kerne, 

Wie  macht  sie  den  Vater,  den  teuren,  so  reich — 

Die  Kinder,  sie  hören  es  gerne. 


640  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Da  reitet  ein  fürstlicher  Ritter  heran, 

Sie  recket  die  Hand  aus,  der  Gabe  zu  nahn; 

Almosen  will  er  nicht  geben. 

Er  fasset  das  Händchen  so  kräftiglich  an: 

Die  will  ich,  so  ruft  er,  aufs  Leben! 

Erkennst  du,  erwidert  der  Alte,  den  Schatz, 

Erhebst  du  zur  Fürstin  sie  gerne; 

Sie  sei  dir  verlobet  auf  grünendem  Platz— 

Die  Kinder,  sie  hören  es  gerne. 

Sie  segnet  der  Priester  am  heiligen  Ort; 

Mit  Lust  imd  mit  Unlust  nun  ziehet  sie  fort, 

Sie  möchte  vom  Vater  nicht  scheiden. 

Der  Alte,  er  wandelt  nun  hier  und  bald  dort, 

Er  traget  in  Freuden  sein  Leiden. 

So  hab  ich  mir  Jahre  die  Tochter  gedacht, 

Die  Enkelein  wohl  in  der  Ferne; 

Sie  segn  ich  bei  Tage,  sie  segn  ich  bei  Nacht— 

Die  Kinder,  sie  hören  es  gerne. 

Er  segnet  die  Kinder;  da  polterts  am  Tor, 

Der  Vater,  da  ist  er!  Sie  springen  hervor, 

Sie  können  den  Alten  nicht  bergen — 

Was  lockst  du  die  Kinder!  du  Bettler!  du  Tor! 

Ergreift  ihn,  ihr  eisernen  Schergen! 

Zum  tiefsten  Veriies  den  Verwegenen  fort! 

Die  Mutter  vemimmts  in  der  Ferne, 

Sie  eilet,  sie  bittet  mit  schmeichelndem  Wort— 

Die  Kinder,  sie  hören  es  gerne. 

Die  Schergen,  sie  lassen  den  Würdigen  stehn, 

Und  Mutter  und  Kinder,  sie  bitten  so  schön; 

Der  fürstliche  Stolze  verbeißet 

Die  grimmige  Wut,  ihn  entrüstet  das  Flehn, 

Bis  endlich  sein  Schweigen  zerreißet: 

Du  niedrige  Brut!  du  vom  Bettlergeschlechtl 

Verfinsterung  fürstlicher  Sterne! 

Ihr  bringt  mir  Verderben!  Geschieht  mir  doch  recht- 

Die  Kinder,  sie  hörens  nicht  gerne. 


i8i3  WEIMAR  641 

Noch  stehet  der  Alte  mit  herrlichem  Blick, 

Die  eisernen  Schergen,  sie  treten  zurück, 

Es  wächst  nur  das  Toben  und  Wüten. 

Schon  lange  verflucht  ich  mein  ehliches  Glück, 

Das  sind  nun  die  Früchte  der  Blüten! 

Man  leugnete  stets,  und  man  leugnet  mit  Recht, 

Daß  je  sich  der  Adel  erlerne; 

Die  Bettlerin  zeugte  mir  Bettlergeschlecht — 

Die  Kinder,  sie  hörens  nicht  gerne. 

Und  wenn  euch  der  Gatte,  der  Vater  verstößt 

Die  heiligsten  Bande  verwegentlich  löst. 

So  kommt  zu  dem  Vater,  dem  Ahnen! 

Der  Bettler  vermag,  so  ergraut  und  entblößt, 

Euch  herrliche  Wege  zu  bahnen. 

Die  Burg,  die  ist  meine!  Du  hast  sie  geraubt, 

Mich  trieb  dein  Geschlecht  in  die  Ferne; 

Wohl  bin  ich  mit  köstlichen  Siegeln  beglaubt! — 

Die  Kinder,  sie  hören  es  gerne. 

Rechtmäßiger  König,  er  kehret  zurück. 

Den  Treuen  verleiht  er  entwendetes  Glück, 

Ich  löse  die  Siegel  der  Schätze. — 

So  rufet  der  Alte  mit  freundlichem  Blick: 

Euch  künd  ich  die  milden  Gesetze. 

Erhole  dich,  Sohn!  Es  entwickelt  sich  gut, 

Heut  einen  sich  sehge  Sterne; 

Die  Fürstin,  sie  zeugte  dir  fürstliches  Blut— 

Die  Kinder,  sie  hören  es  gerne. 

REGEN  UND  REGENBOGEN 

AUF  schweres  Gewitter  und  Regenguß 
Blick'  ein  Philister  zum  Beschluß 
Ins  weiterziehende  Grause  nach. 
Und  so  zu  seinesgleichen  sprach: 
Der  Donner  hat  uns  sehr  erschreckt, 
Der  Blitz  die  Scheunen  angesteckt, 
Und  das  war  unsrer  Sünden  Teil! 
Dagegen  hat,  zu  frischem  Heil, 

GOETHE  XIV  4«. 


642  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Der  Regen  fruchtbar  uns  erquickt 
Und  für  den  nächsten  Herbst  beglückt. 
Was  kommt  nun  aber  der  Regenbogen 
An  grauer  Wand  herangezogen? 
Der  mag  wohl  zu  entbehren  sein, 
Der  bunte  Trug!  der  leere  Schein! 

Frau  Iris  aber  dagegen  sprach: 

Erkühnst  du  dich  zu  meiner  Schmach? 

Doch  bin  ich  hier  ins  All  gestellt 

Als  Zeugnis  einer  bessern  Welt, 

Für  Augen,  die  vom  Erdenlauf 

Getrost  sich  wenden  zum  Himmel  auf 

Und  in  der  Dünste  trübem  Netz 

Erkennen  Gott  und  sein  Gesetz. 

Drum  wühle  du,  ein  andres  Schwein, 

Nur  immer  den  Rüssel  in  den  Boden  hinein 

Und  gönne  dem  verklärten  Blick 

An  meiner  Herrlichkeit  sein  Glück. 


ANGEBINDE  ZUR  RÜCKKEHR 

DIE  Freundin  war  hinausgegangen, 
Um  in  der  Welt  sich  umzutun; 
Nun  wird  sie  bald  nach  Haus  gelangen 
Und  auf  gewohnte  Weise  ruhn. 
Und  neigt  sie  dann  das  artge  Köpfchen, 
Umwunden  reich  von  Zopf  und  Zöpfcheu, 
Nach  einem  kissenreichen  Sitzchen, 
So  bietet  freundlich  ihr  das  Mützchen. 


EIGENTUM 

ICH  weiß,  daß  mir  nichts  angehört 
Als  der  Gedanke,  der  ungestört 
Aus  meiner  Seele  will  fließen. 
Und  jeder  günstige  Augenblick, 
Den  mich  ein  liebendes  Geschick 
Von  Grund  aus  läßt  genießen. 


i8i3   WEIMAR  643 

[Von  Goethe?] 

HÖCHSTES  hast  du  vollbracht,  mein  Volk,  Schmach- 
volles erduldet; 
Stets  dir  selber  nur  gleich  hast  du  das  Schönste  bewahrt. 
Wirst  du  dereinst  dich,  deiner  bewußt,  .... 

DIE  JAHRE 

DIE  Jahre  sind  allerliebste  Leut: 
Sie  brachten  gestern,  sie  bringen  heut, 
Und  so  verbringen  wir  Jüngern  eben 
Das  allerliebste  Schlaraflfen- Leben. 
Und  dann  fällts  den  Jahren  auf  einmal  ein, 
Nicht  mehr,  wie  sonst,  bequem  zu  sein; 
Wollen  nicht  mehr  schenken,  wollen  nicht  mehr  borgen, 
Sie  nehmen  heute,  sie  nehmen  morgen. 

DAS  ALTER 

DAS  Alter  ist  ein  höflich  Mann: 
Einmal  übers  andre  klopft  er  an; 
Aber  nun  sagt  niemand:  Herein! 
Und  vor  der  Türe  will  er  nicht  sein. 
Da  klinkt  er  auf,  tritt  ein  so  schnell, 
Und  nun  heißts,  er  sei  ein  grober  Gesell. 


NACHTRAG 


[In  das  Stammbuch  von  Johann  Christoph  Claras] 
[Zu  Seite  12] 

CES  lignes,  mon  ami,  que  je  vais  Vous  dcrire, 
Vous  marquent  mon  amour,  quand  Vous  irez  les  lire. 
Le  seul  de  mes  souhaits  c'est:  jusqu'ä  mon  trepas, 
Ami,  m'aimez  toujours,  et  ne  m'oubliez  pas. 

ce  18.  Avril  1764.  JWGoethe. 

[In  das  Stammbuch  von  Georg  Gröning] 
[Zu  Seite  68] 

W''AS  unterm  Monde  liegt,  ist  eitel! 
Sprach  Salorao  und  Phanias; 
Und  Goethe  spricht  heut  abend  eben  das. 

Leipzig,  am  Abend  vor  dem  28.  August,  dem  Tage  seiner 
Abreise,  1768. 


GUTE  NACHT  AN  ANNETTEN, 

DA  SIE  HEURATETE 

[Zu  Seite  82] 

WENN  man  zwanzig  Freier  zählet 
Keinen  liebt  und  alle  quälet, 
Alle  liebt  und  keinen  wählet, 
Das  ist  eine  stolze  Lust 
Für  so  eines  Mädchens  Brust. 
Wenn  so  zwanzig  bettlend  stehn, 
O  wie  lebt  sichs  da  so  schön! 
Ist  wohl  eine  Wollust  größer: 
Doch  im  Ehstand  sitzt  man  besser. 

Zwar  mit  Freuden  und  mit  Scherzen 

In  zwei  kopulierten  Herzen 

Ists  wie  mit  den  Hochzeitkerzen. 

Glänzend  leuchten  sie  im  Saal 

Und  verherrlichen  das  Mahl, 

Aber  so  nach  zehen  Uhr 

Bleiben  kleine  Stümpfchen  nur; 

Damit  leuchte  dir  zu  Bette! 

Gute  Nacht!  Schlaf  wohl,  Annette! 


648  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

SALOMONS,KÖNIGSVONISRAELUNDJUDA,GÜLD- 

NE  WORTE  VON  DER  ZEDER  BIS  ZUM  YSOP 

\Zu  Seite  1^6] 

I 

ES  stand  eine  herrliche  Zeder  auf  Libanon  in  ihrer  Kraft 
vor  dem  Antlitz  des  Himmeis.  Und  daß  sie  so  strack  da- 
stund, des  ergrimmten  die  Dornsträuche  umher  und  riefen: 
Wehe  dem  Stolzen,  er  überhebt  sich  seines  Wuchses!  Und 
wie  die  Winde  die  Macht  seiner  Äste  bewegten,  und  Bal- 
samgeruch das  Land  erfüllte,  wandten  sich  die  Dörner  und 
schrien:  Wehe  dem  Übermütigen,  sein  Stolz  braust  auf  wie 
Wellen  des  Meers;  verdirb  ihn,  Heiliger  vom  Himmel! 

2 
Eine  Zeder  wuchs  auf  zwischen  Tannen,  sie  teilten  mit  ihr 
Regen  und  Sonnenschein.  Und  sie  wuchs,  und  wuchs  über 
ihre  Häupter  und  schaute  weit  ins  Tal  umher.  Da  riefen  die 
Tannen:  Ist  das  der  Dank,  daß  du  dich  nun  überhebest,  dich, 
die  du  so  klein  wärest,  dich,  die  wir  genährt  haben!  Und  die 
Zeder  sprach:  Rechtet  mit  dem,  der  mich  wachsen  hieß. 

3 
Und  um  die  Zeder  stunden  Sträucher.  Da  nun  die  Männer 
kamen  vom  Meer  und  die  Axt  ihr  an  die  Wurzel  legten, 
da  erhub  sich  ein  Frohlocken:  Also  strafet  der  Herr  die 
Stolzen,  also  demütigt  er  die  Gewaltigen! 

4 
Und  sie  stürzte  und  zerschmetterte  die  Frohlocker,  die 
verzettelt  wurden  unter  dem  Reisig. 

5 
Und  sie  stürzte  und  rief:  Ich  habe  gestanden,  und  ich  werde 
stehen!  Und  die  Männer  richteten  sie  auf  zum  Mäste  im 
Schilfe  des  Königs,  und  die  Segel  wehten  von  ihm  her, 
und  brachte  die  Schätze  aus  Ophir  in  des  Königs  Kammer. 

6 
Eine  junge  Zeder  wuchs  schlank  auf  und  schnell  und  drohte 
die  andern  zu  überwachsen.  Da  beneideten  sie  alle.  Und 
ein  Held  kam  und  hieb  sie  nieder,  und  stutzte  ihre  Äste, 
sich  zur  Lanze  wider  die  Riesen.  Da  riefen  ihre  Brüder: 
Schade!  Schade! 


NACHTRAG  649 

7 

Die  Eiche  sprach:  Ich  gleiche  dir,  Zeder!  Tor!  sagte  die 
Zeder,  als  wollt  ich  sagen,  ich  gleiche  dir. 


Zwei  Birken  stritten:  wer  der  Zeder  am  nächsten  käme, 
Birken  seid  ihr!  sagte  die  Zeder. 

9 

Uns  ist  wohl,  sagte  ein  brüderlich  gleicher  Tannenwald 
zur  Zeder,  wir  sind  so  viel,  und  du  stehst  allein.  Ich  habe 
auch  Brüder,  sagte  die  Zeder,  wenngleich  nicht  auf  die- 
sem Berge. 

10 
Ein  Wald  ward  ausgehauen,  die  Vögel  vermißten  ihre  Woh- 
nungen, flatterten  umher  und  klagten:  Was  mag  der  Fürst 
für  Absichten  haben!  den  Wald!  den  schönen  Wald!  Unsre 
Nester!  Da  sprach  einer,  der  aus  der  Residenz  kam,  ein 
Papagei:  Absicht,  Brüder?  Er  weiß  nichts  drum. 


Ein  Mädchen  brach  Rosen  vom  Strauch  und  kränzte  ihr 
Haupt  mit.  Das  verdroß  die  Zeder  und  sprach:  Warum 
nimmt  sie  nicht  von  meinen  Zweigen?  Stolzer,  sagte  der 
Rosenstock,  laß  mir  die  meinen! 


Ein  Wandrer,  der  unter  der  Eiche  Mittagsruh  gehalten 
hatte,  erwachte,  streckte  sich,  stand  auf  und  wollte  weiter. 
Der  Baum  rief  ihm  zu:  Undankbarer!  Hab  ich  dir  nicht 
meinen  Schatten  ausgebreitet?  und  nun  nicht  einen  Blick! 
Du!  mir!  lächelte  der  Wandrer  zurückschauend. 


13 
Das  Gräslein,  da  der  Wind  drüber  spielte,  ergötzte  sich 
und  rief:  Bin  ich  doch  auch  da,  bin  ich  doch  auch  gebildet, 
klein,  aber  schön,  und  bin!— Gräslein  in  Gottes  Namen, 
sagte  die  Zeder. 


650  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Ein  Waldstrom  stürzte  die  Tannen  drunter  und  drüber  ins 
Tal  herab  und  Sträucher  und  SprößUng'  und  Gräser  und 
Eichen.  Ein  Prophete  rief  zuschauend  vom  Fels:  Alles  ist 
gleich  vor  dem  Herrn. 

Ha,  sagte  die  Zeder,  wer  von  meinen  Zweigen  brechen  will, 
muß  hoch  steigen!  Ich,  sagte  die  Rose,  habe  Dornen. 


ALS   AUF   EINEM   LANDGUT  BEI  KOPENHAGEN 
DREI  URNEN  GEFUNDEN  WURDEN 

[Von  Goethe?  Zu  Seite  16^] 
TN  Siegesfrieden  ruhe 
JlHeldengebein 

Dreier  Edlen,  freier  Vorzeit  Söhne. 
Fromme  fanden  dich,  gaben  dich  wieder, 
Mit  Ehrfurcht  segnend, 
Dem  kühlen  Hügel,  der  auch  ihrer  harrt. 

[In  das  Stammbuch  von  ?] 
[Zu  Seite  260] 

ALLE  gleichen  wir  uns,  denn  wir  sind  eines  Geschlechtes; 
„    Allen  gleichen  wir  nicht,  sagt  einem  jeden  das  Herz. 
Weimar,  den  i.Jan.  1785.  Goethe. 

EDELKNABE  UND  WAHRSAGERIN 
[Entwurf  zu  einer  Elegie;  zu  Seite  281] 

KENNT  ihr  die  Dirne  mit  lauerndem  Blick  und  raschen 
Gebärden? 
Die  Schalkin,  sie  heißt  Gelegenheit;  lernt  sie  nur  kennen! 
Sie  erscheinet  euch  oft,  immer  in  andrer  Gestalt. 
Gern  betrügt  sie  den  Unerfahrenen,  den  Blöden, 
Schlummernde  neckt  sie  stets,  Wachende  flieht  sie  eilends. 
Und  die  Unschuld  betört  sie,  der  kömmt  sie  am  leichtsten. 
Einst  erschien  sie  dem  Knaben,  ein  bräunliches  Mädchen, 

die  Arme, 
Nacken  und  Busen  und  Leib  nicht  allzu  sittig  verhüllt. 


NACHTRAG  651 

Zukünftges  deutend  zeigte  ihr  Finger  nach  oben, 

Bog  ihren  Hals  sie  nach  vorn; 

Ungeflochtnes  Haar  krauste  vom  Scheitel  sich  auf; 

Lockend  war  ihre  Miene,  doch  schaute  der  Bube  nicht  auf, 

Wie  sehr  sie  sich  mühte,  des  Harmlosen  Auge  zu  fangen, 

Er  hört'  sie  nur  halb, 

Dacht  an  sein  Lied.  Doch  stille!— Die  Dirne  ist  weg — 

Degen  und  Schärpe  verschwunden,  die  ihm  die  Liebste  gab. 

[Römische  Elegien] 
{Zu  Seite  294] 

MEHR  als  ich  ahndete  schön,  das  Glück,  es  ist  mir  ge- 
worden, 

Amor  führte  mich  klug  allen  Palästen  vorbei. 
Ihm  ist  es  lange  bekannt,  auch  hab  ich  es  selbst  wohl  erfahren. 

Was  ein  goldnes  Gemach  hinter  Tapeten  verbirgt. 
Nennet  blind  ihn  und  Knaben  und  ungezogen,  ich  kenne. 

Kluger  Amor,  dich  wohl,  nimmer  bestechlicher  Gott! 
Uns  verführten  sie  nicht,  die  majestätschen  Fassaden, 

Nicht  der  galante  Balkon,  weder  das  ernste  Kortil, 
Eilig  ging  es  vorbei,  und  niedre  zierliche  Pforte 

Nahm  den  Führer  zugleich,  nahm  den  Verlangenden  auf. 
Alles  verschafft  er  mir  da,  hilft  alles  und  alles  erhalten, 

Streuet  jeglichen  Tag  frischere  Rosen  mir  auf. 
Hab  ich  den  Himmel  nicht  hier? — Was  gibst  du,  schöne 

Borghese, 

Nipotina,  was  gibst  deinem  Geliebten  du  mehr? 
Tafel,  Gesellschaft  und  Kors'  und  Spiel  und  Oper  und  Bälle, 

Amorn  rauben  sie  nur  oft  die  gelegenste  Zeit. 
Ekel  bleibt  mir  Gezier  und  Putz  und  hebet  am  Ende 

Sich  ein  brokatener  Rock  nicht  wie  ein  wollener  auf? 
Oder  will  sie  bequem  den  Freund  im  Busen  verbergen. 

Wünscht  er  von  alle  dem  Schmuck  nicht  schon  behend 

sie  befreit? 
Müssen  nichtjeneJuwelenundSpitzen,PolsterundFischbein 

Alle  zusammen  herab,  eh  er  die  Liebliche  fühlt? 
Näher  haben  wir  das!  Schon  fällt  dein  wollenes  Kleidchen, 

So  wie  der  Freund  es  gelöst,  faltig  zum  Boden  hinab. 


652  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

Eilig  trägt  er  das  Kind,  in  leichter  linnener  Hülle, 

Wie  es  der  Amme  geziemt,  scherzend  aufs  Lager  hinan. 
Ohne  das  seidne  Gehäng  und  ohne  gestickte  Matratzen, 

Stehet  es,  zweien  bequem,  frei  in  dem  weiten  Gemach. 
Nehme  dann  Jupiter  mehr  von  seiner  Juno,  es  lasse 

Wohler  sich,  wenn  er  es  kann,  irgendein  Sterblicher  sein. 
Uns  ergötzen  die  Freuden  des  echten  nacketen  Amors 

Und  des  geschaukelten  Betts  lieblicher  knarrender  Ton. 


ZWEI  gefährliche  Schlangen,  vom  Chore  der  Dichter 
gescholten, 

Grausend  nennt  sie  die  Welt  Jahre  die  tausende  schon, 
Python,  dich,  und  dich,  Lernäischer  Drache!  Doch  seid  ihr 

Durch  die  rüstige  Hand  tätiger  Götter  gefällt. 
Ihr  zerstöret  nicht  mehr  mit  feurigem  Atem  und  Geifer 

Herde,  Wiesen  und  Wald,  goldene  Saaten  nicht  mehr. 
Doch  welch  ein  feindlicher  Gott  hat  uns  im  Zorne  die  neue 

Ungeheure  Geburt  giftigen  Schlammes  gesandt? 
Überall  schleicht  er  sich  ein, und  in  den  lieblichsten  Gärtchen 

Lauert  tückisch  der  Wurm,  packt  den  Genießenden  an. 
Sei  mir,hesperischer  Drache ,  gegrüßt , du  zeigtest  dich  mutig, 

Du  verteidigtest  kühn  goldener  Äpfel  Besitz! 
Aber  dieser  verteidiget  nichts — und  wo  er  sich  findet. 

Sind  die  Gärten,  die  Frucht  keiner  Verteidigung  wert. 
Heimlich  krümmet  er  sich  im  Busche,  besudelt  die  Quellen, 

Geifert,  wandelt  in  Gift  Amors  belebenden  Tau. 
Ol  wie  glücklich  warst  du,  Lukrez!  du  konntest  der  Liebe 

Ganz  entsagen  und  dich  jeglichem  Körper  vertraun. 
Selig  warst  du,  Properz!  dir  holte  der  Sklave  die  Dirnen 

Vom  Aventinus  herab,  aus  dem  Tarpeischen  Hain. 
Und  wenn  Cynthia  dich  aus  jenen  Umarmungen  schreckte. 

Untreu  fand  sie  dich  zwar,  aber  sie  fand  dich  gesund. 
Jetzt  wer  hütet  sich  nicht,  langweilige  Treue  zu  brechen! 

Wen  die  Liebe  nicht  hält,  hält  die  Besorglichkeit  auf. 
Und  auch  da,  wer  weiß!  gewagt  ist  jegliche  Freude, 

Nirgend  legt  man  das  Haupt  ruhig  dem  Weib  in  den  Schoß . 
Sicher  ist  nicht  das  Ehbett  mehr,  nicht  sicher  der  Ehbruch; 

Gatte,  Gattin  und  Freund,  eins  ist  im  andern  verletzt. 


NACHTRAG  653 

O!  der  goldenen  Zeit!  da  Jupiter  noch,  vom  Olympus, 

Sich  zu  Semele  bald,  bald  zu  Kalhsto  begab. 
Ihm  lag  selber  daran,  die  Schwelle  des  heiligen  Tempels 

Rein  zu  finden,  den  er  liebend  und  mächtig  betrat. 
O!  wie  hätte  Juno  getobt,  wenn  im  Streite  der  Liebe 

Gegen  sie  der  Gemahl  giftige  Waffen  gekehrt. 
Doch  wir  sind  nicht  so  ganz,  wir  alte  Heiden,  verlassen. 

Immer  schwebet  ein  Gott  über  der  Erde  noch  hin, 
Eilig  und  geschäftig,  ihr  kennt  ihn  alle,  verehrt  ihn! 

Ihn,  den  Boten  des  Zeus,  Hermes,  den  heilenden  Gott. 
Fielen  des  Vaters  Tempel   zu  Grund,    bezeichnen   die 

Säulen 

Paarweis  kaum  noch  den  Platz  alter  verehrender  Pracht, 
Wird  des  Sohnes  Tempel  doch  stehn,  und  ewige  Zeiten 

Wechselt  der  Bittende  stets  dort  mit  dem  Dankenden  ab. 
Eins  nur  fleh  ich  im  stillen,  an  euch,  ihr  Grazien,  wend  ich 

Dieses  heiße  Gebet  tief  aus  dem  Busen  herauf: 
Schützet  immer  mein  kleines,  mein  artiges  Gärtchen,  ent- 
fernet 

Jegliches  Übel  von  mir;  reichet  mir  Amor  die  Hand, 
O!  so  gebet  mir  stets,  sobald  ich  dem  Schelmen  vertraue. 

Ohne  Sorgen  und  Furcht,  ohne  Gefahr  den  Genuß. 


HIER  ist  mein  Garten  bestellt,  hier  wart  ich  die  Blumen 
der  Liebe, 
Wie  sie  die  Muse  gewählt,  weislich  in  Beete  verteilt. 
Früchte  bringenden  Zweig,    die  goldenen  Früchte  des 

Lebens, 
Glücklich  pflanzt  ich  sie  an,  warte  mit  Freuden  sie  mm. 
Stehe  du  hier  an  der  Seite,  Priap!  ich  habe  von  Dieben 
Nichts  zu  befürchten,  und  frei  pflück  und  genieße,  wer 

mag. 
Nur  bemerke  die  Heuchler,  entnervte,  verschämte  Ver- 
brecher; 
Nahet  sich  einer  und  blinzt  über  den  zierlichen  Raum, 
Ekelt  an  Früchten  der  reinen  Natur,  so  straf  ihn  von  hinten 
Mit  dem  Pfahle,  der  dir  rot  von  den  Hüften  entspringt. 


654  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

HINTEN  im  Winkel  des  Gartens,  da  stand  ich,  der  letzte 
der  Götter, 
Rohgebildet,  und  schlimm  hatte  die  Zeit  mich  verletzt. 
Kürbisranken  schmiegten  sich  auf  am  veralteten  Stamme 
Und  schon  krachte  das  Glied  unter  den  Lasten  der  Frucht. 
Dürres  Gereisig  neben  mir  an,  dem  Winter  gewidmet, 

Den  ich  hasse,  denn  er  schickt  mir  die  Raben  aufs  Haupt, 
Schändlich  mich  zu  besudeln;  der  Sommer  sendet  die 

Knechte, 
Die,  sich  entladende,  frech  zeigen  das  rohe  Gesäß. 
Unflat  oben  und  unten!  ich  mußte  fürchten,  ein  Unflat 

Selber  zu  werden,  ein  Schwamm,  faules  verlorenes  Holz. 
Nun,  durch  deine  Bemühung,  o!  redlicher  Künstler,  ge- 
winn ich 
Unter  Göttern  den  Platz,  der  mir  und  andern  gebührt. 
Wer  hat  Jupiters  Thron,  den  schlechterworbnen,  befestigt? 

Färb  und  Elfenbein,  Marmor  und  Erz  und  Gedicht. 
Gern  erblicken  mich  nun  verständige  Männer,  und  denken 
Mag  sich  jeder  so  gern,  wie  es  der  Künstler  gedacht. 
Nicht  das  Mädchen  entsetzt  sich  vor  mir  und  nicht  die 

Matrone, 
Häßlich  bin  ich  nicht  mehr,  bin  ungeheuer  nur  stark. 
Dafür  soll  dir  denn  auch  halbfußlang  die  prächtige  Rute 
Strotzen  vom  Mittel  herauf,  wenn  es  die  Liebste  gebeut, 
Soll  das  Glied  nicht  ermüden,  als  bis  ihr  die  Dutzend 

Figuren 
Durchgenossen,  wie  sie  künstlich  Philänis  erfand. 


[Venezianische  Epigramme] 
[Zu  Seite  J2Ö\ 

SAUBER  hast  du  dein  Volk  erlöst  durch  Wunder  und 
Leiden, 
Nazarener!  Wohin  soll  es,  dein  Häufchen,  wohin? 
Leben  sollen  sie  doch  und  Kinder  zeugen  doch  christlich, 
Leider  dem  früheren  Reiz  dienet  die  schädliche  Hand. 
Will  der  Jüngling  dem  Übel  entgehn,  sich  selbst  nicht 

verderben, 
Bringet  Lais  ihm  nur  brennende  Qualen  für  Lust. 


NACHTRAG  655 

Komm  noch  einmal  herab,  du  Gott  der  Schöpfung,  und  leide. 
Komm,  erlöse  dein  Volk  von  dem  gedoppelten  Weh! 

Tu  ein  Wunder  und  reinge  die  Quellen  der  Freud  und 

des  Lebens, 
Paulus  will  ich  dir  sein,  Stephanus,  wie  dus  gebeutst. 

HERAUS  mit  demTeile  des  Herrn!  heraus  mit  dem  Teile 
des  Gottes! 
Rief  ein  unglücklich  Geschöpfblind  für  hysterischer  Wut, 
Als,  die  heiligen  Reste  Gründonnerstag  abends  zu  zeigen. 
In  Sankt  Markus  ein  Schelm  über  der  Bühne  sich  wies. 
Armes  Mädchen,  was  soll  dir  ein  Teil  des  gekreuzigten 

Gottes? 
Rufe  den  heilsamem  Teil  jenes  von  Lampsacus  her. 

WUNDERN  kann  es  mich  nicht,  daß  unser  Herr 
Christus  mit  .  .  . 
Gernund  mit  Sündern  gelebt,gehts  mir  doch  eben  auch  so. 

WARUM  willst  du  den  Christen  des  Glaubens  selige 
Wonne 
Grausam  rauben?"  Nicht  ich,  niemand  vermag  es  zutun. 
Steht  doch  deutlich  geschrieben:  die  Heiden  toben  ver- 
geblich. 
Seht,  ich  erfülle  die  Schrift,  lest  und  erbaut  euch  an  mir. 

KREBSE  mit  nacktem  Hintern,  die  leere  Muscheln  sich 
suchten, 
Sie  bewohnen  und  sie  wähnen  ihr  eigenes  Haus, 
Sind  mir  seltne  Geschöpfe,  sie  sind  so  klug  als  bedürftig; 

Manches  kam  mir  in  Sinn,  als  ich  am  Ufer  sie  sah. 
Christ  und  Mensch  ist  eins!  sagt  Lavater!  Richtig!  Die 

Christen 
Decken  die  nackende  Scham  weislich  mit  Menschen - 

Vernunft. 

IN  ein  Puppenspiel  hatt  ich  mich  Knabe  verliebet, 
Lange  zog  es  mich  an,  bis  ich  es  endlich  zerschlug. 
So  griff  Lavater  jung  nach  der  gekreuzigten  Puppe. 
Herz'  er  betrogen  sie  noch,  wenn  ihm  der  Atem  entgeht! 


656  LYRISCHE  DICHTUNGEN 

/^^C^T'jEiV schreibt  er,  das  glaub  ich,  die  Menschen  müssen 
^-^  wohl  gut  sein, 

Die  das  alberne  Zeug  lesen  und  glauben  an  ihn. 
Weisen  denkt  er  zu  schreiben,  die  Weisen  mag  ich  nicht 

kennen: 

Ist  das  Weisheit,  bei  Gott,  bin  ich  mit  Freuden  ein  Tor. 

DICH  betrügt  der  Staatsmann,  der  Pfaffe,  der  Lehrer 
der  Sitten, 
Und  dies  Kleeblatt,  wie  tief  betest  du,  Pöbel,  es  an. 
Leider  läßt  sich  noch  kaum  was  Rechtes  denken  und  sagen. 
Das  nicht  grimmig  den  Staat,  Götter  und  Sitten  verletzt. 

WAS  auch  Helden  getan,  was  Kluge  gelehrt,  es  ver- 
achtets 
Wähnender  christlicher  Stolz  neben  den  Wundern  des 

Herrn. 
Und  doch  schmückt  er  sich  selbst  und  seinennackten  Erlöser 

Mit  dem  Besten  heraus,  was  uns  der  Heide  verließ. 
So  versammelt  der  Pfaffe  die  edlen  leuchtenden  Kerzen 
Um  das  gestempelte  Brot,  das  er  zum  Gott  sich  geweiht. 

VIELE  folgten  dir  gläubig  und  haben  des  irdischen 
Lebens 
Rechte  Wege  verfehlt,  wie  es  dir  selber  erging. 
Folgen  mag  ich  dir  nicht;  ich  möchte  dem  Ende  der  Tage 
Als  ein  vernünftiger  Mann,  als  ein  vergnügter  mich  nahn. 
Heute  gehorch  ich  dir  doch  und  wähle  den  Pfad  ins  Gebirge, 
Diesmal  schwärmst  du  wohl  nicht,  König  der  Juden,  leb 

wohl. 

OFFEN  steht  das  Grab!  Welch  herrlich  Wunder!   Der 
Herr  ist 
Auferstanden! — Wers  glaubt!   Schelmen,  ihr  trugt  ihn 

ja  weg. 


w 


AS  vom  Christentum  gilt,  gilt  von  den  Stoikern; 

freien 
Menschen  geziemet  es  nicht,  Christ  oder  Stoiker  sein. 


NACHTRAG  657 

JUDEN  und  Heiden  hinaus!  so  duldet  der  christliche 
Schwärmer. 
Christ  und  Heide  verflucht!  murmelt  ein  jüdischer  Bart. 
Mit  den  Christen  an  Spieß  und  mit  den  Juden  ins  Feuer! 
Singet  ein  türkisches  Kind  Christen  und  Juden  zum  Spott. 
Welcher  ist  der  Klügste?  Entscheide!  Aber  sind  diese 
Narren  in  deinem  Palast,  Gottheit,  so  geh  ich  vorbei. 

HÖLLENGESPENSTER  seid  ihr  und  keine  Christen, 
ihr  Schreier, 
Die  ihr  den  lieblichen  Schlaf  mir  von  den  Augen  ver- 
scheucht. 
Warum  macht  der  Pfaffe  so  viele  tausend  Gebärden 
Und  verscheuchet  euch  nicht  wieder  zur  Hölle  zurück? 

WENN  ein  verständiger  Koch  ein  artig  Gastmahl 
bereitet. 
Mischt  er  unter  die  Kost  vieles  und  vieles  zugleich. 
So  genießet  auch  ihr  dies  Büchlein,  und  kaum  unterscheidet 
Alles  ihr,  was  ihr  genießt.  Nun,  esbekomm  euch  nur  wohl. 

WAGST  du  deutsch  zu  schreiben  unziemliche  Sa- 
chen!"—Mein  Guter, 
Deutsch  dem  kleinen  Bezirk,leider,  ist  griechisch  der  Welt. 


A^ 


US  zu  eklem  Geschmack  verbrannte  Nauger  Martialen. 
Wirfst  du  das  Silber  hinweg,  weil  es  nicht  Gold  ist? 

Pedant! 


M 


EHR  hat  Horaz  nicht  gewollt;  er  fand  es,  weniger 

wollen 

Kann  man  mit  größerm  Verdienst,  und  man  erhält  auch 

nicht  das. 


WIE  der  Mensch  das  Pfuschen  so  liebt!  Fast  glaub 
ich  dem  Mythus, 
Der  mir  erzählet,  ich  sei  selbst  ein  verpfuschtes  Geschöpf. 

DAS  Gemeine  lockt  jeden:  siehst  du  in  Kürze  von  vielen 
Etwasgeschehen,sogleichdenke  nur:  dies  ist  gemein. 

GOETHE  XIV  42. 


658  NACHTRAG 

WÄREN  der  Welt  die  Augen  zu  öffnen! — Das  könnte 
geschehen! 
Besser,  du  suchest  dir  selbst  und  du  erfindest  dein  Teil. 

HELDEN,herrlichzu  sein, beschädigenTausende.  Tadelt 
Nicht  den  Dichter,  der  auch  wie  ein  Eroberer  denkt. 

WENN  du  schelten  willst,  so  wolle  kein  Heiliger 
scheinen, 
Denn, ein  rechtlicher  Mann  schweigt  und  verzeihet  uns 

gern. 

UNGLÜCKSELIGEFrösche,die  ihr  Venedig  bewohnet! 
Springt  ihr  zum  Wasser  heraus,  springt  ihr  auf  hartes 

Gestein. 

\  LLE  Weiber  sind  Ware,  mehr  oder  weniger  kostet 
-/v.    Sie  den  begierigen  Mann,  der  sich  zum  Handel  ent- 
schließt. 
Glücklich  ist  die  Beständige,  die  den  Beständigen  findet. 
Einmal  nur  sich  verkauft  und  auch  niu:  einmal  gekauft 

wird. 

HAT  dich  Hymen  geflohn?  Hast  du  ihn  gemieden? — Was 
sag  ich? 
Hymen!  köstlich  ist  er,  aber  zu  ernsthaft  für  mich. 
Aus  dem  Ehbett  darf  man  nicht  schwätzen,  und  Dichter 

sind  schwatzhaft. 
Freie  Liebe,  sie  läßt  frei  uns  die  Zunge,  den  Mut. 

JUNGFER!  ruf  ich  das  Mädchen,  ist,  Jungfer,  der  Herr 
nicht  zu  Hauser 
Aber  sie  hört  nicht,  der  Ruf  schlägt  ihr  am  Ohre  nicht  an. 

VIER  gefällige  Kinder  hast  du  zum  Gaukeln  erzogen, 
Alter  Gaukler,  und  schickst  nun  sie  zum  Sammlen 

umher. 
Meine  Güter  trag  ich  bei  mir!  so  sagte  der  Weise; 
Meine  Güter,  sagst  du,  hab  ich  mir  selber  gemacht. 


NACHTRAG  659 

li  MERIKANERIN  nennst  du  das  Töchterchen,   alter 
J\.  Phantaste; 

Glücklicher!  hast  du  sie  nicht  hier  in  Europa  gemacht? 

ICH  empfehle  mich  euch!  Seid  wacker,  sagst  du  und  reichest 
Mir  das  Tellerchen  dar,  lächelst  und  dankest  gar  schön. 
Ach,  empfohlen  bist  du  genug,  und  wärst  du  nur  älter. 
Wacker  wollten  wir  sein,  wach  bis  zum  Krähen  des  Hahns. 

ZÜRNET  nicht,  ihr  Frauen,  daß  wir  das  Mädchen  be- 
wundern: 
Ihr  genießet  des  Nachts,  was  sie  am  Abend  erregt. 

WAS  ich  am  meisten  besorge:  Bettina  wird  immer 
geschickter, 
Immer  beweglicher  wird  jegliches  Gliedchen  an  ihr; 
Endlich  bringt  sie  das  Züngelchen  noch  ins  zierliche  F , . ., 
Spielt  mit  dem  artigen  Selbst,  achtet  die  Männer  nicht 

viel, 

AUSZUSPANNEN  befiehlt  der  Vater  die  zierlichen 
Schenkel, 

Kindisch  der  liebliche  Teil den  Teppich  herab. 

Ach,  wer  einst  zuerst  dich  liebet,  er  findet  die  Blüte 
Schon  verschwunden,  sie  nahm  frühe  das  Handwerk  hin- 
weg. 

KAFFEE  wollen  wir  trinken,  mein  Fremder!— da  meint 
sie  branlieren; 
Hab  ich  doch,  Freunde,  mit  Recht  immer  den  Kafifee 

gehaßt. 

SEID  ihr  ein  Fremder,  mein  Herr?  bewohnt  ihr  Venedig? 
so  fragten 
Zwei  Lazerten,  die  mich  in  die  Spelunke  gelockt. 
Ratet! — Ihr  seid  einFranzos!  einNapolitaner!  Sie  schwatzten 
Hin  und  wieder  und  schnell  schlürften  sie  Kafi"ee  hinein. 


66o  NACHTRAG 

Tun  wir  etwas!  sagte  die  Schönste;  sie  setzte  die  Tasse 

Nieder,  ich  fühlte  sogleich  ihre  geschäftige  Hand. 
Sacht  ergriff  ich  und  hielte  sie  fest;  da  streckte  die  zweite 

Zierliche  Fingerchen  aus,  und  ich  verwehrt  es  auch  ihr. 
Ach!  es  ist  ein  Fremder!  so  riefen  sie  beide;  sie  scherzten, 

Baten  Geschenke  sich  aus,  die  ich,  doch  sparsam,  verlieh. 
Drauf  bezeichneten  sie  mir  die  entferntere  Wohnung 

Und  zu  dem  wärmeren  Spiel  spätere  Stunden  der  Nacht. 
Kannten  diese  Geschöpfe  sogleich  den  Fremden  am  Wei- 
gern, 

O  so  wißt  ihr,  warum  blaß  der  Venetier  schleicht. 


GIB  mir  statt  "Der  Seh  . . . ."  ein  ander  Wort,  oPriapus, 
Denn  ich  Deutscher,  ich  bin  übel  als  Dichter  geplagt. 
Griechisch  nennt  ich  dich  cpaXXog,  das  klänge  doch  präch- 
tig den  Ohren, 
Und  lateinisch  ist  auch  mentula  leidlich  ein  Wort. 
Mentula  käme  von  inens^  der  Seh  ....  ist  etwas  von  hinten, 
Und  nach  hinten  war  mir  niemals  ein  froher  Genuß. 


CAMPER  der  jüngere  trug  in  Rom  die  Lehre  des  Vaters 
Von  den  Tieren  uns  vor,  wie  die  Natur  sie  erschuf, 
Bäuche  nahm  und  gab,  dann  Hälse,  Pfoten  und  Schwänze. 

Alles  gebrochenes  Deutsch,  so  wie  geerbter  Begriff. 

Endlich  sagt'  er:  "Vierfüßiges  Tier,  wir  habens  vollendet. 

Und  es  bleibet  uns  nur.  Freunde,  das  Vöglen  zurück!" 

Armer  Camper,  du  hast  ihn  gebüßt,  den  Irrtum  der  Sprache, 

Denn  acht  Tage  darnach  lagst  du  und  schlucktest  Merkur. 

KNABEN  liebt  ich  wohl  auch,  doch  lieber  sind  mir  die 
Mädchen; 
Hab  ich  als  Mädchen  sie  satt,  dient  sie  als  Knabe  mir 

noch. 

KÖSTLICHE  Ringe  besitz  ich!  Gegrabne  fürtreffliche 
Steine 
Hoher  Gedanken  und  Stils  fasset  ein  lauteres  Gold. 


NACHTRAG  661 

Teurer  bezahlt  man  die  Ringe,  geschmückt  mit  feurigen 

Steinen, 
Blinken  hast  du  sie  oft  über  dem  Spieltisch  gesehn. 
Aber  ein  Ringelchen  kenn  ich,  das  hat  sich  anders  ge- 
waschen, 
Das  Hans  Carvel  einmal  traurig  im  Alter  besaß. 
Unklug  schob  er  den  kleinsten  der  zehen  Finger  ins  Ring- 
chen; 
Nur  der  größte  gehört,  würdig,  der  eilfte,  hinein. 

ALLE  sagen  mir,  Kind,  daß  du  mich  betriegest, 
J\.  O  betriege  mich  nur  immer  und  immer  so  fort. 

WELCHE  Hoffnung  ich  habe?  Nur  eine,  die  heut 
mich  beschäftigt: 
Morgen  mein  Liebchen  zu  sehn,  das  ich  acht  Tage 

nicht  sah. 

^LLES,  was  ihr  wollt!  ich  bin  euch  wie  immer  gewärtig, 
j\.  Freunde,  doch  leider:  allein  schlafen,  ich  halt  es 

nicht  aus. 

NACKEND  willst  du  nicht  neben  mir  liegen,  du  süße 
Geliebte, 
Schamhaft  hältst  du  dich  noch  mir  im  Gewände  verhüllt. 
Sag  mir:  begehr  ich  dein  Kleid?  begehr  ich  den  lieblichen 

Körper? 
Nun,  die  Scham  ist  ein  Kleid!  zwischen  Verliebten  hin- 
weg! 

LANGE  sucht  ich  ein  Weib  mir,  ich  suchte,  da  fand  ich 
— '  nur  Dirnen, 

Endlich  erhascht  ich  dich  mir,  Dirnchen,  da  fand  ich  ein 

Weib. 

EINE  Liebe  wünscht  ich  und  konnte  sie  niemals  gewinnen. 
Wünschen  läßt  sich  noch  wohl,  aber  verdienen  nicht 

gleich. 


662  NACHTRAG 

FÜRCHTE  nicht,  liebliches  Mädchen,  die  Schlange,  die 
dir  begegnet! 
Eva  kannte  sie  schon,  frage  den  Pfarrer,  mein  Kind. 

OB  erfüllt  sei,  was  Moses  und  was  die  Propheten  ge- 
sprochen, 
An  dem  heiligen  Christ,  Freunde,  das  weiß  ich  nicht 

recht. 
Aber  das  weiß  ich:  erfüllt  sind  Wünsche,  Sehnsucht  und 

Träume, 
Wenn  das  liebliche  Kind  süß  mir  am  Busen  entschläft. 

PTIFTEN  die  Christen  mit  Heil  viel  Unheil,  so  stiften  die 
iD  Büchlein 

Heidnisch  durch  Unheil  viel  Heil.  Aber  noch  eile  dich 

nicht, 
Laß  mich  erst  noch  hienieden!  es  kann  die  Barke  passieren; 
Nimmt  sie  mich  diesmal  schon  mit,  nun  so  leb  wohl  in 

die  Welt. 

IMMER  glaubt  ich  gut[mütig?],  von  anderen  etwas  zu 
lernen; 
Vierzig  Jahr  war  ich  alt,  da  mich  der  Irrtum  verließ. 
Töricht  war  ich  immer,  daß  andre  zu  lehren  ich  glaubte; 
Lehre  jeden  du  selbst,  Schicksal,  wie  er  es  bedarf. 

IMMER  hab  ich  dich,  heilige  Sonne,  mit  Freude  verehret. 
Wenn  du  aus  trübem  Gewölk  oder  nach  Nebel  mir  kamst; 
Niemals  aber  so  fröhlich  als  im  venetischen  Pfuhle  [.-], 
Wenn  du  nach  Regen  erscheinst,  freudig  die  Gondel  dir 

dampft. 

[Entwürfe  zur  Zweiten  Epistel] 
[Zu  Säte  338] 

UND  daß  deine  Söhne  nur  lesen,  sofern  es  zum  Sinne 
Ihrer  Bildung  gehört,  das  brauch  ich  dir  nicht  zu  sagen, 
Denn  das  richtest  du  selber  mit  klugcrVorsicht  und  Plan  ein . 
Gut,  so  wären  wir  denn  im  Hause  sicher,  wir  hätten 
Unsrer  Kinder  Seelen  gesegnet  [.'],  wofern  sie  das  Beispiel, 


NACHTRAG  663 

Das  lebendiger  lehrt  als  tote  Lettern,  verschonet. 
Aber  sage  mir  nun,  versetzest  du  zweiflend,  was  sollen 
Von  der  Menge  wir  denken,  die  viele  schädliche  Schriften 
Lesen  [?],  um  eigne  Bosheit  an  fremden  Zeilen  zu  wetzen. 

Auch  darüber  sag  ich  mein  Wort.  Ich  kenne  nur  eine 
Ganz  verderbliche  Schrift,  die  allen  Menschen  die  Köpfe 
Ganz  und  völlig  verrückt,  die  allen  mit  heftigen  Reden 
UndGeschichten  die  Seelen  zerstört,  so  daß  man  die  klügsten 
Nicht  zu  kennen  vermag;  denn  eben  weil  sie  in  Worten 
Mehr  oder  weniger  sagt,  und  weil  sie  am  Ende  die  Wahrheit 
Sagen  muß,  so  glaubt  ihr  ein  jeder  und  höret  das  Falsche 
Mit  dem  Wahren  so  gern,  und  höret  im  Falschen  und 

Wahren 
Seine  Meinung  allein.  Und  diese  Schrift,  sie  erscheinet 
Selbst  von  Kaiser  und  Reich  und  allen  Fürsten  begünstigt. 
Was  verbietest  du  noch,  wenn  diese  .  .  .,  wenn  diese 

Verkündung. 

Du  verstehst  mich,  ich  meine  die  Zeitung,  und  sage  dir 

redlich, 
Sie  ist  die  gefährlichste  Schrift,  indem  sie  die  Tollheit, 
DieVerruchtheit  der  Menschen,  den  Leichtsinn,  die  Dumm  - 

heit  und 
Was  nur  jeden  Plan  der  Vern[unft]  zerstört,  so  deutlich 

darlegt. 
Da  ist  keiner,  er  sei  so  toll  und  dumm,  er  findet  noch 
Schlimmere  Werke  da  oder  dort.  Verworren  verwirrt  er, 
Und  der  Kluge  .  .  .  allen,  die  wie  seine  Vorfahren. 
Könnt  ihr  also  die  Menschen  nicht  hindern  zu  hören,  was 

täglich 
Außer  ihnen  geschieht,  so  laßt  sie  auch  ohne  Bedenken, 
Ohngehindert  sie  hören,  was  außer  ihnen  gemeint  wird. 
War  ich  ein  Fürst,  ich  ließe  sogleich  aufrührische  Schriften 
Alle  kaufen  vmd  teilte  sie  aus,  damit  sich  ein  jeder 
Satt  dran  läse,  damit  nichts  Tolles  könne  gesagt  sein, 
Was  man  nicht  läse  bei  mir.  Allein  ich  würde  zugleich  auch 
Jeden  Zweck  der  Tätigkeit  ehren  von  dem,  an  der  die  Erde, 
Sie  zu  befruchten,  bewegt,  bis  zu  den  geistigen  Denkern 
Oder  Künstlern;  es  sollte  kein  Mann  der 


664  NACHTRAG 

Feiern,  es  lägen  [?]  gewiß  die  vielfach  bunten  Hefte, 
Die  wie  Schale  den  Kern  bedecken 


UND  was  deine  Söhne  betrifft,  so  weiß  ich,  mit  ihnen 
Bist  du  nimmer  verlegen.  Denn  früh  die  Blicke  der 

Knaben 
Auf  die  lebendige  Welt  zu  richten  verstehst  du  und  jedem 
Das  ihm  eigne  Organ  zu  künftiger  Tat  zu  entwickeln. 
Frisch  erhältst  du  die  Kraft  des  jungen  Gemüts,  behende 
Faßt  ein  jegliches  Wort  ihr  Gedächtnis,  die  trockenste 

Sprache 
Wird  im  heiteren  Sinn  und  ihrer  Schönheit  lebendig. 
Ehren  lehrest  du  sie  das  Vergangne  und  schätzen  vor  allem 
Jeglichen  Tages  Wert  und  in  dem  Neuen  die  Vorzeit. 
Nur  das  Gute  hat  Sinn  für  sie 

Denn  unschuldig  ist,  wenn  Menschen  lesen. 
Was  sich  vorzeiten  begeben,  was  dieser  und  jener  ge- 
meint hat, 
Oder  was  der  Charakter  beschloß,  zur  heftigen  Tat  gleich 
Zaubert.  Sie[h],  das  trifft  und  reget  alle  Gemüter 

Eine  gefährliche  Schrift, 

Und  kannst  du  diese  verbrennen, 

So  ist  allen  auf  einmal,  den  großen  und  kleinen,  geholfen, 

Denn  mit  größrer  Begierde  wird  keine  gelesen. 

Willst  aber  du  die  Meinung  beherrschen,  beherrsche  durch 

Tat  sie, 
Nicht  durch  Geheiß  und  Verbot;  der  wackere  Mann,  der 

beständge, 
Der  den  Seinen  und  sich  zu  nutzen  versteht  und  dem  Zufall 
Klug  sich  beugt  und  groß  dem  Zufall  wieder  gebietet. 
Der  den  Augenblick  kennt,  dem  unverschleiert  die  Zukunft 
In  der  stillen  ....  des  hohen  Denkens  erscheint, 

Der,  wo  alle  wanken,  noch  steht, 

Der  beherrscht  sein  Volk  und  gebietet  der  Menge  der 

Menschen. 
Einen  solchen  habt  ihr  gesehen  vor  kurzem  hinaufwärts 
Zu  den  Göttern  getragen,  woher  er  kam;  ihm  schauten 


NACHTRAG  665 

Alle  Völker  der  Welt  mit  traurigem  Blick  nach, 
Jeder  schien 

Wechselsweise  bewahren  Geschmack  und  Sitte  einander. 

Aber  Kaiser  und  Reich  privilegiert  sie,  der  Papst  wie  der 

Doge 
Muß  in  jedem  Kaffeehaus  sie  leiden,  in  jeglichem  Gasthof. 
Pater  Mamachius,  ach,  was  hast  du  nicht  alles  gestrichen! 
Kein  bedenkliches  Wort  der  lustigen  Oper  entging  dir. 
Kein  heroischer  Vers  des  übermütigen  Helden. 
Ach,  vermöchtest  du  doch  die  atheistischen  Reden 
Des  verruchten  Konvents  dem  römischen  Volke  verbergen. 

Und  die  Knaben,  versteht  sich  von  selber,  sie  führet  ein 

wackrer, 
Gradgesinnter  Mann  ins  Heiligtum  aller  Erkenntnis, 
Die  uns  die  griechische  Welt  und  die  lateinische  darbeut; 
Und  so  wären  die  Kinder  vor  allem  Unheil  gesichert. 

Keiner  jammert  mich  mehr  in  diesen  fließenden  Zeiten 
Als  Mamachius  du,  o  Dechant  aller  Zensoren, 
Du  des  heiligen  Palasts  Magister,  des  Ketzergerichtes 
Strenger  Assessor;  was  mußt  du,  des  hohen  Dom[inicus] 

Zögling, 
Alles  erleben!  Nachdem  du  die  vielen  Jahre  gelesen 
Und  gestrichen 

[In  das  Stammbuch  des  Grafen  Emerich  Bethlen] 
[Zu  Seite  406] 

B  AUE,  Jüngling, denGarten  beizeiten;  SO  erntestduFrüchte 
Schon,  wenn  viele  sich  erst  ungewiß  suchen  den  Platz. 
Jena,  den  13.  März  96.  Goethe. 

[Zu  Seite  482] 

NACHTGESPENSTER  ziehen  nicht  mehr,  die  gar- 
stigen, langen; 
Neumond  kündest  du  an!   Almanach,  redest  du  wahr? 


666  NACHTRAG 

Leuchtet  mir  doch  das  Gemach  von  holdem  mondlichem 

Schimmer, 
Wohl  das  Mondengesicht  senkte  vom  Himmel  sich  her. 

MIRABELLEN  pflanz  ich  in  meinem  Garten  in  Reihen, 
Daß  nun  die  Wunderschöne  wandelnd  in  Gesell- 
schaft sei. 

GOLDSTAUB  wirf  in  das  Wasser,  er  wird  zum  Grunde 
sich  senken; 
Bärlappsamen,  er  deckt  leicht  wie  ein  Häutchen  das  Naß. 


w 


[Zu  Seite  S38] 
AS  uns  gefällt  und  scheinet  fein, 
Muß  erst  mit  Müh  erworben  sein. 


w 


AS  der  Mensch  als  Gott  verehrt, 

Ist  sein  eigenstes  Innere  herausgekehrt. 


T 


[An  Pauline  Gotter,  spätere  v.  Schelling] 
[Zu  Seite  ^ßi] 
RAUN!  ein  schönes  Geheimnis  hast  du  durch  dein 

Wesen  gelöset: 
Wie  mit  weiblichem  Sinn  tieferes  Wissen  sich  eint. 

[Zu  Seite  603] 

IN  Jena  weiß  man  viele  Sachen, 
Nur  nicht  aus  Essig  Wein  zu  machen. 

UND  was  bleibt  denn  an  dem  Leben, 
Wenn  es  alles  ging  zu  Funken, 
Wenn  die  Ehre  mit  dem  Streben 
Alles  ist  im  Quark  versunken. 

Und  doch  kann  dich  nichts  vernichten, 
Wenn,  Vergänglichem  zum  Trotze, 
Willst  dein  Sehnen  ewig  richten 
Erst  zur  Flasche,  dann  zur  .  .  . 


NACHTRAG  667 

[Zu  Seite  604] 

ES  hat  ein  hübsches  Maidel 
Nur  allzuviel  zu  tun, 
Der  Bursche  trinkt  manch  Seidel 
Und  kann  hernach  nicht  ruhn. 
Und  wenn  sie  dann  sich  trafen, 
Wer  kann  dann  was  dafür? 
Er  hat  den  Rausch  verschlafen, 
Der  Rausch,  er  schläft  mit  ihr. 

ÜBER  **** 
JUNIUS  AN  DIE  NACHKOMMEN 

PROLOGUS 

SOVIEL  wir  von  ihm  zu  sagen  wissen, 
So  hat  er  zuerst  in  die  Windeln  geschissen; 
Als  Kind  hat  er,  zum  Trotz  uns  allen, 
Gar  manche  Löcher  in  Kopf  gefallen; 
Als  Jüngling  hat  er  sich  branliert. 
Und  als  Student  auch  renommiert; 
Dabei  hat  er  bei  guten  Sitten 
Auch  schrecklich  an  der  Krätze  gelitten. 
Nachdem  er  von  solchen  Übeln  frei. 
Legt  er  sich  ein  hübsch  Mädchen  bei. 
Die  macht  ihm  gelegentlich  bekannt 
Das  heilige  Holz  aus  fremdem  Land. 
Dadurch  ward  er  nun  präpariert, 
Daß  Staaten  würden  durch  ihn  regiert. 
Wie  schlecht  er  getan,  wie  schlecht's  ihm  gegangen, 
Wird  reihenweise  nun  angefangen. 


668  NACHTRAG 

HEIDENRÖSLEIN 

SJ/olkslied-  Umdichtung] 

SAH  ein  Knab  ein  Röslein  stehn, 
Röslein  auf  der  Heiden, 
War  so  jung  und  morgenschön, 
Lief  er  schnell,  es  nah  zu  sehn, 
Sahs  mit  vielen  Freuden. 
Röslein,  Röslein,  Röslein  rot, 
Röslein  auf  der  Heiden. 

Knabe  sprach:  Ich  breche  dich, 
Röslein  auf  der  Heiden! 
Röslein  sprach:  Ich  steche  dich, 
Daß  du  ewig  denkst  an  mich. 
Und  ich  wiils  nicht  leiden. 
Röslein,  Röslein,  Röslein  rot, 
Röslein  auf  der  Heiden. 

Und  der  wilde  Knabe  brach 
's  Röslein  auf  der  Heiden; 
Röslein  wehrte  sich  und  stach. 
Half  ihm  doch  kein  Weh  und  Ach, 
Mußt  es  eben  leiden. 
Röslein,  Röslein,  Röslein  rot, 
Röslein  auf  der  Heiden. 

[Aus  dem  Singspiel  "Lila"] 

FEIGER  Gedanken 
Bängliches  Schwanken, 
Weibisches  Zagen, 
Ängstliches  Klagen 
Wendet  kein  Elend, 
Macht  dich  nicht  frei. 

Allen  Gewalten 

Zum  Trutz  sich  erhalten. 

Nimmer  sich  beugen. 

Kräftig  sich  zeigen, 

Rufet  die  Arme 

Der  Götter  herbei. 


NACHTRAG  669 

SCHWEIZERLIED 

[  Volkslied-  Umdichtung\ 

UFM  Bergli 
Bin  i  gesässe, 
Ha  de  Vögle 
Zugeschaut; 
Hänt  gesunge, 
Hänt  gesprunge, 
Hänt  's  Nestli 
Gebaut. 

In  ä  Garte 
Bin  i  gestände, 
Ha  de  Imbli 
Zugeschaut; 
Hänt  gebrummet, 
Hänt  gesummet, 
Hänt  Zelli 
Gebaut. 

Uf  d'  Wiese 

Bin  i  gange, 

Lugt  i  Summer - 

Vögle  a; 

Hänt  gesoge, 

Hänt  gefloge, 

Gar  z'  schön  hänt  s' 

Getan. 

Und  da  kummt  nu 
Der  Hansel, 
Und  da  zeig  i 
Em  froh, 
Wie  sies  mache, 
Und  mer  lache 
Und  mache  's 
Au  so. 


670  NACHTRAG 

DER  MÜLLERIN  VERRAT 

[Nachdichtung  einer  französischen  Romanze] 

WOHER  der  Freund  so  früh  und  schnelle, 
Da  kaum  der  Tag  im  Osten  graut? 
Hat  er  sich  in  der  Waldkapelle, 
So  kalt  und  frisch  es  ist,  erbaut? 
Es  starret  ihm  der  Bach  entgegen; 
Mag  er  mit  Willen  barfuß  gehn? 
Was  flucht  er  seinen  Morgensegen 
Durch  die  beschneiten  wilden  Höhn? 

Ach,  wohl!  Er  kommt  vom  warmen  Bette, 
Wo  er  sich  andern  Spaß  versprach; 
Und  wenn  er  nicht  den  Mantel  hätte, 
Wie  schrecklich  wäre  seine  Schmach! 
Es  hat  ihn  jener  Schalk  betrogen 
Und  ihm  den  Bündel  abgepackt; 
Der  arme  Freund  ist  ausgezogen 
Und  fast,  wie  Adam,  bloß  und  nackt. 

Warum  auch  schlich  er  diese  Wege 
Nach  einem  solchen  Äpfelpaar, 
Das  freilich  schön  im  Mühlgehege, 
So  wie  im  Paradiese,  war. 
Er  wird  den  Scherz  nicht  leicht  erneuen; 
Er  drückte  schnell  sich  aus  dem  Haus 
Und  bricht  auf  einmal  nun,  im  Freien, 
In  bittre  laute  Klagen  aus: 

"Ich  las  in  ihren  Feuerblicken 
Nicht  eine  Silbe  von  Verrat; 
Sie  schien  mit  mir  sich  zu  entzücken 
Und  sann  auf  solche  schwarze  Tat! 
Könnt  ich  in  ihren  Armen  träumen, 
Wie  meuchlerisch  der  Busen  schlug? 
Sie  hieß  den  holden  Amor  säumen, 
Und  günstig  war  es  uns  genug. 


NACHTRAG  671 

"Sich  meiner  Liebe  zu  erfreuen! 
Der  Nacht,  die  nie  ein  Ende  nahm! 
Und  erst  die  Mutter  anzuschreien, 
Nun  eben  als  der  Morgen  kam! 
Da  drang  ein  Dutzend  Anverwandten 
Herein,  ein  wahrer  Menschenstrom; 
Da  kamen  Vettern,  guckten  Tanten, 
Es  kam  ein  Bruder  und  ein  Ohm. 

"Das  war  ein  Toben,  war  ein  Wüten! 
Ein  jeder  schien  ein  andres  Tier. 
Sie  forderten  des  Mädchens  Blüten 
Mit  schrecklichem  Geschrei  von  mir. — 
Was  dringt  ihr  alle  wie  von  Sinnen 
Auf  den  unschuldgen  Jüngling  ein? 
Denn  solche  Schätze  zu  gewinnen, 
Da  muß  man  viel  behender  sein. 

"Weiß  Amor  seinem  schönen  Spiele 
Doch  immer  zeitig  nachzugehn. 
Er  läßt  fürwahr  nicht  in  der  Mühle 
Die  Blumen  sechzehn  Jahre  stehn. — 
Sie  raubten  nun  das  Kleiderbündel, 
Und  wollten  auch  den  Mantel  noch. 
Wie  nur  so  viel  verflucht  Gesindel 
Im  engen  Hause  sich  verkroch! 

".Nun  sprang  ich  auf  und  tobt  und  fluchte, 
Gewiß,  durch  alle  durchzugehn. 
Ich  sah  noch  einmal  die  Verruchte, 
Und  ach!  sie  war  noch  immer  schön. 
Sie  alle  wichen  meinem  Grimme; 
Es  flog  noch  manches  wilde  Wort; 
Da  macht  ich  mich,  mit  Donnerstimme, 
Noch  endlich  aus  der  Höhle  fort. 

"Man  soll  euch  Mädchen  auf  dem  Lande, 
Wie  Mädchen  aus  den  Städten,  fliehn. 
So  lasset  doch  den  Fraun  von  Stande 
Die  Lust,  die  Diener  auszuziehn! 


672  NACHTRAG 

Doch  seid  ihr  auch  von  den  Geübten 
Und  kennt  ihr  keine  zarte  Pflicht, 
So  ändert  immer  die  Geliebten, 
Doch  sie  verraten  müßt  ihr  nicht." 

So  singt  er  in  der  Winterstunde, 
Wo  nicht  ein  armes  Hälmchen  grünt. 
Ich  lache  seiner  tiefen  Wunde; 
Denn  wirklich  ist  sie  wohlverdient. 
So  geh  es  jedem,  der  am  Tage 
Sein  edles  Liebchen  frech  betriegt 
Und  na-chts,  mit  allzu  kühner  Wage, 
Zu  Amors  falscher  Mühle  kriecht. 

EPILOG  ZU  SCHILLERS  GLOCKE 

[Aufgeführt  am  lO.  8.  1805,  erneut  am  10. 5.  l8lS\ 

Freude  dieser  Stadt  bedeute, 
Friede  sei  ihr  erst  Geläute! 

UND  so  geschahs!  Dem  friedenreichen  Klange 
Bewegte  sich  das  Land,  und  segenbar 
Ein  frisches  Glück  erschien:  im  Hochgesange 
Begrüßten  wir  das  junge  Fürstenpaar; 
Im  Vollgewühl,  in  lebensregem  Drange 
Vermischte  sich  die  tätge  Völkerschar, 
Und  festlich  ward  an  die  geschmückten  Stufen 
Die  Huldigung  der  Künste  vorgerufen. 

Da  hör  ich  schreckhaft  mitternächtges  Läuten, 
Das  dumpf  und  schwer  die  Trauertöne  schwellt. 
Ists  möglich?  Soll  es  unsern  Freund  bedeuten, 
An  den  sich  jeder  Wunsch  geklammert  hält? 
Den  Lebenswürdgen  soll  der  Tod  erbeuten? 
Ach!  wie  verwirrt  solch  ein  Verlust  die  Welt! 
Ach!  was  zerstört  ein  solcher  Riß  den  Seinen! 
Nun  weint  die  Welt,  und  sollten  wir  nicht  weinen? 

Denn  er  war  unser!  Wie  bequem  gesellig 
Den  hohen  Mann  der  gute  Tag  gezeigt, 
Wie  bald  sein  Ernst,  anschließend,  wohlgefällig, 
Zur  Wechselrede  heiter  sich  geneigt, 


NACHTRAG  673 

Bald  raschgewandt,  geistreich  und  sicherstellig 
Der  Lebensplane  tiefen  Sinn  erzeugt 
Und  fruchtbar  sich  in  Rat  und  Tat  ergossen: 
Das  haben  wir  erfahren  und  genossen. 

Denn  er  war  unser!  Mag  das  stolze  Wort 
Den  lauten  Schmerz  gewaltig  übertönen! 
Er  mochte  sich  bei  uns,  im  sichern  Port, 
Nach  wildem  Sturm  zum  Dauernden  gewöhnen. 
Indessen  schritt  sein  Geist  gewaltig  fort 
Ins  Ewige  des  Wahren,  Guten,  Schönen, 
Und  hinter  ihm,  in  wesenlosem  Scheine, 
Lag,  was  uns  alle  bändigt,  das  Gemeine. 

Nun  schmückt'  er  sich  die  schöne  Gartenzinne, 
Von  wannen  er  der  Sterne  Wort  vernahm, 
Das  dem  gleich  ewgen,  gleich  lebendgen  Sinne 
Geheimnisvoll  und  klar  entgegenkam. 
Dort,  sich  und  uns  zu  köstlichem  Gewinne, 
Verwechselt'  er  die  Zeiten  wundersam, 
Begegnet'  so,  im  Würdigsten  beschäftigt. 
Der  Dämmerung,  der  Nacht,  die  uns  entkräftigt. 

Ihm  schwollen  der  Geschichte  Flut-  auf  Fluten, 
Verspülend,  was  getadelt,  was  gelobt. 
Der  Erdbeherrscher  wilde  Heeresgluten, 
Die  in  der  Welt  sich  grimmig  ausgetobt. 
Im  niedrig  Schreckhchsten,  im  höchsten  Guten 
Nach  ihrem  Wesen  deutlich  durchgeprobt. — 
Nun  sank  der  Mond,  und  zu  erneuter  Wonne 
Vom  klaren  Berg  herüber  stieg  die  Sonne. 

Nun  glühte  seine  Wange  rot  und  röter 
Von  jener  Jugend,  die  uns  nie  entfliegt. 
Von  jenem  Mut,  der,  früher  oder  später. 
Den  Widerstand  der  stumpfen  Welt  besiegt. 
Von  jenem  Glauben,  der  sich,  stets  erhöhter, 
Bald  kühn  hervordrängt,  bald  geduldig  schmiegt, 
Damit  das  Gute  wirke,  wachse,  fromme. 
Damit  der  Tag  dem  Edlen  endlich  komme. 


674  NACHTRAG 

Doch  hat  er,  so  geübt,  so  vollgehaltig, 
Dies  bretterne  Gerüste  nicht  verschmäht; 
Hier  schildert  er  das  Schicksal,  das  gewaltig 
Von  Tag  zu  Nacht  die  Erdenachse  dreht, 
Und  manches  tiefe  Werk  hat,  reichgestaltig, 
Den  Wert  der  Kunst,  des  Künstlers  Wert  erhöht. 
Er  wendete  die  Blüte  höchsten  Strebens, 
Das  Leben  selbst,  an  dieses  Bild  des  Lebens. 

Ihr  kanntet  ihn,  wie  er  mit  Riesenschritte 
Den  Kreis  des  Wollens,  des  Vollbringens  maß. 
Durch  Zeit  und  Land,  der  Völker  Sinn  und  Sitte, 
Das  dunkle  Buch  mit  heiterm  Blicke  las; 
Doch  wie  er  atemlos  in  unsrer  Mitte 
In  Leiden  bangte,  kümmerlich  genas, 
Das  haben  wir  in  traurig  schönen  Jahren, 
Denn  er  war  unser,  leidend  miterfahren. 

Ihn,  wenn  er  vom  zerrüttenden  Ge wühle 
Des  bittern  Schmerzes  wieder  aufgeblickt, 
Ihn  haben  wir  dem  lästigen  Gefühle 
Der  Gegenwart,  der  stockenden,  entrückt, 
Mit  guter  Kunst  und  ausgesuchtem  Spiele 
Den  neubelebten  edlen  Sinn  erquickt 
Und  noch  am  Abend  vor  den  letzten  Sonnen 
Ein  holdes  Lächeln  glücklich  abgewonnen. 

Er  hatte  früh  das  strenge  Wort  gelesen. 
Dem  Leiden  war  er,  war  dem  Tod  vertraut. 
So  schied  er  nun,  wie  er  so  oft  genesen; 
Nun  schreckt  uns  das,  wofür  uns  längst  gegraut. 
Doch  schon  erblicket  sein  verklärtes  Wesen 
Sich  hier  verklärt,  wenn  es  herniederschaut. 
Was  Mitwelt  sonst  an  ihm  beklagt,  getadelt. 
Es  hats  der  Tod,  es  hats  die  Zeit  geadelt. 

Auch  manche  Geister,  die  mit  ihm  gerungen, 
Sein  groß  Verdienst  unwillig  anerkannt, 
Sie  fühlen  sich  von  seiner  Kraft  durchdrungen, 
In  seinem  Kreise  willig  festgebaimt: 


NACHTRAG  675 

Zum  Höchsten  hat  er  sich  emporgeschwungen, 
Mit  allem,  was  wir  schätzen,  eng  verwandt. 
So  feiert  Ihn!  Denn  was  dem  Mann  das  Leben 
Nur  halb  erteilt,  soll  ganz  die  Nachwelt  geben. 

So  bleibt  er  uns,  der  vor  so  manchen  Jahren — 

Schon  zehne  sinds! — von  uns  sich  weggekehrt! 

Wir  haben  alle  segenreich  erfahren. 

Die  Welt  verdank  ihm,  was  er  sie  gelehrt; 

Schon  längst  verbreitet  sichs  in  ganze  Scharen, 

Das  Eigenste,  was  ihm  allein  gehört. 

Er  glänzt  uns  vor,  wie  ein  Komet  entschwindend, 

Unendlich  Licht  mit  seinem  Licht  verbindend. 


HERAUSGEBER 
DIESES   BANDES  IST 
HANS    GERHARD    GRÄ 

DRUCK    DES 
27.    BIS    29.    TA  U  S  E  N  D  S 

VON 
EREITKOPF  &  HÄRTEL 

IN    LEIPZIG 


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